Ein Zeitalter wird besichtig
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Ein Zeitalter wird besichtig

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Ein Zeitalter wird besichtig

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Über dieses Buch

Literaturwissenschaftler Walter Dietz beschreibt diese Memoiren als eine "der bedeutendsten Autobiografien unserer Zeit": In seinen Memoiren, die Heinrich man im kalifornischen Exil geschrieben hat, beschäftigt sich der Autor nicht mit seiner eigenen Lebensgeschichte, sondern präsentiert Kurzporträts von Personen der Zeitgeschichte. Das Werk greift zurück bis hin zur Französischen Revolution, wirft einen genauen Blick auf das "Umfängliche Phänomen" Napoléon, setzt sich mit dem wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik auseinander und beschreibt die eigens von Mann durchlebte Zeit des Nationalsozialismus als Emigrant bis hin zur absehbaren Zerstörung des Großdeutschen Reiches. -

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Information

Achtes Kapitel.

Die Gefährten
Die äußeren Schicksale, die vielleicht den Bericht verdienen, sind die Folgen der inneren. Die Freunde, die man hat, kennzeichnen uns. Wie mein Bruder, wir waren beide jung, im gelegentlichen Überdruß sagte: »Unsere Freunde sind nicht unsere beste Seite.« Mehrere waren aber unsere allerbeste, oder verpflichteten uns gerade zu ihr.
Zufälle, die es gewiß nur scheinbar waren, verbanden mich mit wenigstens zwei ganz ungewöhnlichen Geschäftsleuten. Der Kunsthändler Paul Cassirer war mir gegenüber ein Kenner mehr als ein Kaufmann. Buchverleger wurde er erst an mir – wäre es auch an Frank Wedekind geworden, aber der Dramatiker erwiderte ihm: »Herr Cassirer, mit einem einzigen Bild verdienen Sie mehr, als meine sämtlichen Werke Ihnen jemals einbringen können. Sie werden die Lust verlieren.«
In Wirklichkeit behielt er bis zum Kriege das Vergnügen an den auffallenden Werken des Friedens. Seine eigennützige Absicht war allein der Ruhm, an ihnen teilzuhaben. Fünf Jahre, von 1910 bis 1914, bezahlte er meine längst vorliegenden Leistungen reichlich, ohne auf Gewinn oder nur Ersatz zu achten. Seine Sicherheit war »Der Untertan«; indessen konnte der fertige Roman aus Gründen des öffentlichen Geschehens noch lange nicht erscheinen.
Als seine Zeit kam, hatte ein ebenso ungewöhnlicher Buchhändler, mit Namen Georg Heinrich Meyer, plötzlich alles bekanntgemacht, was ich seit 1900, fünfzehn Jahre lang, geschrieben hatte. Die bisherigen Erfolge bei Eingeweihten verwandelten sich unversehens in Publikums-Schlager – was nicht lange vorhält und an einer Bestimmung nichts ändert. Einige Autoren bleiben, mit siebzig Jahren wie mit dreißig, wesentlich auf junges Volk angewiesen, eine bewegliche Auslese Junger und Nichtgealterter. Nur muß die gewalttätige Zeitgeschichte einen Teil der Generationen am Leben, sogar geistig am Leben gelassen haben. Dann dauert günstigenfalls auch der Autor.
Vorkriegsphänomene, sie gehören einem seither verlassenen Zustand: der bürgerliche Mäzen für hochgesittete Luxusexistenzen. Er übervorteilte den einen oder den anderen Maler – nach der Ansicht der Maler, die aber ihre ungewöhnlichen Preise nicht ohne ihn erzielten. Dafür saß auf einmal in seinem Wohnzimmer ein bärtiger Mann mit rauher Joppe und Wasserstiefeln, für die auch Grund war. Er war aus seinem märkischen Dorf über Weg und Steg gewandert, bis an die Kleinbahn nach Berlin. Er hieß Ernst Barlach.
Er schrieb, ländlich wie er anzusehen war, die seltsamsten aller Theaterstücke, etwas zu großstädtisch, hätte man sagen können, für die Avantgarde der Theaterstadt. Er wurde wenig gespielt, auf einen Platz für sich allein verwiesen, und hatte zu leben, weil Paul Cassirer, ein gewitzter Mann wie andere, dennoch auf seine Art unschuldig trotz einem Barlach war. Er konnte lieben. Er liebte über sich hinaus. Viele hassen, was sie übertrifft. Darum mußte, als Hitler kam, Ernst Barlach Hungers sterben. Bäcker und Krämer in seinem Dorf verkauften ihm kein Stück Nahrung mehr.
Vorher hatten sie ihn halbwegs geachtet, da sie hörten, daß die Juden von Berlin ihm seinen erdichteten Unsinn abnahmen. Die Zeit der Juden war nunmehr zu Ende. Wer, ungeachtet seiner Wasserstiefel, von so fremder Art war, daß nur jüdische Liebhabereien ihn durchhielten, wurde alsbald verleugnet und auf den Friedhof geschickt. Diese Primitiven erwarben das Verdienst klarzulegen, wer mit Hitler wirklich zur Herrschaft kam – mit Weltanschauung, Rasse, revolutionärem Gefasel und bluttriefender Dummheit. Die ganze Macht den Banausen!

Frank Wedekind

Die andere Vorkriegserscheinung ist das Warten. Wir mußten es. Wir konnten es. Frank Wedekind sagte mir, daß er auf den großen Erfolg seiner Stücke fünfzehn Jahre gewartet habe. Genau die Zeit war auch mir verordnet. Wedekind, um sieben Jahre älter als ich, hat die erste Generation seiner Leser schlechthin berauscht. Er erzeugte, in einem hin, Grausen und Gelächter. Ich weiß deutlich, wie ich im Münchner Hofgarten seine »Büchse der Pandora« las, den Abtanz und gräßlichen Tod seiner Lulu.
In dieser ersten Fassung des Stückes, um 1902, war ein Akt deutsch, einer französisch; im dritten, mit Jack dem Aufschlitzer, sprach man englisch. Woraus sogleich zu sehen, daß vorläufig mit der Aufführung nicht gerechnet wurde. Der Wedekind, der noch nicht oft im Rampenlicht stand, war eine Legende, über keinen anderen derselben Epoche liefen so viele Anekdoten um, damals unverbürgt, jetzt vergessen.
Seine menschlichen Beziehungen galten für nicht geheuer; tiefste Ironie und eine äußerste Launenhaftigkeit, sollten sie gefährlich machen. Ich vermutete einen leidenden Menschen, die ganze Fröhlichkeit und Harmlosigkeit des Produktiven ging wohl in seine tägliche Szene ein. Er schrieb sie am Abend in dem lärmenden Lokal der »Torggelstube«. Nach getaner Arbeit nahm er in dem stilleren Nebenraum den Vorsitz seines Stammtisches ein.
Abseits der Tafel trank auch ich zuweilen den säuerlichen Tiroler Wein, eigentlich wohl als das Opfer für einen einzigen Gast. Plötzlich stand er vor mir und sprach, mir scheint, ohne Anwendung seines Bühnenorgans: »Wir sind doch nicht dazu da, immer umeinander herumzugehen.« Sogleich wechselte ich ein für alle Male an seinen Tisch hinüber, und wir waren Freunde, als hätten wir uns immer gekannt. Hieran zweifelten weder er noch ich, weshalb wir es nicht erwähnten.
Ich habe in meiner Erinnerung niemand, der sein öffentlich getragenes Wesen so sehr ablegte, um mir nahezukommen. Meiner Natur war es nicht gegeben, das äußere Verhalten zu ändern: Die Gefühle aber, die zugrunde lagen und ihm sicher waren, begriff sein gequälter Geist, der Ruh' und Sicherheit brauchen konnte. Ich habe ihn nie herausgefordert. Er hat nie versucht, mich zu demütigen. Diese spannenden Äußerungen der Freundschaft ließen wir, ohne besondere Verabredung unbenutzt.
Der Krieg kam, unsereiner entwöhnte sich der Öffentlichkeit, da trank er gern seinen Wein bei mir. In meinem Arbeitszimmer, das 1916 allein noch geheizt wurde, saß er am Ofen. Der Dramatiker sah Personen, nicht Gegenstände; nach einiger Zeit bemerkte er dennoch ein Bild, gleich neben seinem Platz. Es war ein alter Kupferstich, eine italienische Prinzessin des Cinquecento, die Haare aufgestellt über der Stirn, das Gesicht wurde dadurch besonders streng und rein. »Ist das nicht –?« fragte er. Ich antwortete: »Gewiß.« Denn es war seine Frau, die ganze Lust und alles Leid des Alternden.
Sterbend hat er sich auf seine Art von ihr verabschiedet. Das letzte Glas Champagner nahm er aus ihren Lippen. Sein Begräbnis zog ganze Volksmengen an, der unkundigste Münchener hatte wenigstens einmal auf der Galerie gesessen, wenn der Dichter sich selbst gab; oder auch das nicht, sondern sie drängten sich zu dem letzten Auftreten eines, der nicht stirbt.
Die literarische Unsterblichkeit war eine seither untergegangene Tatsache. Ich spreche vom Jahr 1918; den ersten seiner Kriege hatte das Jahrhundert bald hinter sich gebracht. Schon um dieselbe Zeit seufzte ahnungsvoll eine ländliche Wirtin, die mich gelesen hatte: »Ja, ein Schriftsteller, das war auch etwas.« Die Frau nahm vorweg, was wenig später der scheidende France zur Erinnerung sprach: Die Zeiten, die bald kommen, werden von uns nicht wissen, Abgründe tun sich auf, nichts führt die Nachfahren zu uns zurück.
Sehr möglich, daß nur eine Eklipse gemeint war. Nach Verfinsterungen des Gestirns wird es trostreicher leuchten. Für einen Geist wie Wedekind war es eine Vereinfachung seines Lebens, wenn es unmittelbar vor der großen Finsternis abbrach. Er hing mit Leidenschaft an der literarischen Unsterblichkeit – und an der anderen. Die geistigen Anstrengungen des Menschen empfand er lückenlos fortgesetzt: er selbst hatte dazu beigetragen, daß sie als Kette verlaufen. Er erneuerte den Ton von Balladen des großen Schiller. Der revolutionäre Dramatiker Georg Büchner wurde wiederentdeckt und fortgesetzt von Frank Wedekind. Die »Menschenwürde« tragisch zu behaupten, war einzig ihm gegeben.
Seine Haltung war vollendetes 19. Jahrhundert: der Glaube an die immer belohnte Arbeit, an den Aufstieg vermöge »Entwicklung«, durch redliche Ausdauer. Welch ein wahrhaft reiner Dankbrief an seine Mutter, daß sie ihm das Leben geschenkt, ihm mitgegeben habe, was er nunmehr sei! Je mehr moralischer Empörer, um so ehrfürchtiger vor jeder Tradition. Seine gewagten Probleme kleiden sich in überlieferte sprachliche Formen, die Indezenz sogar ist um Klassizität bemüht.
Nach außen – um Gottes willen kein Leugner und Entweiher, vielmehr fest an bestehendes Herkommen gebunden. Als er berühmt war, empfing ihn, mit anderen Schriftstellern, der König von Württemberg – unter vier deutschen Königen einer. Die anderen Schriftsteller behielten denn auch den Kopf oben. Wedekind verneigte sich bis zu seinen Knien hinab – ihm war es wohl dabei, dem König weniger. Kein Zweifel, daß Wedekind, der abgründige Mann, ihn herausgefordert, die Majestät herausgefordert hat: »Seien Sie, wie ich, in allem Ernst, was Sie vorstellen!«
Er ist tot. Ein absonderlicher Verehrer des Alten (der selbst etwas Neues macht), könnte sich auch schwer zurechtfinden in dem Deutschland, wo es Bomben regnet; um so schwerer, wenn er sagen hört, die Niederlegung der alten Städte sei eigentlich ein Glück. Die reihenweise verschwundenen Häuser – ungewiß, welche schon fehlen, ob das Dürerhaus, das Goethehaus, die um fünfhundert Jahre älteren Dome –, aber diese, mitsamt den Museen und ihren Andenken, mitsamt den Bischofs- und Fürstensitzen, die noch lebendig vom Gewesenen zeugten, alles sei leicht zu missen.
Vielmehr sei die Zerstörung erwünscht gewesen. Sie schaffe Raum für den Aufbau moderner Arbeits- und Wohnstätten der Massen, die Inhalt und Beruf der nationalsozialistischen Zukunft seien. Hier fällt erstens auf, daß der Nationalsozialismus sich eine Zukunft zutraut. Dann, daß er meint aufbauen zu können. Er war gekommen, niederzureißen. Auch die fremden Fliegerbomben sind von ihm herbeigerufen. (Wie habe ich gezittert, daß er sie auf Rom lenke! Wie zittere ich in diesem Augenblick, er möchte sie auf Paris lenken. Dies – und das übrige – liegt längst nicht mehr im Begriff eines Traditionalisten, wie der Empörer Frank Wedekind einer war.)
Noch merkwürdiger, wenn möglich, ist die nationalsozialistische Huldigung an die Massen seiner rechtlosen Zwangsarbeiter. Ihnen wird ohne Warnung eröffnet, daß der Kapitalismus nicht mehr existiere, daher mit Recht auch seine schönen Städte nicht mehr. Sie müßten in Wirklichkeit bemerkt haben, daß bei ihnen zulande der Kapitalismus auf seine gewagte Messerschneide gestellt worden war. Reich, nur der Führer mit seinen Leuten, ein Monsterkonzern, der unbegrenzte Grundbesitz. Übrigens Bettler, die arbeiten dürfen, bis sie krank sind, und einmal krank, naht die Vergasung.
Wer Menschen gar nicht anerkennt, nur Objekte des Mißbrauchs und der Vernichtung, wie sollten ihn die schönen, alten Städte rühren. Die Menschen, das Geschlecht und die Vernunft der Menschen bewegen ihn eher zu hassen als zu ehren: Wozu dann die alten Zeichen eines Könnens, das von je gemacht war aus Geist und Sexus. Fort mit den Denkmalen! Die Führer sind Banausen, die Angeführten sollen kaum noch lesen, gewiß nicht sehen lernen.
Die – radiographisch verbreitete – Genugtuung über die bevorstehende Verwandlung eines ehrwürdigen Landes in den nackten Kasernenhof zwischen Zement und Eisen würde dem deutschen Nachwuchs kein Unbehagen machen: er hat keine Erinnerungen, seine Welt beginnt bei Hitler. Indessen ist da der Hinblick auf das auch nicht gerade zurückgebliebene Sowjetvolk. Jedes Bild zeigt, welche Kulissen dort die arbeitenden Massen umgeben.
Die ausgeplünderten Bibliotheken werden alsbald neu aufgefüllt. Der uralte Kreml steht aufrecht, die zahllosen Kuppeln von Moskau prägen den wachen Sinn moderner Arbeiter: einstmals empfingen sie die scheue Liebe frommer Pilger. In dem ehemaligen Sankt Petersburg bevölkert eine gleichförmig mittlere Menge den Newa-Prospekt, der alles andere als bescheiden ist. Das Winterpalais, schwer und feierlich wie je, die Eremitage, deren mächtige Quadern behaupten: Auch wir! Auch wir sind Europa, einige der höchsten Kunstwerke unseres Erdteiles sind hinter diese Mauern gerettet. Sie sind nunmehr Volksbesitz.
Anzunehmen ist, daß diese Säle am Sonntag von ihren Besitzern übervoll sind. Sie waren einsam, als ich, mit dreizehn Jahren, hineingeführt wurde. Mehr als die Rembrandts interessierten mich damals der Schlitten Peters des Großen und der goldene, radschlagende Pfau, den Mentschikoff seiner Zarin gewidmet hat. Kommt eins nach dem anderen. Die kleinen Soldaten, die in Florenz die Bildergalerie des Palazzo Pitti besichtigten, verstanden so viel wie ich und wahrscheinlich mehr: aus ihrem Blut war dies geschöpft.
Leningrad, die erste Kapitale, die das junge Kind einer alten deutschen Kleinstadt voreinst besucht hat, bleibt ihm nach langen Zeiten die überlebensgroße Erinnerung. »Umarme die Säule!« sagte mein Onkel auf den Stufen der Isaakskirche. Als ich meine Arme an sie gelegt hatte, faßte ich von ihrem Umfang so gut wie nichts.
Dieses eigene »so gut wie nichts« war eigentlich immer mein inneres Verhältnis zu den überdimensionalen Schöpfungen. Ich empfand es, so oft ich hinkam, vor der Place de la Concorde, in dem Halbrund der Kolonnaden, die auf den Petersdom vorbereiten: er wäre ohne sie zu gewaltig. Mein Gefühl war das gleiche auf dem Parvis von Notre Dame, mit dem berittenen Charlemagne, wie angesichts der Santissima Annunziata in Florenz, die von zierlichen Maßen, dennoch an Vollendung ungeheuer ist. Auch unter den Linden.
Auch in Berlin die Straße Unter den Linden, vom Brandenburger Tor zum Friedrichsdenkmal, hat bis zuletzt meine Ehrfurcht erregt. Jahre kamen, da ich aus der Akademie der Künste hinuntersah: ich war deshalb nicht mehr geworden, die Avenue nicht weniger. Ob vor fünfzig Jahren oder nur seit fünf, gekommen war ich aus dem kleinen, alten Haus einer Stadt unfern der See. Seine Trümmer sind aus den Bombengruben kürzlich weggeräumt. Übrigens sah ich den Ort das letzte Mal mit zweiundzwanzig Jahren.
In mir übrig ist die Überlieferung allein, aber mein Lebensgefühl trägt ihre Spur. Offenbar wäre ich nicht der Mann gewesen, in Berlin die historischen Linden abzuhauen – nicht einmal technische Gründe haben es entschuldigt. Ein nach allen Richtungen offenes Land, das meine, hätte ich nicht gerade den Luftangriffen der ganzen Welt ausgesetzt, um nachher den Deutschen ihr Glück zu rühmen: Nichts mehr da, Heil!
Die Deutschen lassen es sich sagen, mit anderem der Art, obwohl sie bemerken müssen: hier ist eine Grenze erreicht. So viel und wenig wie die gefallenen Städte waren demnach ihren Herren die Millionen gefallener Menschen wert. Platz gemacht! Wer nicht mehr lebt, ist keine Gefahr für uns. Tote verlangen nicht, daß wir die menschliche Lage verbessern. Falls in Deutschland, trotz dem Verbot zu denken und aller irrationalen Erziehung entgegen, noch eine Idee aufkäme, sollte es diese sein: sehr eng verbunden ist die Erneuerung unseres Wohles mit der Achtung unserer Tradition.
Mein innerster Zusammenhang mit Frank Wedekind war, daß wir einiges Gewesene für unser Bestes hielten. Der Überlebende neigt sich vor ihm, ernst, wie er selbst vor dem König von Württemberg. Als ich aber in Amerika landete, rief auf der Treppe des Hafens eine Stimme mich an: seine Tochter Kadidja. Soviel Zuneigung zu finden bei den Kindern! Daran erkenne ich ihn.

Mein Bruder

Als mein Bruder nach den Vereinigten Staaten übersiedelt war, erklärte er schlicht und recht: »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.« Wirklich erfassen wir erst hier die Worte ganz: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!« Das ist unser mitbekommener Inhalt an Vorstellungen und Meinungen, Bildern und Gesichtern. Sie ändern sich im ganzen Leben nicht wesentlich, obwohl sie bereichert und vertieft werden. Endlich sind sie an keine Nation mehr gebunden.
Unsere Kultur – und jede – hat die Nation unserer Geburt als Ausgang und Vorwand, damit wir vollwertige Europäer werden können. Ohne Geburtsstätte kein Weltbürgertum. Kein Eindringen in andere Sprachen, Literaturen gar, ohne daß gleichzeitig unser angeborenes Idiom, gedruckt und mündlich, von uns erlebt worden ist bis zur Verzweiflung, bis zur Seligkeit. Anfangs seiner zwanziger Jahre war mein Bruder den russischen Meistern ergeben, mein halbes Dasein bestand aus französischen Sätzen. Beide lernten wir deutsch schreiben – erst recht darum, wie ich glaube.
Ihn sehe ich an meiner Seite, wir beide jung, meistens auf Reisen, zusammen oder allein: an nichts gebunden – hätte man gesagt. Man weiß nicht, wieviel unerbittliche Verpflichtung ein Gezeichneter, der sein Leben lang hervorbringen soll, als Jüngling überall hin und mit sich trägt. Es war schwerer, als ich mir heute zurückrufen kann. Später wäre der Zustand der Erwartung unerträglich gewesen. Wir bedurften der ganzen Widerstandskraft unserer Jugend.
Ich möchte nicht zu weit vordringen; die Untersuchung eigener Schmerzen habe ich damals, aus Furcht, sie für immer festzulegen, auf bessere Zeiten verschoben. Die guten Zeiten kommen nie, aber mit den Schmerzen, die übrigens in reicher Auswahl wechseln, auszukommen lernen, ist eigentlich die Lehre, wie man lebt. Mein Bruder verstand dies früher als ich.
Wir stiegen, nach der Hitze des Sommertages, von unserem römischen Bergstädtchen – zehn Jahre darauf die Dekoration meiner »Kleinen Stadt« – auf die Landstraße hinab. Vor uns, um uns hatten wir den Himmel aus massivem Gold. Ich sagte: »Die byzantinischen Bilder sind gold-grundiert. Das ist kein Gleichnis, wie wir sehen, es ist eine optische Tatsache. Nur noch der schmale Kopf der Jungfrau, und ihre viel zu schwere Krone, die aus ihrem plastischen Zenith unbeteiligt niederblicken!« Meinem Bruder mißfiel die Schönseligkeit. »Das ist der äußere Aspekt«, sagte er.
Niemals ließ er seinen kleinen Hund zu Hause. »Sollen wir wirklich allein gehen?« fragte er, wenn Titino nicht zur Stelle war. Wir hatten ihn auf einem Heuhaufen gefunden. Sein Gehaben in allen Lagen, die Äußerungen seiner kleinen Instinkte, dieselben wie unsere, nur unbefangener, es gewährte ihm Trost und gab ihm Unterricht. Titino, der Realist, war eine muntere Berichtigung, wenn das junge Gemüt seines Herrn sich verdüstern wollte.
Die beste Gegenkraft hieß »Buddenbrooks, Verfall einer Familie«. In unserem kühlen, steinernen Saal, auf halber Höhe einer Treppengasse, begann der Anfänger, mit sich selbst unbekannt, eine Arbeit, – bald sollten viele sie kennen, Jahrzehnte später gehörte sie der ganzen Welt. In dem Entwurf, den er unternahm, war es einfach unsere Geschichte, das Leben unserer Eltern, Voreltern, bis rückwärts zu Geschlechtern, von denen uns überliefert worden war, mittelbar oder von ihnen selbst.
Die alten Leute haben bedachtsamer als wir ihre Tage gezählt, sie führten Buch. Die Geburten im Familienhaus, ein erster Schulgang, die Krankheiten und was sie die Etablierung ihrer Kinder nannten, Eintritt in die Firma, Verheiratung, alles wurde schriftlich aufbewahrt, besonders eingehend die Kochrezepte, mit den erstaunlich niedrigen Preisen der Lebensmittel – die Urgroßmutter klagte dennoch über Teuerung. Diese Dinge waren, als wir einander daran erinnerten, hundert Jahre vergangen, unsere miterlebten keine zehn.
Wenn ich mir die Ehre beimessen darf, habe ich an dem berühmten Buch meinen Anteil gehabt; einfach als Sohn desselben Hauses, der auch etwas beitragen konnte zu dem gegebenen Stoff. Hätte aber hinter uns ein abgeschiedener Herr gestanden im gestickten Kleid, mit gepudertem Haar, er hätte mehr als ich zu sagen gehabt. Der junge Verfasser hörte hin: die Einzelheiten der Lebensläufe zu wissen war unerläßlich. Jede forderte inszeniert zu werden. Das Wesentliche, ihr Zusammenhang, die Richtung, wohin die Gesamtheit der Personen sich bewegte – die Idee selbst gehörte dem Autor allein.
Nur er begriff damals den Verfall; erfuhr gerade durch seinen eigenen, fruchtbaren Aufstieg, wie es geht, daß man absteigt, aus einer zahlreichen Familie eine kleine wird und den Verlust eines letzten tüchtige...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Erstes Kapitel.
  4. Zweites Kapitel.
  5. Drittes Kapitel.
  6. Viertes Kapitel.
  7. Fünftes Kapitel.
  8. Sechstes Kapitel.
  9. Siebentes Kapitel.
  10. Achtes Kapitel.
  11. Neuntes Kapitel.
  12. Zehntes Kapitel.
  13. Elftes Kapitel.
  14. Zwölftes Kapitel.
  15. Dreizehntes Kapitel.
  16. Vierzehntes Kapitel.
  17. Fünfzehntes Kapitel.
  18. Sechzehntes Kapitel.
  19. Siebzehntes Kapitel.
  20. Achtzehntes Kapitel.
  21. Neunzehntes Kapitel.
  22. Über Ein Zeitalter wird besichtig