âHurra, das wĂ€re geschafft!â rief Yvonne und warf ihren Koffer mit Schwung auf eines der beiden Betten. âMoralpredigten, Standpauken und Familienzeremonien bis zu den nĂ€chsten Ferien mal wieder heil ĂŒberstanden. Nie hĂ€tte ich gedacht, daĂ ich mich auf den ersten Schultag freuen könnte.â
âWarâs so schlimm?â erkundigte sich ihre Freundin Helga mitfĂŒhlend. âAber ich muĂ schon sagen, in der Prachtbude, die wir fĂŒrs neue Schuljahr ergattert haben, kann ich dem Internatsleben neue Reize abgewinnen.â
Helga öffnete eines der Fenster ihres im renovierten OstflĂŒgels des SchloĂinternates Hohenwartau gelegenen Zimmers und genoĂ den freien Blick ĂŒber den SchloĂpark, die TennisplĂ€tze, das Schwimmbad bis zu den Alpengipfeln. âDie Aussicht ist einfach umwerfend!â
Yvonne betrachtete ihr hĂŒbsches, braungebranntes Gesicht mit den hellblauen Augen und dem weichfallenden blonden Haar wohlgefĂ€llig in dem kleinen Taschenspiegel. âAber Penne bleibt Penne, und bei der BĂŒffelei wird uns das Lachen schon noch vergehenâ, gab sie zu bedenken. âMöchte bloĂ wissen, wozu das alles gut sein soll. Na ja, wennâs brenzlig wird, kann ich ja immer noch heiraten. Mit einem reichen, schikken Knaben wĂ€r ich ein fĂŒr allemal die Sorgen los.â
Beide muĂten lachen.
âDu, hier habe ich was fĂŒr dich. Als ich die Sachen im Schaufenster sah, bin ich drauf geflogen. Hinterher merkte ich aber leider, daĂ sie zu meinem blonden Haar unmöglich aussehen.â
Yvonne zog einen knallgelben Schal und eine passende BaskenmĂŒtze aus dem Koffer und warf beides der Freundin zu.
Helgas braune Augen strahlten vor Freude. âDu, die sind ja wirklich rasant!â staunte sie. Sie setzte die MĂŒtze auf ihr braunes Haar, schlang den Schal um den Hals und rannte in den Waschraum, um sich im Spiegel zu bewundern.
âWenn ich dich nicht hĂ€tte, Yvonneâ, sagte sie, als sie zurĂŒckkam, âwĂŒĂte ich wahrhaftig nicht, womit ich meine alten Klamotten aufmöbeln könnte. Aber was will ich bei fĂŒnf Geschwistern schon groĂ verlangen von meinem Vater.â
Zehn Minuten spĂ€ter â Helga und Yvonne waren gerade beim Ăberziehen der Betten â stĂŒrmte Barbara Miller, genannt Babsy, zu ihnen herein, eine langbeinige, ebenholzschwarze Schönheit.
âKinder, eine Sensation!â rief sie aufgeregt. âKommt rasch! Ein neuer Pauker ist da!â Und schon war sie wieder drauĂen.
Helga und Yvonne stĂŒrzten ihr nach in das groĂe Wohnzimmer, dessen Fenster zum Hof hinaus blickten. Ellen, ein sportliches MĂ€dchen mit honigblondem Haar, deren Vater als Botschafter in Afrika lebte, lehnte weit ĂŒber die BrĂŒstung und starrte hinunter. Babsy hatte sich neben sie gequetscht, und die rothaarige Uschi öffnete gerade das zweite Fenster und spĂ€hte hinab.
âWo? Wo? Wo?â rief sie aufgeregt.
Aber ohne ihre Brille, die sie aus Eitelkeit nur selten auf der Nase hatte, war sie auf Ellens Beschreibung angewiesen:
âPeil das knallrote kleine Auto genau gegenĂŒber an! Der junge Mann mit der Tweedjacke, der ist es!â
Uschi konnte nichts als einen verschwommenen roten Fleck erkennen und raffte sich nun doch auf, ihre Brille zu holen.
Yvonne hatte sich auf die BrĂŒstung geschwungen. âEine tolle Typeâ, stellte sie sachkundig fest, âwie der seinen Regenmantel ĂŒber der Schulter trĂ€gt â einfach lĂ€ssig.â
âSieht nicht schlecht ausââ, gab Helga zu, âaber woher wollt ihr ĂŒberhaupt wissen, daĂ er Pauker ist?â
âDas kannst du dir doch an allen fĂŒnf Fingern abzĂ€hlen!â erklĂ€rte Babsy. âEr ist zu jung, um Vater einer SchĂŒlerin zu sein, und auĂerdem ist er ganz allein gekommen âŠâ
âIst doch sonnenklarâ, unterbrach sie Ellen. âDr. Hansemann ist pensioniert worden, und Tweedy ist unser neuer Lehrer fĂŒr Deutsch und Englisch.â
Und schon hatte der junge Mann in der Tweedjacke seinen Spitznamen weg.
âFast zu schön, um wahr zu seinâ, sagte Yvonne, âein klasse Lehrer, das wĂ€re endlich mal ein Lichtblick in unserem trĂŒben Dasein!â
âSĂŒĂ!â hauchte Uschi, die nun endlich ihre Brille aufhatte und die Sensation erspĂ€hen konnte.
Unten tat sich etwas Neues. FrĂ€ulein Gertrud Pförtner, Turn- und Handarbeitslehrerin des Internates, auĂerdem Tochter des Direktors, trat auf den Ankömmling zu und begrĂŒĂte ihn mit Handschlag.
Drei weitere SchĂŒlerinnen der zwölften Klasse, Margot, Hannelore und Ilse, polterten mit ihrem GepĂ€ck in das Wohnzimmer. âWir haben einen neuen Lehrer!â riefen sie gleichzeitig. âDoktor Herbert Jung heiĂt er! â unterrichtet Deutsch und Englisch! â Trudchen begrĂŒĂt ihn gerade!â
âWas ihr nicht sagt!â piepste Babsy zurĂŒck. âWir beobachten Tweedys ersten Auftritt schon seit fĂŒnf Minuten von unseren LogenplĂ€tzen aus.â Babsys Eltern waren berĂŒhmte OpernsĂ€nger, ihre Mutter war in Mailand, ihr Vater in MĂŒnchen engagiert, und so lag ihr der Theatervergleich nahe.
âJedenfalls ist er genau mein Typâ, stellte Yvonne fest, âwenn das nichts mit uns wird, schluck ich ânen Besen quer.â
âDann erstick mal schön. Wetten, daĂ ich gröĂere Chancen habeâ, erklĂ€rte Hannelore. Sie war schon 19 Jahre alt, sehr damenhaft, mit kastanienrot getöntem Haar und Erfahrungen.
âNur zu eurer Information: Macht euch auf meine Konkurrenz gefaĂt!â verkĂŒndete Margot.
âDas ist doch die Höhe!â rief Yvonne. âIch denke, du bist glĂŒcklich verlobt?â
âDrum prĂŒfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Besseres findet!â lachte Margot.
âWenn eine von uns ĂŒberhaupt eine Chance hat, dann bin ich esâ, behauptete die strohblonde, sommersprossige Ilse.
Helga wurde es zu bunt. âLeutchen, mir scheint, ihr seid komplett verrĂŒckt! Bildet ihr euch denn wirklich ein, daĂ Tweedy mit einer von uns anbĂ€ndeln wĂŒrde? So bekloppt ist er bestimmt nicht, es wĂŒrde ihn ja seine Stellung kosten! Ganz davon abgesehen finde ich, daĂ ihr doch ein biĂchen zu alt sein solltet fĂŒr so eine blödsinnige SchwĂ€rmerei!â
âDas ist keine SchwĂ€rmerei, das ist Liebe auf den ersten Blick!â schrie Yvonne.
In diesem Augenblick brauste FrĂ€ulein von Zirpitz, die Erzieherin der zwölften Klasse, in das Wohnzimmer. âMeine Damen, meine Damen!â rief sie und klatschte affektiert in die HĂ€nde. âIch bin empört. Ich sehe mich gezwungen, dieses unqualifizierte Betragen dem Herrn Direktor zu melden.â
Die MĂ€dchen verlieĂen eilig ihre FensterplĂ€tze und bestĂŒrmten FrĂ€ulein von Zirpitz, genannt die Zirpe, mit Bitten um Gnade.
âNein, nein, nein!â wehrte sie ab. âMachen Sie sich lieber sofort daran, Ihre Sachen auszupacken und die Betten zu ĂŒberziehen. In einer halben Stunde werde ich die Zimmer inspizieren.â Sie rauschte davon.
Alle beeilten sich, daĂ sie in ihre Zimmer kamen, und begannen in rasender Eile ihre Sachen zu verstauen. Die Zirpe verstand es, ihnen das Internatsleben zu vermiesen.
Gleich am ersten Schultag hatte die zwölfte Klasse in der dritten Stunde Deutschunterricht. Als der neue Lehrer den Raum betrat, hielten die MĂ€dchen den Atem an. WĂŒrde er aus der NĂ€he auch so attraktiv wirken, wie er ihnen auf den ersten Blick vom SchloĂfenster herab erschienen war?
Sie hatten sich nicht getĂ€uscht. Tweedy oder Dr. Herbert Jung, wie er sich vorstellte, war ein ungeheuer sympathischer junger Mann, zwar keine Schönheit, aber mĂ€nnlich und interessant. Seine Nase war ein wenig zu groĂ, seine Stirn breit und ausdrucksvoll, und die hellen grauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu seinem braungebrannten Gesicht bildeten, waren von hellen LachfĂ€ltchen umgeben.
Den SchĂŒlerinnen der zwölften Klasse wurde es ganz anders zumute, als sie sich von diesen durchdringenden grauen Augen gemustert sahen. Selbst Helga wurde es ziemlich mulmig, als er sie, wie alle anderen, nach ihrem Namen fragte.
Alle hatten sich fĂŒr diese erste Begegnung herausgeputzt, trugen ihre kĂŒrzesten Röcke, die engsten Pullis und hatten soviel Make-up aufgelegt, daĂ sie FrĂ€ulein von Zirpitzâ Kontrolle nur im Halbschatten zu passieren wagten.
Dr. Herbert Jung schien gegenĂŒber all diesen Reizen völlig unempfĂ€nglich zu sein. Er stĂŒrzte sich sofort auf das Pensum und lieĂ seine Blicke nie tiefer als bis zur Augenhöhe seiner SchĂŒlerinnen gleiten, so daĂ es gar keinen Zweck hatte, sich in Positur zu werfen.
Aber gerade diese GleichgĂŒltigkeit machte ihn noch anziehender. Tweedy war der einzige gut aussehende Mann in jĂŒngeren Jahren im SchloĂinternat, und die anfĂ€ngliche Begeisterung der MĂ€dchen steigerte sich bald in SchwĂ€rmerei.
Margot knipste ihn heimlich und trug sein Foto Tag und Nacht in einem goldenen Medaillon auf der Brust. Kicki, die pummelige Chinesin, tÀtowierte sich seinen Spitznamen mit einem Tintenstift auf den Unterarm. Uschi gelang es, ihm einen Faden aus der Tweedjacke zu ziehen, den sie wie eine Relique aufbewahrte.
Vier Wochen spĂ€ter wurde der erste Aufsatz geschrieben. Dr. Herbert Jung stellte ein Thema zur eigenen Wahl frei, als zweites die Beschreibung eines Kupferstiches und als drittes ein Zitat aus Goethes, Faustâ. Die MĂ€dchen versuchten, so weit sie sich in Tweedys verwirrender Gegenwart konzentrieren konnten, mit ihrem Geist zu glĂ€nzen.
Danach, in der groĂen Pause, sagte Helga zu ihrer Freundin: âGott, bin ich froh! Mir ist eine Menge eingefallen. Was fĂŒr ein Thema hast du denn gewĂ€hlt?â
âIch habe Tweedy einen Liebesbrief geschriebenâ, erklĂ€rte Yvonne mit gröĂter SelbstverstĂ€ndlichkeit.
Yvonne war ĂŒberzeugt, mit ihrem Liebesbrief in Aufsatzform alle Rivalinnen bravourös aus dem Feld geschlagen zu haben.
Aber in der Nacht sah die Sache auf einmal ganz anders aus. In der Dunkelheit ihres Zimmers wurde jeder Satz des fatalen Aufsatzes zu einem Alpdruck. War sie nicht doch zu weit gegangen?
Ruhelos warf sie sich hin und her und bemĂŒhte sich verzweifelt, endlich Schlaf zu finden.
Helga war dadurch wach geworden. âDenkst du ⊠an den Aufsatz?â fragte sie endlich.
âDu hast es erfaĂtâ, gab Yvonne zu, mit einem Anflug ihrer gewohnten KeĂheit, âwas mache ich bloĂ, wenn Tweedy meine LiebeserklĂ€rung in den falschen Hals kriegt?â
âSoviel Humor wird er schon noch auf Lager haben, deinen verrĂŒckten Einfall nicht krumm zu nehmen.â
Doch Yvonne war nicht so leicht zu beruhigen. âUnd wenn er nun meine Eltern antanzen lĂ€Ăt?â
âIch bitte dich! Erstens tut er das nicht, denn es wĂ€re eine BankkrotterklĂ€rung seiner pĂ€dagogischen FĂ€higkeiten, und zweitens ⊠du kannst doch einfach so tun, als wenn du ihn hĂ€ttest hochnehmen wollen!â
Statt einer Antwort seufzte Yvonne tief.
Dr. Herbert Jung lieà sich Zeit mit dem Korrigieren der AufsÀtze.
Helga lebte in stÀndiger Sorge, daà der umschwÀrmte Lehrer Yvonne tatsÀchlich einen schweren Verweis erteilen könnte.
Yvonne dagegen, deren Optimismus mit dem hellen Tag wieder erwacht war, hoffte und wartete darauf, daĂ er sie beiseite nehmen und in einem privaten GesprĂ€ch auf ihr GestĂ€ndnis eingehen wĂŒrde.
Dann, an einem Montagmorgen â Deutsch war in der letzten Stunde â, betrat Tweedy mit dem Packen Aufsatzhefte die Klasse und legte sie schweigend auf den Lehrertisch. Er schien die NervositĂ€t der MĂ€dchen gar nicht zu bemerken und forderte sie ruhig auf, ihren,Faustâ an der Stelle aufzuschlagen, wo sie das letzte Mal stehengeblieben waren.
Erst fĂŒnf Minuten vor UnterrrichtsschluĂ warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und bat Babsy, die Hefte auszuteilen.
WĂ€hrend sie von Tisch zu Tisch ging, erklĂ€rte Dr. Jung beilĂ€ufig: âDie Arbeiten sind im groĂen ganzen recht nett ausgefallen. Ich bin zufrieden, meine Damen.â
Ein paar Tage lang regnete es, erst gegen Ende der Woche rià die Wolkendecke auf. Yvonne, Babsy und Ellen beschlossen, in der nachmittÀglichen Freizeit auszureiten. Sie forderten Helga auf, mitzukommen. Aber da sie, wie meistens, ziemlich knapp bei Kasse war, konnte sie sich den Spaà nicht leisten und gab vor, keine Lust zu haben.
Sie zog sich mit einem Buch in den Park zurĂŒck, und vertiefte sich in ihre LektĂŒre, Sciencefiction, so packend geschrieben, daĂ sie sich eifrig auch durch allzu wissenschaftliche Passagen kĂ€mpfte. Sie brĂŒtete gerade ĂŒber einer physikalischen Beschreibung, als sie durch eine vertraute mĂ€nnliche Stimme aufgeschreckt wurde.
âNa, Helga, ist es nicht ein biĂchen zu kĂŒhl fĂŒr ein Nickerchen im Freien?â fragte Dr. Herbert Jung.
Das Herz klopfte Helga bis zum Halse, als sie langsam aufsah und antwortete: âIch schlafe nicht, Herr Doktor, ich denke nach.â
âTatsĂ€chlich?â
Sie klappte das Buch zu und lieĂ ihn den Umschlag sehen. âIch kannâs nicht so einfach herunterlesen. Manches ist ziemlich hoch.â
Er nahm ihr das Buch aus der Hand und blĂ€tterte darin. âSie interessieren sich fĂŒr so etwas? Alle Achtung!â
âIch interessiere mich eigentlich fĂŒr allesâ, behauptete Helga. Obwohl er sie nicht ansah, hatte sie das GefĂŒhl, daĂ er sich ĂŒber sie amĂŒsierte, und sie fĂŒgte hastig hinzu: âSie lachen. Es klingt so entsetzlich ĂŒberheblich. Aber ich fĂŒhle mich von allem, was in der Welt vorgeht, betroffen, und finde es faszinierend und spannend.â
âIch lache Sie keineswegs aus, Helgaâ, erwiderte er mit seltsam sanfter Stimme. âIch habe schon öfter bemerkt, daĂ Sie ungewöhnlich wach und intelligent sind, und das gefĂ€llt mir an Ihnen.â Sein Lob berauschte sie und machte sie gleichzeitig verlegen. âAlle in unserer Klasse sind soâ, behauptete sie, âwir diskutieren ĂŒber die unmöglichsten Themen.â Sie stand auf. âAber ich muĂ jetzt gehen.â
âSchon?â
Helga traute ihren Ohren nicht. Sie hatte sich immer fĂŒr ein nĂŒchtern denkendes MĂ€dchen gehalten. Aber jetzt kam es ihr tatsĂ€chlich so vor, als ob Dr. Jung sich fĂŒr sie interessierte. Oder hatte Yvonnes ĂŒberspannte Phantasie sie angesteckt?
Er gab ihr das Buch zurĂŒck. âIch hĂ€tte gerne mit Ihnen ĂŒber Ihren Aufsatz gesprochen. Kommen Sie, machen Sie mit mir einen kleinen Bummel durch den Park, soviel Zeit werden Sie schon noch haben.â
âDoch, gerneâ, antwortete sie nach kurzem Zögern glĂŒcklich.
Sie gingen ein paar Schritte nebeneinander her, und da sie immer nur ihn anschauen muĂte â sein mĂ€nnliches Profil mit der markanten Nase und der breiten Stirn â, stolperte sie plötzlich ĂŒber eine Baumw...