Das schlafende Heer
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Das schlafende Heer

  1. 450 Seiten
  2. German
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Das schlafende Heer

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Über dieses Buch

Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts. Preußen besitzt an seiner damaligen Ostgrenze große vor allem von Polen besiedelte Gebiete, die nun "germanisiert" werden sollen. Bauer Peter BrĂ€uer wandert, von den staatlichen Versprechen angelockt, vom Rheinland in jene Grenzgau aus. WĂ€hrend seine Frau und seine Tochter sich leicht in der neuen Heimat einleben und Sohn Valentin danach trachtet, sich durch die Heirat mit einer schönen Polin in der neuen Heimat zu verwurzeln, bleiben Peter BrĂ€uer Land und Leute fremd. Und die Hochzeit des Sohnes bietet neuen ZĂŒndstoff... Viebigs sozialkritischer und alles andere als deutschnationaler Roman, der den polnischen Landarbeitern und ihrem Konflikt mit dem Deutschen Reich viel Sympathie entgegenbringt, erntete von den deutschen Zeitgenossen heftige Kritik. Heute gilt es ein (fast) vergessenes Meisterwerk wiederzuentdecken.-

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Information

Jahr
2017
ISBN
9788711466797

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ein paar Tage nach der Wahlversammlung im deutschen Krug hatte sich der junge Wirt aufgemacht zu einem Gang, aber er sagte nicht, wohin er gehen wollte. Der Michalina, die sich alle Augenblicke eine Ausrede machte, von den BrĂ€uers zu ihm hinĂŒberzulaufen, ĂŒbergab er den SchlĂŒssel. Sie sollte auf die Wirtschaft aufpassen, lange wĂŒrde er ja auch nicht ausbleiben.
Aber er blieb doch lĂ€nger aus. Vergebens schaute Michalina alle Stunden nach ihm aus, er kam noch immer nicht. Wohin war er gegangen? Ach, gewiss nach dem Tupadlo, wo jetzt in der smaragdgrĂŒnen Wiese die Rosen des Sumpfes blĂŒhten, schneeweisse reine Blumenkelche mit goldnen StaubgefĂ€ssen. Aber deren Stengel, die tief unten im Grunde festwurzelten, waren wie Schlangen, lang und dehnbar, und rissen nicht ab, sondern zogen herunter.
Dass ihm nur kein Leides geschah! Am liebsten wĂ€re die Magd ihm nachgelaufen, aber das ging doch nicht an, sie musste ja auf sein Haus aufpassen. So hockte sie sich auf seine Schwelle nieder, schlang die Arme um die Knie, wiegte sich hin und her und sang sich eins. Eintönig traurig klang es, obgleich es ein Tanzliedchen war, monoton war es wie die Felder, in die ihr Blick starrte. —
Michalina hatte recht vermutet, Valentin war nach dem Tupadlo gegangen, fĂŒhrte doch daran vorbei der Weg ins Forsthaus. Er musste Stasia sehen, sie sprechen. All die NĂ€chte, seit sie fort war, hatte er keinen Schlaf gefunden; rot waren seine Augen, ganz ĂŒberwacht. Mit offenen Lidern hatte er gelegen und ins Dunkel gestiert und gedacht und gedacht, so viel, so eindringlich nachgedacht wie noch nie in seinem Leben.
War sie denn wirklich so schuldig? Ja, ja! Er musste die FĂ€uste ballen und mit den FĂŒssen stossen. Aber wenn er’s dann so recht bedachte, wusste er eigentlich nicht zu benennen, was sie ihm angetan hatte. Dass sie mit Pan Szulc gut Freund war — zu gut Freund fĂŒr seinen Geschmack —, das war sicher; aber wenn es ihm nun auch nicht behagte, war es darum schon ein Unrecht? ‚Du‘ hatte sie zu dem gesagt — sagen die Polen nicht immer ‚du‘? — und ‚mein Lieber‘ hatte sie zu dem gesagt — Jesus, sie kannte ihn ja schon so lange, als sie noch ein blutjunges Dingelchen mit kurzem Rock war, schon! Abscheulich war’s, ganz unertrĂ€glich, dass sie immer miteinander tuschelten und lachten — aber eine Untreue war das doch nicht. Nein, er hatte sich ĂŒbereilt! Wenigstens anhören hĂ€tte er sie mĂŒssen, sie nicht von sich stossen dĂŒrfen, als sie so lieb sich anschmiegen wollte. Die arme kleine Frau, wie weh hatte er ihr wohl getan mit seinen groben FĂ€usten! Ein Bedauern erhob sich in Valentin. Aber dann dachte er an Vater und Mutter: der Vater war auch oft grob, aber die Mutter nahm’s weiter nicht ĂŒbel — wie war das doch so anders bei denen!
Zwischen ihm und Stasia war immer ein Missverstehen. Und sie hatten sich doch auch so lieb, wie sich die Eltern hatten — o nein, noch viel tausendmal lieber, denn sie waren ja noch so jung! Noch kein Jahr, noch kein einziges Jahr miteinander verheiratet. Er fĂŒhlte noch dasselbe Begehren in sich, das in ihm gebrannt, als er sie zum Altar gefĂŒhrt hatte.
„Stasia, Stasia!“ Er stöhnte auf in der Nacht und schlug die FĂ€uste gegen seine Stirn, auf der Schweisstropfen standen. Was hatte er angerichtet?! Nun war sie böse mit ihm — auf immer —?! Sie hatte der Michalina gesagt, man solle ihr anderntags ihre Kleider und Sachen schicken; er hatte die zurĂŒckbehalten, denn er hatte gehofft, dann wĂŒrde sie danach kommen, oder ihr Vater wenigstens wĂŒrde kommen, oder ein Bote, oder ein Brief. Aber niemand war erschienen. Nein, sie wollte wirklich nichts mehr von ihm wissen, es war nicht nur eine Rederei. Nun sass sie drĂŒben bei ihren Eltern, und er sass hier. Und zwischen ihnen lag das Tupadlo.
Ob sie sich wohl um ihn grĂ€mte, wie er um sie? Das hĂ€tte er gern gewusst. Aber hatte er denn je gewusst, woran er mit ihr war? Oft hatte er ihr sehnsĂŒchtig in die Augen geschaut, aber sie hatte weggeguckt. Wie ging’s nur zu, Vater und Mutter verstanden sich doch mit einem Blick, die Stasia musste man erst immer fragen und fragen, und dann hatte sie doch noch oft den Kopf geschĂŒttelt: „Ich verstehe nicht.“
Wer wollte ihr einen Vorwurf daraus machen? Sie verstand eben wirklich nicht deutsch, wohl die Sprache — oh, die Sprache ganz gut! —, aber das andre, all das andre, was sich nicht sagen lĂ€sst, das nicht!
Sich im Bett aufsetzend und den Kopf zwischen beide HĂ€nde nehmend, hatte der arme Junge ganz verwirrt um sich geschaut. Wenn er nur wĂŒsste, woran das lag, dass sie nicht zum GlĂŒck kommen konnten, zum friedlichen GlĂŒck. Hatte er ihr nicht gern was zuliebe getan — oh, so vieles! Hatte sie ihm nicht was zuliebe getan? Oh, auch! Bekreuzten sie sich nicht vor demselben Gott? Gewiss! Und waren sie nicht verliebt miteinander? Das sicher! Und trotz allem und allem — eins waren sie darum doch nicht.
Und das peinigte. Das hatte Valentin gepeinigt fast vom ersten Ehetag an, das peinigte ihn auch jetzt mehr als die Eifersucht auf Szulc. Diese Eifersucht war ja töricht — begreiflich zwar —, aber zu töricht doch! Die Stasia ihrem Walenty untreu sein?!
Und Stasia tauchte vor ihm auf im Dunkel der Nacht — silbrig und seidig schimmerte die blonde Tolle, darunter blĂŒtenzart ihr weisses Gesicht. Mit brennenden Augen starrte er sie an: sei doch gut, komm wieder, wir wollen nun glĂŒcklich sein! Sie lĂ€chelte und nickte — da sprang er aus dem Bett. Wenn es nicht Nacht gewesen wĂ€re, die HĂ€hne in den Höfen nicht erst zum erstenmal gekrĂ€ht hĂ€tten, er wĂ€re zu ihr gelaufen. Ja, er wollte sie zurĂŒckholen! Das Miteinander-böse-Sein war dummes Zeug. Sie sollte wiederkommen, sie musste wiederkommen, dann wurde alles gut!
Und so hatte er sich aufgemacht gleich anderntags. Wie ein Liebender war er gegangen, der um die Braut werben will. Beim Tupadlo fing er an, Trab zu laufen. Ihn Ă€rgerte der weite Bogen, den er machen musste, denn nah, ganz nah winkte hinter den Kusseln die Försterei, und smaragdgrĂŒn, mit weissen Rosen besternt, glĂ€nzte freundlich die Wiese zwischen ihm und dem Waldrand drĂŒben. Aber nur die TorfgrĂ€ber, die vergangnes Jahr hier Torf gestochen hatten fĂŒr Chwaliborczyce, kannten vielleicht die sichere Furt.
Seufzend gab er sich drein, dem Umweg zu folgen.
Schon vor der TĂŒr der Försterei traf er den Schwiegervater. Freundlich war die BegrĂŒssung nicht.
„Wo ist Stasia?“ rief Valentin atemlos.
„Nicht da.“
„Sie ist doch da!“ Das sollten sie ihm nicht wieder vormachen wie damals! „Ich will mein’ Frau holen“, sagte er trotzig. „Sie soll nach Haus kommen!“ Er wollte am Schwiegervater vorbei in die TĂŒr eilen.
Aber der Förster stellte sich breit vor: das wĂ€re! Frech sein wollte der Schwabb jetzt noch, nachdem er seine Tochter so gekrĂ€nkt hatte?! Die blieb vorderhand hier. SpĂ€ter wĂŒrde sich’s finden. Da musste der Ehemann mal erst ganz andre Saiten aufziehen, bis die versöhnt war. Beleidigt war die — oh! Und Frelikowski hatte die HĂ€nde erhoben und sich dann den langen Bart gestrichen mit unnahbarer Miene.
Da hatte sich der Schwiegersohn aufs Bitten gelegt, treuherzig die Hand des Vaters ergreifend: es tat ihm ja so leid, dass er die Stasia gekrĂ€nkt hatte, bitter leid! Ja, er hatte unrecht, er wollte auch gern alles, alles tun, sie zu versöhnen. Nur versprechen mĂŒsste sie ihm, nicht mehr mit dem Inspektor, dem polackischen Szulc, zu tuscheln — nicht, dass er was Böses dabei dĂ€chte, nein, er vertrug’s nur nicht! Das war doch ein Kleines, dass sie ihm das versprach!
Aber Frelikowski hatte die Achseln gezuckt: vorschreiben liess sich die Stasia nun einmal nichts. Mit der Zeit vielleicht wĂŒrde wieder Einigkeit kommen; die Stasia war ja so fromm, die ging fast alle Tage zur Kirche.
So tröstete er den BetrĂŒbten. Und dann versicherte er dem Schwiegersohn, dass er, der gute Schwiegervater, indes kommen wĂŒrde, ihm ab und zu Kunde zu bringen von der Stasia.
Damit hatte sich der junge Ehemann vorderhand begnĂŒgen mĂŒssen.
Peter BrĂ€uer schalt mit dem Sohn, dass der sich so demĂŒtigte und dem Weibsbild nachgelaufen war: ‚Keine Sorg’, die Katz’ findet sich schon wieder in’t Haus, wo die Milch sĂŒss is!‘ hatte er gesagt. Es krĂ€nkte Valentin, dass der Vater also sprach — der hatte eben die Stasia doch nie recht leiden gekonnt.
Und auch mit der Mutter, die sonst so mild war, war der Sohn nicht zufrieden. Frau Kettchen hatte es hart getadelt, dass Stasia davongelaufen war. ‚Dat is doch kein’ Mod’, dat sind mir nit gewöhnt — ’wahr, Peter? Un nachlaufen hĂ€ttste ihr nit sollen, Jung’! Die Frau muss den ersten Schritt tun, nit der Mann — ’wahr, Peter?‘
Was verstanden die, wohin sein Sehnen ging! Konnte er denn dafĂŒr, dass es ihn zog, stĂ€rker als mit hĂ€nfenen Seilen? Einzig mit der Michalina war noch ein Wort zu reden. Die hatte wenigstens Zeit fĂŒr ihn. FrĂŒh morgens, wenn er seine Kammer verliess, hatte sie schon Feuer angezĂŒndet und die Stube gefegt und die GlĂ€ser gewaschen und den Kaffee gekocht — er sah sie meist nicht mehr, wohl aber, dass sie dagewesen — und dann, wenn die DĂ€mmerung sank und Feierabendruh ĂŒber den Feldern lag, dann kam sie wieder. Sie wĂ€re nicht spröde gewesen gegen den jungen Mann, aber er merkte das gar nicht; nur um von Stasia zu reden, darum verlangte ihn nach ihr.
Und sie hatte allezeit ein williges Ohr. Und sie tröstete ihn: Geduld, nur Geduld! Wenn das Korn gehauen wurde, war auch der Trotz geknickt, dann wĂŒrde Stasia kommen. Und sie wĂŒrde sprechen: ‚Walenty, mein Geliebter, meine Seele, meine Taube, du mein Stern, der einzig mir am Himmel strahlet, kĂŒsse mich!‘ Mit bebender Stimme, recht aus Herzensgrund, hauchte die braune Michalina diese Worte. Sie wagte es, seinen Ärmel zu streicheln: „Geduld, Walenty, Geduld!“
Aber er hatte keine Geduld. Wenn Michalina von ihm gegangen war und die Lichtlein der Ansiedlung erloschen, machte er sich auf. Er ging durch die dunkle Sommernacht, immer nur den einen Weg — zum Tupadlo. Stimmen waren in der Nacht der reifenden Felder, die ihn riefen, Sterne ĂŒber dem Geheimnis der wispernden Ebene, die ihn fĂŒhrten. Immer zum Tupadlo. Da kreiste er herum, wie ein Verirrter: „Stasia, Stasia!“
Wie einst als lediger Bursch, dem die junge Verliebtheit im Blut loderte, rief er den geliebten Namen. Beim Dornbusch am Sumpf sass er stundenlang. Der Busch trug jetzt BlĂŒten, flache, zartrosige Flatterblumen, die davonflogen, wenn man sie pflĂŒcken wollte. Geheimnisvoll schimmerten die Rosen der Sumpfwiese; am Tage waren sie geschlossen gewesen, aber jetzt öffneten sie sich zu leuchtenden, weissen Sternen. Ein Duft stieg von ihnen auf, berauschend wie Jasmingeruch. Sumpfrosen sollen nicht duften, sie haben keine Seele, er aber fĂŒhlte ihren sĂŒssen Hauch. Und seine Seele verging vor Sehnsucht. Alles, alles wollte er ihr ja zuliebe tun, wenn sie nur wieder zu ihm kam!
Aber noch war sie böse, so hatte ihm der Vater gesagt, der jetzt alle Tage kam. Aber konnte ihn dessen Kommen trösten? O nein, im Gegenteil! Es Ă€rgerte ihn, wenn der sich in der Wirtsstube breit machte, als sei er der Herr, und Kumpane mitbrachte, die er traktierte, gastfrei, nach gut polnischer alter Sitte. Wo blieb das Geld fĂŒr das Bier und den Schnaps? Michalina hatte die HĂ€nde gerungen, aber ‚pst, still‘ hatte Valentin geflĂŒstert und ihr die Hand auf den Mund gelegt. Was sollte er tun? WĂŒrde er etwas sagen, so kam der Schwiegervater nicht wieder, und er hörte nichts, gar nichts mehr von Stasia. Aber ein Ekel hatte ihn doch erfasst vor dem Mann mit dem roten Bart, der auf drei Ehrenzeichen niederwallte. Valentin konnte es im eignen Haus nicht mehr aushalten. Morgens um zehn schon, oft auch schon um neun, sassen der Förster und seine Genossen in der Wirtsstube, sie sassen bis gegen MittaglĂ€uten, und abends, sowie die Sonne sank, waren sie wieder da. Vertrieben war der Wirt so aus dem eignen Heim. Das wĂŒrde auch nie, nie mehr wohnlich werden — es war ihm verleidet. Was sollte er noch hier, wo nur polnisch gesprochen, polnisch gesungen, polnisch gedacht wurde? Gern wĂ€re er bei seinen Eltern eingekehrt — ach, mit einer stillen Trauer gedachte er jener Tage, da er noch kein Wort Polnisch verstanden hatte, da er hierhergekommen war, voller Begier aufs Neue, sich Wunder vom weiten Acker versprochen und sich lustig geneckt hatte mit den braunen, lachenden MĂ€dchen am Weg, und da er das ‚daj mi buzi‘ noch nicht gelernt!
Wenn er jetzt zu seinen Eltern kam, fĂŒhlte er: er war ihnen fremd geworden. Freundlich waren sie zu ihm, wieder gut wie ehedem, die Mutter sah ihn mitleidig an, der Vater machte ein bekĂŒmmertes Gesicht, sie litten mit ihm unter seinem Kummer, aber fremd waren sie sich doch. Etwas hatte sich zwischen sie gedrĂ€ngt, Vertrauen, Herzlichkeit, Verstehen gestört — das war die Stasia. Er redete nicht von ihr, und sie redeten nicht von ihr. Da trieb es ihn auch endgĂŒltig aus dem Elternhaus.
Rastlos, freudlos ging der Einsame umher, her und hin — hin und her — aus und ein — ein und aus. Die TĂŒren klappten in einem fort; es litt ihn nicht in der Stube, nicht in der Kammer, nicht in der KĂŒche, nicht im Stall, nicht im Schuppen, nicht auf dem Hof. Es zerrte ihn immer und zog ihn und stiess ihn voran wie mit FĂ€usten, er musste zum Tupadlo. Dort fand er einzig Ruhe. Wusste er doch, drĂŒben wohnte sie. Wenn er sie nun nicht sehen, nicht sprechen sollte, wenn sie noch immer trotzte und nicht zu ihm kam, wenigstens nahe sein wollte er ihr. Ging sie denn nicht aus, wĂŒrde sie denn nicht einmal hier vorĂŒberkommen?
Oft glaubte er im schwimmenden Abendlicht ihr helles Kleid drĂŒben hinter den Kusseln zu sehen — mit wem ging sie da? Ging sie allein? Oder war wohl gar Pan Szulc drĂŒben, sie zu besuchen? Eine wahnsinnige Eifersucht ergriff ihn jĂ€h. Nun lag er lauernd hinterm Dornbusch: der sollte nur kommen! Aber auch der kam nicht.
Ganz menschenleer war die selten befahrene Strasse zum Forst. Wer zu schaffen hatte, schaffte in den fruchttragenden Feldern, hier am Moor knarrte kein Ackerwagen, kein Ochsengespann brĂŒllte. In trĂ€ger Ruhe lag das Tupadlo, schwermĂŒtig bei Sonnenschein, schwermĂŒtiger noch beim Mondenlicht.
Die braune Michalina sah mit Schrecken, wie mager der Walenty wurde. Noch waren es keine drei Wochen her, dass Stasia ihm davongelaufen war, und schon schlotterten ihm die Kleider am Leibe. Sie redete ihm herzlich zu, dass er doch essen möchte. Wenn man auch Kummer hat, essen muss man doch, wie soll man denn sonst arbeiten?!
Und sie schlug sich auf die volle Brust und zeigte ihm ihre dicken Arme.
Er aber lĂ€chelte trĂŒb: das wollte er wohl glauben, dass es ihr schmeckte. Was wusste sie von Kummer!
Da seufzte sie aus Herzensgrund und sah ihn beweglich an.
Er aber merkte es nicht. Wenn die Stasia wiederkĂ€me, ja, dann wĂŒrde auch er wieder essen. Dann sollte Barschtsch gekocht werden, die Suppe von roten RĂŒben, die ihm eigentlich zuwider war, und Schaschlik, und alle die Gerichte, die sie gerne ass. Er wĂŒrde kein Wort mehr dagegen sagen, alles wĂŒrde ihm ja schmecken. Nur den Pan Szulc, nein, den Pan Szulc wollte er nicht an seinem Tische haben und auch nicht immer den Förster. Die quĂ€lten ihn noch zu Tode.
Er vermied den Schwiegervater jetzt ganz; selbst um den Preis, von Stasia zu hören, konnte er sich nicht entschliessen, dem freundlich zu sein. Ein Widerwille erfĂŒllte ihn, dessen er sich nicht erwehren konnte. Der wĂŒrde ihm ja doch nicht die Wahrheit sagen — der log! Sie logen alle hier. Selbst Stasia, die ĂŒber alles geliebte Stasia, war die immer ganz wahr gewesen?
Es war ein furchtbarer Zweifel, der ihn anfiel wie ein bissiger Hund. Wenn sie ihn nun belogen, wenn sie nun doch mit Pan Szulc geliebelt hÀtte? Wenn der nun lachte jenseit mit ihr und er, als der Betrogene, hier diesseit sass?
Er hÀtte sich am liebsten gar nicht mehr vom Tupadlo fortgetraut. Er musste jetzt aufpassen, aufpassen, aufpassen. In seinen Augen brannte es, und in seinem Herzen auch. Liebe und Hass, ZÀrtlichkeit und Strenge, Sehnsucht und Widerwille stritten miteinander. Aber die Sehnsucht war doch die grösseste unter ihnen.
„Er ist verhext, er hat die Mora gesehen, weh“, jammerte Michalina und schlich nachts hinter ihm drein zum Tupadlo. Sie sah, dass er ging, gleich einem, der nicht möchte und doch muss, der gezogen wird an einem Seil; sie sah, wie er niedersank beim Busch, auf die Knie fiel und die Arme ausstreckte, verlangend, begehrend. Ein zĂŒngelndes FlĂ€mmchen rollte ĂŒber das Moor — huh, fuhr sie da nicht auf dem Rade, die Hexe, die Mora?!
„Helfe dir Gott!“ schrie Michalina laut.
Da bemerkte er sie. Und er war zornig: was lief sie hinter ihm her? Er wollte allein sein.
„Mach, dass du nach Haus kömmst!“
Da schlich sie weinend fort.
Das Irrlicht war untergetaucht, aber nun ging der Mond auf hinter dem Nachtgewölk und ĂŒberschauerte Busch und Gras. Lange, silberne Strahlen warf er ĂŒber die Wiese, dass sie besponnen schien wie von seidigem Haar. Tauperlen blitzten in den Sternen der weissen Rosen, dass sie glĂ€nzten und glitzerten wie Sterne am Firmament. Schimmernd blau ward der beschattete Grund, dem sie entstiegen — der Himmel war niedergesunken in den Sumpf. Eine BrĂŒcke von Strahlen wob sich ĂŒber den tĂŒckischen Boden.
So klar konnte man sehen, so sicher konnte man gehen — hier war keine Gefahr. Und nah, ganz nah, nur an die hundert Schritt, und man war drĂŒben beim schlafenden Haus! Nur die Hand ausgestreckt und auf die Klinke gelegt — die wich leisem Druck. Verschlossen war die TĂŒr nicht, das wusste Valentin wohl; zu stehlen hĂ€tte sich hier keiner getraut, böse Hunde machten die Runde. Horch, ihr Gebell! Sie heulten den Mond an.
Aber ihn, den Valentin, kannten sie ja, sie wĂŒrden ihn nicht festpacken und festhalten mit grimmigen ZĂ€hnen, leis winselnd wĂŒrden sie sich an seine FĂŒsse schmiegen und die Hand lecken, die sie oft freundlich geklopft hatte. Die Hunde waren kein Hindernis, Schloss und Riegel waren auch nicht, und der Förster schlief.
Darum sacht, schnell hinauf die wacklige Stiege! Die KammertĂŒr steht offen in der schwĂŒlen Nacht — Mondschein fĂ€llt auf buntes Kissen — Mondschein auf blondes, silbriges Haar — auf ein geliebtes weisses Gesicht — —
„Stasia, Stasia!“
Er schrie laut auf in der Mondnacht, wie der Hirsch schreit nach der Hindin — und dann, wie die Seele schreit in Todesnot. —

Als Valentin BrÀuer am Morgen nicht zu Hause war, schlug Michalina LÀrm.
Sie warteten auf ihn den ganzen Tag, und als er nicht kam, fingen sie an, ihn zu suchen. Am Tupadlo war er zuletzt von der Michalina gesehen worden, da suchten sie nun zuerst. Peter BrĂ€uer setzte dreihundert Mark Belohnung aus; das ging fast ĂŒber seine Kraft, aber war ihm der Sohn nicht tausendmal mehr wert? Er wollte mit d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Erstes Kapitel
  3. Zweites Kapitel
  4. Drittes Kapitel
  5. Viertes Kapitel
  6. FĂŒnftes Kapitel
  7. Sechstes Kapitel
  8. Siebentes Kapitel
  9. Achtes Kapitel
  10. Neuntes Kapitel
  11. Zehntes Kapitel
  12. Elftes Kapitel
  13. Zwölftes Kapitel
  14. Dreizehntes Kapitel
  15. Vierzehntes Kapitel
  16. FĂŒnfzehntes Kapitel
  17. Sechzehntes Kapitel
  18. Siebzehntes Kapitel
  19. Achtzehntes Kapitel
  20. Neunzehntes Kapitel
  21. Zwanzigstes Kapitel
  22. Einundzwanzigstes Kapitel
  23. Zweiundzwanzigstes Kapitel
  24. Dreiundzwanzigstes Kapitel
  25. Über "Das schlafende Heer"
  26. Kolophon