Verbrechen und Strafe
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Verbrechen und Strafe

  1. 806 Seiten
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Verbrechen und Strafe

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Über dieses Buch

Kann ein Mord nicht nur unentdeckt, sondern auch unbestraft bleiben? Dostojewskis 1866 erschienener Roman erzählt die Geschichte des jungen Rodion Raskolnikow, der ein jämmerliches Leben in St. Petersburg führt. Seine finanziellen Probleme glaubt er nur lösen zu können, indem er die alte Pfandleiherin, der er Geld schuldet, umbringt. Doch die Tat hinterlässt ihre Spuren; er wird krank und vereinsamt immer mehr. Kann Raskolnikow mit der Schuld leben, oder wird er die Tat gestehen? -

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Information

Jahr
2019
ISBN
9788726372038

ZWEITER TEIL

I

So lag er sehr lange. Mitunter wurde er halb wach und bemerkte in solchen Augenblicken, daß es schon längst Nacht sei; aufzustehen kam ihm gar nicht in den Sinn. Endlich nahm er wahr, daß die Morgendämmerung bereits angebrochen war. Er lag rücklings auf dem Sofa, noch ganz starr von der bisherigen Bewußtlosigkeit. Ein schreckliches, wildes Geheul schlug von der Straße her schrill an sein Ohr; dieses Geheul hörte er übrigens jede Nacht zwischen zwei und drei Uhr unter seinem Fenster, und es war auch jetzt die Ursache seines Erwachens gewesen. ,Aha! Da kommen auch schon die Betrunkenen aus den Kneipen‘, dachte er. ,Es ist zwei durch.‘ Plötzlich fuhr er auf, als ob ihn jemand vom Sofa in die Höhe gerissen hätte. ,Wie? Schon zwei durch!‘ Er setzte sich auf — und nun fiel ihm alles ein! In einer Sekunde erinnerte er sich wieder an alles.
Im ersten Augenblicke glaubte er, er würde wahnsinnig werden. Ein furchtbarer Frost überfiel ihn; aber dieser Frost kam von dem Fieber her, das sich schon längst während des Schlafes in seinem Körper entwickelt hatte. Jetzt packte ihn ein solcher Kälteschauer, daß ihm die Zähne klapperten und ihm alle Glieder steif wurden. Er öffnete die Tür und horchte; im Hause schlief alles fest. Erschrocken besah er sich selbst und alles ringsherum im Zimmer und begriff gar nicht, wie es nur möglich gewesen war, daß er gestern beim Nachhausekommen die Tür nicht zugeschlossen und sich in den Kleidern, ja sogar mit dem Hut auf dem Kopfe auf das Sofa geworfen hatte. Der Hut war heruntergerollt und lag auf dem Fußboden neben dem Kissen. ,Wenn nun jemand hereingekommen wäre, was hätte sich der gedacht? Gewiß, daß ich betrunken wäre, aber . . .‘ Er stürzte zum Fenster hin. Es war schon hell genug, und er musterte sich schleunigst, vom Kopfe bis zu den Füßen, vollständig, seine ganze Kleidung, ob auch nicht Blutspuren daran seien. Aber das ließ sich so auf dem Körper nicht gut ausführen; zitternd vor Frost, zog er alle Kleidungsstücke aus und untersuchte jedes von allen Seiten. Er wendete alles, bis auf den letzten Faden und Fetzen, hin und her, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Besichtigung dreimal. Aber es schienen keine Spuren vorhanden zu sein; nur da, wo die Hosen unten zerfasert waren und die Fransen herunterhingen, saßen an diesen Fransen dicke Klümpchen geronnenen Blutes. Er nahm sein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Weiter schien nichts da zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die Pfandstücke, die er bei der Alten aus der Truhe herausgenommen hatte, immer noch sämtlich in seinen Taschen steckten! Er hatte bis jetzt noch gar nicht daran gedacht, sie herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt hatte er sich daran erinnert, als er seinen Anzug revidierte. Wie war es nur möglich! Sofort zog er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles hervorgeholt und sogar die Taschen umgewendet hatte, um sich zu vergewissern, daß auch wirklich nichts darin geblieben sei, trug er den ganzen Haufen in eine Ecke. Dort hatte unten im innersten Winkel an einer Stelle die Tapete, die sich von der Wand abgelöst hatte, einen Riß; sofort stopfte er alles in dieses Loch unter die Tapete. ‚Es ist hineingegangen; es ist nichts mehr zu sehen, auch der Beutel nicht!‘ dachte er erfreut, indem er langsam aufstand und stumpfsinnig nach der Ecke und dem Risse hinstarrte, der nun noch breiter klaffte. Da fuhr er wieder erschrocken zusammen: ‚Mein Gott‘, flüsterte er verzweifelt, ,was ist nur mit mir? Heißt denn das verstecken? Versteckt man denn etwas so?‘
Er hatte ja allerdings nicht auf Wertgegenstände gerechnet; er hatte geglaubt, er würde nur Geld erbeuten, und darum nicht im voraus Verstecke zurechtgemacht. ,Aber worüber habe ich mich denn jetzt eben gefreut?‘ dachte er. ,Versteckt man denn etwas so? Wahrhaftig, aller Verstand läßt mich ja im Stiche!‘ Ganz matt setzte er sich auf das Sofa, und sogleich schüttelte ihn wieder ein unerträglicher Frostschauder. Neben ihm auf dem Stuhle lag der warme, aber jetzt schon ganz zerlumpte Winterüberzieher, den er als Student getragen hatte; den zog er mechanisch zu sich heran und deckte sich damit zu; sofort verfiel er wieder in Schlaf und Fieberphantasien. Er war bewußtlos.
Aber schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und fiel von neuem wie rasend über seine Kleider her. ,Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo doch noch nichts getan ist! Ich habe ja wahrhaftig die Schlinge unter der Achsel noch nicht abgemacht! Ich habe es vergessen! So etwas Wichtiges habe ich vergessen! Ein solches Beweisstück!‘ Er riß die Schlinge ab, riß sie schnell in Stücke und stopfte diese unter das Kissen zwischen die Wäsche. ,Stücke von zerrissener Leinwand werden ja doch wohl in keinem Falle Verdacht erregen, möchte ich meinen!‘ flüsterte er, mitten im Zimmer stehend, vor sich hin; und indem er seine Aufmerksamkeit so anstrengte, daß es ihn physisch schmerzte, begann er wieder ringsumher, auf dem Fußboden und überall, Umschau zu halten, ob er nicht doch noch etwas vergessen habe. Das Gefühl, daß alles, sogar das Gedächtnis, sogar die einfache Denkkraft ihn im Stiche lasse, quälte ihn in unerträglicher Weise. ‚Wie? Fängt es wirklich jetzt schon an? Kommt wirklich jetzt schon die Strafe? Wahrhaftig?‘ In der Tat lagen die Fransen, die er von den Hosen abgeschnitten hatte, offen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, so daß sie der erste, der eintrat, sehen mußte. „Was ist denn nur mit mir!“ rief er wieder ganz fassungslos.
Da kam ihm ein sonderbarer Gedanke in den Sinn: vielleicht war auch sein ganzer Anzug blutig, vielleicht war eine ganze Menge Flecken daran; aber er sah sie nur nicht, bemerkte sie nicht, weil seine Denkkraft geschwächt und vermindert, sein Verstand verdunkelt war. Auf einmal fiel ihm ein, daß auch an dem Beutel Blut gewesen war. ,Ha, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ja der Beutel damals, als ich ihn in die Tasche steckte, noch feucht war.‘ Eilig drehte er die Tasche um, und wahrhaftig! an dem Taschenfutter befanden sich Flecke, Blutspuren! ,Also versagen meine geistigen Fähigkeiten doch noch nicht ganz; also besitze ich doch noch Denkkraft und Gedächtnis, da ich dies überlegt und kombiniert habe!‘ dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und froh auf. ,Es war einfach eine vom Fieber herrührende Schwäche, eine momentane Geistesverwirrung!‘ sagte er sich und riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblicke fiel ein heller Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel: an dem Strumpfe, der aus dem Stiefel hervorsah, schienen Blutspuren zu sein! Er zog den Stiefel aus: ,Wahrhaftig, es sind Blutspuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut getränkt!‘ Jedenfalls war er damals unachtsamerweise in die Blutlache hineingetreten. ,Aber was soll ich nun damit anfangen? Wo soll ich den Strumpf und die Fransen und die Tasche lassen?‘
Er raffte alles mit beiden Händen zusammen und stand mitten im Zimmer da. ,In den Ofen? Aber im Ofen werden sie zu allererst herumstöbern. Verbrennen? Aber womit? Ich habe ja nicht einmal Streichhölzer. Nein, das beste ist schon, ich gehe draußen irgendwohin und werfe alles weg. Ja, das beste ist, alles wegzuwerfen!‘ sagte er sich und setzte sich wieder auf das Sofa. ,Und zwar sofort, diesen Augenblick, unverzüglich . . .‘ Aber statt daß er dies tat, sank sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder packte ihn jener unerträgliche eisige Schauder; wieder zog er den Winterpaletot auf seinen Körper. Längere Zeit noch, mehrere Stunden lang, flackerte in seinem Kopfe von Zeit zu Zeit der Gedanke auf: ,Sofort, ohne zu zaudern, muß ich irgendwohin gehen und alles wegwerfen, damit nichts mehr davon zu sehen ist; schnell, ganz schnell!‘ Mehrere Male richtete er sich auf dem Sofa auf und versuchte aufzustehen; aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Schließlich machte ihn ein starkes Klopfen an der Tür wach.
„Mach doch auf! Lebst du noch oder nicht? Immer schläft er und schläft!“ schrie Nastasja und schlug mit der Faust gegen die Tür. „Den ganzen lieben, langen Tag schläft er wie ein Faultier. Und er ist auch ein Faultier. Mach auf, sag ich. Es geht schon auf elf!“
„Vielleicht ist er gar nicht zu Hause“, sagte eine Männerstimme.
,Ha, das ist die Stimme des Hausknechts . . . Was will denn der?‘
Er sprang auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin. Das Herz klopfte ihm so stark, daß es ihm weh tat.
„Wer hat denn den Riegel vorgelegt?“ erwiderte Nastasja. „Nun sieh mal einer, er hat angefangen, die Tür zuzuriegeln! Es könnte ihn ja einer wegstehlen! Mach auf, Mensch du, und werde endlich wach!“
,Was wollen die? Warum ist der Hausknecht da? Gewiß ist alles entdeckt. Soll ich Widerstand leisten oder aufmachen? Mag das Unheil seinen Gang nehmen . . .‘
Er erhob sich ein wenig, beugte sich vornüber und nahm den Riegel ab.
Sein ganzes Zimmer war von so geringen Dimensionen, daß man den Riegel abnehmen konnte, ohne vom Bette aufzustehen.
Richtig: an der Tür standen der Hausknecht und Nastasja.
Nastasja betrachtete ihn mit eigentümlich forschenden Blicken. Er selbst blickte mit verzweifelter und zugleich herausfordernder Miene den Hausknecht an. Der hielt ihm, ohne ein Wort zu sagen, ein graues, zweimal zusammengefaltetes Stück Papier hin, das mit gewöhnlichem Flaschenlack versiegelt war.
„Eine Vorladung, aus dem Bureau“, bemerkte er, als er ihm das Papier übergab.
„Aus was für einem Bureau?“
„Zur Polizei sollen Sie kommen, aufs Polizeibureau. Natürlich aufs Polizeibureau!“
„Aufs Polizeibureau? . . . Warum?“
„Weiß ich’s? Sie werden vorgeladen, also gehen Sie nur hin!“
Er musterte ihn aufmerksam, sah sich um und machte kehrt, um wieder fortzugehen.
„Du bist wohl ganz krank geworden?“ sagte Nastasja, ihn unverwandt ansehend. Auch der Hausknecht wendete für einen Augenblick den Kopf. „Er fiebert schon seit gestern“, fügte sie hinzu.
Raskolnikow entgegnete nichts und hielt das Schriftstück in der Hand, ohne es zu öffnen.
„Steh nur lieber nicht auf“, fuhr Nastasja fort; er tat ihr leid, als sie sah, daß er die Beine vom Sofa herunternahm. „Wenn du krank bist, so geh nicht hin. So eilig wird’s ja nicht sein. Was hast du denn da in der Hand?“
Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen der herausgerissenen Tasche. So hatte er damit geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte er sich, daß er jedesmal, wenn er in der Fieberhitze halb wach geworden war, all diese Dinge von neuem fest in der Hand zusammengepreßt hatte und so wieder eingeschlafen war.
„Na, so was! Hat sich ein paar Lumpen zusammengesucht und schläft damit, wie wenn er einen Schatz hütete . . .“
Und Nastasja brach in ihr lautloses, krampfhaftes Gelächter aus.
Schleunigst schob er alles unter den Paletot und heftete einen starren, prüfenden Blick auf sie. Obwohl er zu vernünftigen Überlegungen in diesem Augenblicke nur sehr wenig fähig war, so sagte er sich doch, daß man mit einem Menschen, den man verhaften wolle, wohl anders verfahre. — ,Aber trotzdem . . ., die Polizei?‘
„Du solltest ein bißchen Tee trinken! Willst du welchen? Ich bringe dir welchen; es ist noch übrig . . .“
„Nein, . . . ich will hingehen, ich will gleich hingehen“, murmelte er und stellte sich auf die Füße.
„Du kommst ja wohl gar nicht die Treppe hinunter!“
„Ich will hingehen.“
„Na, wie du willst.“
Sie folgte dem vorangegangenen Hausknechte und ging weg. Sofort stürzte er ans Licht, um sich den Strumpf und die Fransen zu besehen. ,Flecken sind da, aber nicht sehr bemerkbar; es ist alles von Schmutz verdeckt, und die Farbe ist schon sehr matt geworden. Wer es nicht schon vorher weiß, sieht nichts. Nastasja hat gewiß von weitem nichts bemerken können; Gott sei Dank!‘ Dann erbrach er mit zitternder Hand die Vorladung und begann zu lesen. Er mußte lange lesen, bis er endlich den Sinn begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung aus dem Polizeirevier, er solle am heutigen Tage um halb zehn im Bureau des Revieraufsehers erscheinen.
,Das ist ja noch nie dagewesen! Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute?‘ fragte er sich in qualvoller Ungewißheit. ,O Gott, wenn es nur schnell zu Ende wäre!‘ Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber selbst, nicht über das Gebet, sondern über sich. Er zog sich eilig an. ,Wenn ich ins Unglück renne, mir ganz gleich! Ob ich den Strumpf anziehe?‘ überlegte er. ,Er wird dann im Staube noch schmutziger, und die Spuren verschwinden.‘ Aber kaum hatte er ihn angezogen, da riß er ihn auch schon wieder voll Ekel und Angst herunter. Nachdem er indessen überlegt hatte, daß er keinen anderen habe, zog er ihn doch wieder an — und lachte wieder auf. ,All solche Empfindungen sind rein konventionell, nur relativ, bloße Äußerlichkeiten‘, dachte er nur ganz flüchtig, wobei er aber am ganzen Leibe zitterte; ,nun habe ich ihn ja doch angezogen! Schließlich habe ich ihn ja doch angezogen!‘ Aber das Lachen ging sofort in Verzweiflung über. ,Nein, das geht über meine Kraft . . .‘, dachte er. Die Beine zitterten ihm. ,Vor Angst‘, murmelte er vor sich hin. Der Kopf war ihm schwindlig und tat ihm weh von der Fieberhitze. ,Das ist eine List! Sie wollen mich durch diese List hinlocken und mich dann plötzlich überrumpeln‘, redete er zu sich weiter, als er auf die Treppe hinaustrat. ,Recht verdrießlich ist, daß ich fast im Fieber rede; wie leicht kann ich da irgendeine Dummheit sagen!‘
Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er all die Wertsachen so mangelhaft verwahrt in der Höhlung hinter der Tapete zurückgelassen hatte. ,Und vielleicht benutzen sie gerade meine Abwesenheit zu einer Haussuchung‘, überlegte er und blieb stehen. Aber eine solche Verzweiflung, ja, man möchte sagen, eine solche herausfordernde Dreistigkeit seinem eigenen Verderben gegenüber hatte in seiner Seele Platz gegriffen, daß er mit der Hand eine Gebärde machte, als sei dies ja alles völlig gleichgültig, und weiterging.
,Nur schnell, so schnell wie möglich!‘
Auf der Straße herrschte wieder eine unerträgliche Hitze; diese ganzen Tage her war kein Tropfen Regen gefallen. Wieder Staub, Ziegel, Kalkdunst; wieder der üble Geruch aus den Kramläden und Kneipen, wieder auf Schritt und Tritt Betrunkene, finnische Hausierer und invalide Droschken. Die Sonne schien ihm blendend in die Augen, so daß ihm das Sehen Schmerz machte und der Kopf ihm ganz benommen war — die gewöhnliche Empfindung eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße in den hellen Sonnenschein hinaustritt.
Als er an die Ecke kam, wo die „gestrige“ Straße einmündete, warf er in qualvoller Unruhe einen Blick hinein, nach „jenem“ Hause; . . . aber er wendete sofort die Augen wieder weg.
,Wenn sie mich danach fragen sollten, sage ich vielleicht einfach alles‘, dachte er, als er sich dem Polizeibureau näherte.
Das Bureau war von seiner Wohnung nur etwa fünf Minuten entfernt. Es hatte eben erst neue Räume bezogen, die im dritten Stock eines neuen Hauses lagen. In den alten Diensträumen war er einmal auf einen Augenblick gewesen; aber das war schon sehr lange her. Als er in den Torweg trat, sah er rechts eine Treppe, auf der ein ärmlich gekleideter Mann mit einem Büchelchen in der Hand herunterkam. ,Ein Hausknecht‘, sagte sich Raskolnikow, ,also ist hier das Polizeibureau.‘ Er ging aufs Geratewohl die Treppe hinauf. Sich bei jemand zu erkundigen, dazu hatte er keine Neigung.
,Ich werde hineingehen, mich auf die Knie werfen und alles erzählen‘, dachte er, als er zum dritten Stockwerk gelangte.
Die Treppe war schmal, steil und ganz mit Spülicht begossen. Alle Küchen aller Wohnungen in allen vier Geschossen gingen auf diese Treppe hinaus und standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine gräßliche Luft. Herauf und herunter kamen und gingen Polizisten, Hausknechte mit Büchern unter dem Arm und allerlei andre Leute beiderlei Geschlechts, die auf dem Bureau etwas zu erledigen hatten. Die Tür zu dem Bureau selbst stand gleichfalls sperrangelweit offen. Er ging hinein und blieb im Vorzimmer stehen, wo eine Menge einfacher Leute stand und wartete. Auch hier war eine furchtbar stickige Luft, und außerdem verbreitete der frische, noch nicht ordentlich trockene Anstrich der Zimmer mit unreinem Firnis einen Geruch, von dem einem übel werden konnte. Nachdem er ein Weilchen gewartet hatte, entschloß er sich, noch weiter, ins nächste Zimmer, zu gehen. Es waren lauter kleine, niedrige Räume. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter. Niemand beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen, mit Schreiben beschäftigt, einige Schreiber, dem Äußeren nach eine sonderbare Gesellschaft, obwohl sie ein wenig besser gekleidet waren als er. Er wendete sich an einen von ihnen.
„Was willst du?“
Er zeigte die Vorladung, die ihm vom Bureau zugegangen war.
„Sie sind Student?“ fragte der Schreiber nach einem Blick in...

Inhaltsverzeichnis

  1. decken
  2. Titel
  3. Kolophon
  4. ERSTER TEIL
  5. ZWEITER TEIL
  6. DRITTER TEIL
  7. VIERTER TEIL
  8. FÜNFTER TEIL
  9. SECHSTER TEIL
  10. EPILOG
  11. NACHWORT
  12. Über Verbrechen und Strafe
  13. Anmerkungen