Der Vitapalast
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Der Vitapalast

  1. 221 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Drei Generationen leben in der Frohweinvilla mit ihrem großen Garten. Das Berlin der goldenen Zwanziger wĂ€chst, hinter der Villa eröffnen lauter neue GeschĂ€fte und auch das Kino will sich vergrĂ¶ĂŸern. Kinobesitzer Berstel spricht im Frohweinhaus vor, mit einem glĂ€nzenden Angebot in der Tasche und fertigen PlĂ€nen seines Sohns, des jungen Architekten Bruno. Der große Vitapalast soll auf dem GartengrundstĂŒck entstehen und tatsĂ€chlich verkauft der alte Frohwein schweren Herzens angesichts der finanziellen Lage der Familie. Tochter Inge versteht ihren Großvater. Zornig versucht sie bei einem Besuch der Berstels, den Verkauf rĂŒckgĂ€ngig zu machen, obwohl fasziniert vom Modell des Kinos und heimlich auch von Bruno. Doch ihr Vater und ihre lebenslustige Schwester Etta, die auf dem Familiengut in Rechstein vor den Toren Berlins versauert, sind hingerissen von der neuen Welt des Films. Bis der Kinopalast öffnet, ist das Leben dieser liebenswerten Familie auf den Kopf gestellt und nichts ist mehr so, wie es einmal war.-

HĂ€ufig gestellte Fragen

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Information

Jahr
2016
ISBN
9788711488515
Friedrich Frohwein schob den Teller nach der Mitte des Tisches zu und breitete seine Serviette zwischen Teller und Tischkante aus, um sie unter energischem Glattstreichen sorgfĂ€ltig zusammenzufalten. Er liess das Tuch in den silbernen Ring gleiten, drehte die weisse Rolle noch ein paarmal in den HĂ€nden und legte sie endlich neben den Teller, den er wieder an seinen alten Platz zog. Ein wenig lehnte er sich im Armstuhl zurĂŒck, nestelte sein Zigarettenetui aus der Westentasche, verbeugte sich leicht gegen seine Tochter: „Darf ich rauchen?“
„Bitte, Papa, ich hole dir einen Aschbecher.“
Inge Frohwein stand auf. Die Bewegung war kurz und federnd, ohne hastig zu sein. Sie schritt am Vater vorbei zur TĂŒr, die vom Esszimmer ins Herrenzimmer fĂŒhrte, schob die FlĂŒgel auseinander und ging in den unerleuchteten Raum. Sie fand den Platz der Aschenschale auch im Dunkeln; sie sorgte ja dafĂŒr, dass sie immer an der gleichen Stelle stand.
Die Augen des Vaters folgten ihr. Ein wenig kniff er die Lider: ‚Guter Gang, gute Beine,‘ dachte er, ‚sie ist jetzt aus der letzten Streckung heraus. Ganz erwachsen. MerkwĂŒrdig, wie schnell das mit den beiden MĂ€dels gegangen ist; — mit beiden. Trotz der acht Jahre Altersunterschied. Und mit Inge fast noch schneller als mit Etta.‘ Er strich sich langsam ĂŒber das volle Haar, als wollte er die paar grauen StrĂ€hnen beiseite schieben. ‚Ich muss nun wohl langsam anfangen, alt zu werden. Das ist nicht schön. Wirklich nicht. Grossvater ist man auch schon. Hm —’
Die Zigarette brannte. Behaglich zog er den Rauch ein und blies ihn ĂŒber die BrandflĂ€che, dass sie stĂ€rker aufglĂŒhte.
Inge kam zurĂŒck. Die Aschenschale war aus Kristall und hatte einen breiten silbernen Rand. Friedrich Frohwein warf das Streichholz auf den Teller, lĂ€chelte, nahm es wieder auf und legte es mitten in den glĂ€sernen BehĂ€lter, mit spitzen Fingern. Dabei blinzelte er seiner Tochter zu. „Siehst du, Kleines, beinahe hĂ€tte ich wieder etwas Verbotenes getan. Etwas, was mein MĂ€del nicht leiden kann. Leutnantsangewohnheiten nannte Mama das. Du hast doch viel von ihr.“
„Das freut mich.“
„Auch Ă€usserlich, meine ich. Dasselbe blonde Haar. Fast die gleiche Augenfarbe, nur dass Mamas Augen noch tiefer blau waren. Nicht so vergissmeinnicht. Und ein bisschen rundlicher war Mama, als sie so alt war, wie du jetzt. Neunzehn. Da lernten wir uns gerade kennen. Auch hier im Haus. Mutter — Grossmutter, weisst du, — gab einen Ball fĂŒr Tante Hedda ...“
„... und da waren Fehrenbachs auch eingeladen. Vier Wochen spĂ€ter war die Verlobung, ein halbes Jahr darauf eure Hochzeit. Ich weiss, Papa.“
„Ja, ich erzĂ€hlte es dir wohl schon.“
„Mama hat es uns oft erzĂ€hlt. Etta und mir. Als wir noch Kinder waren.“ Es zuckte ein wenig um Inges Mundwinkel. Sie stand noch immer, ihre HĂ€nde lagen auf der Lehne ihres Stuhles; lange, schmale HĂ€nde waren es mit kurz geschnittenen NĂ€geln, sie fassten das Holz fest an, so fest, dass die Fingerspitzen weiss wurden. Sie sprach nicht gern so leichthin von Mama, das tat weh. Sie musste dann immer die zwölf Jahre zurĂŒckdenken, die sie nun ohne Mutter verbracht. Halbwaise. Und ernst konnte sie eigentlich mit niemand von Mama sprechen. Nicht einmal mit Etta. Etta war wie Papa. Etta dachte immer zuerst an sich, dann erst an ihren Jungen und ihren Mann. Und an sie, die Schwester, wohl nie. Oder doch nur selten. Wenn sie etwas wollte. Dann ja. Mit Grosspapa oben, ja mit dem konnte Inge von den vergangenen Zeiten sprechen; aber er war wohl der einzige. Bei ihm hing auch das grosse Bild von Mama, das sie so liebte. Das feine Gesicht mit der edlen, schmalrĂŒckigen Nase, die Etta geerbt hatte. Nur dass Etta brĂŒnett war. Schön war Mama gewesen. Wunderschön. —
Friedrich Frohwein drĂŒckte den Rest seiner Zigarette aus. Er sah zu seiner JĂŒngsten hinĂŒber. „Weisst du, Inge, was der Kerl, der Fontane, einmal in einem Roman schreibt? ‚Ein schöner alter Mann von fĂŒnfzig Jahren trat in das Zimmer!‘“
„Wie kommst du darauf, Papa?“
„Ich weiss nicht. Ich meine nur so: Schöner alter Mann von fĂŒnfzig Jahren. Alter Mann! Muss eine putzige Zeit gewesen sein damals.“ Er lachte, kurz, hell, richtig vergnĂŒgt. Beide HĂ€nde stĂŒtzte er auf die Tischplatte, erhob sich, rĂŒckte den Stuhl zurecht, zog seine Uhr. „Also kommst du mit, MĂ€del? In einer Viertelstunde geht’s los. Grossartiger Zauber. Hab’ mir die Bilder im Kasten angesehen. Harry Liedtke im Turban, Erna Morena als indische FĂŒrstin (FĂŒrschtin, sagte er), dazu Tempelbauten, Elefanten, schöne Landschaftsbilder. Herz, was willst du noch mehr?“
„Ich mach’ mir nichts aus Kino.“
„Ach was.“
„Und dann bin ich mĂŒde. Es war heute ein anstrengender Tag. Doktor Lorenz hatte erst eine Konferenz, dann hat er mir das Protokoll diktiert, fast zwei Stunden. Als er endlich fertig war, musste ich es noch ins reine schreiben. Da fĂŒhlt man seinen RĂŒcken.“
„Die blödsinnige Tipperei. Du hast’s doch nicht nötig.“
„Ich hab’s nötig, Papa.“
„Unsinn. Ich kann dir genug geben. Und geb’ dir genug. NatĂŒrlich ist’s nicht wie frĂŒher. Aber es ist nirgends wie frĂŒher. Leider. Ihr könntet es ja anders haben, aber ihr wollt es ja nicht. Du nicht und Grossvater nicht. Ihr mĂŒsst ja diesen blödsinnigen alten Kasten halten.“
„Papa!“ Scharf rief es Inge.
Sofort lenkte er ein. „Ich weiss ja — ich weiss ja. Tradition. Alte Liebe zum Ererbten.“ Er trat an die Tochter heran, legte seinen Arm um sie. Jetzt wirklich mit einer liebevollen Bewegung. Fast einen Kopf grösser war er als Inge, schlank wie sie. Sehr gerade hielt er sich, sehr jugendlich. Wenn er so neben ihr stand, hĂ€tte er ebensogut ihr Mann sein können. Eine Reiterfigur hatte er immer noch, obwohl er den Sechzigern nĂ€her war als den FĂŒnfzig. Sein blauer Sakko sass tadellos. Tadellos gebĂŒgelt war die Hose. Der hellila Schlips war richtig zum farbigen Hemd abgetönt, das Haar war sorgfĂ€ltigst gescheitelt, das gut rasierte Gesicht zeigte kaum ein FĂ€ltchen. Er zog Inge an sich. „Sei kein Frosch, MĂ€del. Komm mit. Glaubst du, ich mach’ mir was aus dem Film in dem kleinen Kaff? Nee. Aber lesen kann ich heut abend nicht. Hab’ auch nichts VernĂŒnftiges. Zeitung ist ekelhaft. BĂŒcher sind teuer. Und fĂŒr dich ist es auch nur gut. Nirgends ruht man sich besser aus als im Kino. Braucht nicht nachdenken, es ist schön still, keiner quasselt, die Musik dudelt so nebenbei. Und nachher schlĂ€ft man wie in Abrahams Schoss.“
Inge sah zum Vater auf. Sie war schon wieder versöhnt. Sie liebte doch ihren jungen grossen Vater, fĂŒr den sie eigentlich sorgen musste wie fĂŒr einen Bruder. Und manchmal auch ein bisschen erziehen wie einen Bruder. Aber sie wehrte sich noch einen Augenblick.
„Etta hat geschrieben. Ich wollte ihr noch antworten.“
„So, — so, Etta. Was schreibt sie denn? Kannst es mir auf dem Weg erzĂ€hlen. Nun marsch, marsch, ’raus! Hut brauchst du nicht aufzusetzen. Es sind ja nur hundert Schritt bis zur Ecke. Nett von dir, dass du mich nicht allein laufen lĂ€sst.“
Er gab ihr einen Kuss und stob davon. Forsch, fix. Wie ein Junge.
Inge lĂ€chelte. So war Vater, man konnte letzten Endes nie nein sagen. Eine TĂŒr klappte, seine SchlafzimmertĂŒr. Jetzt holte er sich Hut, Mantel und Stock. Schnell, schnell, um nur nicht zu spĂ€t zu kommen zu Harry Liedtke und Erna Morena. — Ja, der Vater ... Papa.
Sie griff zur Klingel, die aus dem grossen Glockenschirm der Esstischlampe herabhing.
Das MĂ€dchen kam.
„Decken Sie bitte ab, Gertrud. Und sagen Sie dem alten Herrn Frohwein, dass ich nicht hinaufkommen könnte. Ich wĂ€re mit Herrn Rittmeister in die Schöneberger Lichtspiele gegangen.“
*

Der Film, „Das Schloss in Indien“, flimmerte ĂŒber die Leinwand. Erna Morena wandelt perlenbehĂ€ngt durch pappene Prunkbauten, umworben von Harry Liedtke, dem als Maharadscha verkleideten EuropĂ€er. Er war sehr schön, und das Stammpublikum des kleinen Eckkinos schwelgte zwischen Lachen und Weinen.
Aber mehr im Lachen. Das war heute besonders herzhaft, wie immer, wenn der Rittmeister Frohwein da war, der mit seinem breiten, lauten und schĂŒtternden „Haha — haha!“ die anderen mitzureissen verstand. Sie kannten den Rittmeister, die StammgĂ€ste. Die Gegend hier war ja ein StĂŒck Kleinstadt mitten im grossen Berlin geblieben, hier auf dem Urgrund des alten Dorfes Schöneberg. Kleinstadt trotz der vier- und fĂŒnfstöckigen HĂ€user, die die alte Dorfstrasse schon seit Jahrzehnten sĂ€umten. Kleinstadt trotz des Riesenverkehrs, der sich zwischen den HĂ€usern entlang wĂ€lzte. Kleinstadt, in der einer vom anderen wusste, weil man in den gleichen LĂ€den kaufte und den gleichen Postboten hatte und echt schönebergisch gern sein SchwĂ€tzchen zwischen TĂŒr und Angel machte. DrĂŒben der BĂ€cker Krause sass nun schon in der dritten Generation in seinem Eckladen und Fritz Zimmerling, der KolonialwarenhĂ€ndler, in der zweiten. Meister Henke, der Tischler, war wie sie echter Schöneberger und ebenso Karl MĂŒller, der in Seifen, Besen, Waschleinen und anderen nĂŒtzlichen Haushaltartikeln machte. Und die anderen GeschĂ€ftsleute, Angestellten und Beamten, die noch nicht so lange in LĂ€den und Etagenwohnungen der HĂ€userblöcke um das Frohweinsche GrundstĂŒck hockten, hatten sich akklimatisiert und waren in gewisser Weise auch stolz auf ihr Schönebergertum und auf ihre solide Grossstadtgegend an der Hauptstrasse geworden.
Und ein bisschen stolz auch auf die Frohweins in ihrer Mitte; denn die waren so ein Rest aus der guten alten Zeit, an die alle noch gern zurĂŒckdachten. Bauern waren die Frohweins einst gewesen, Schöneberger Bauern. Der Urgrossvater hatte noch den Pflug gefĂŒhrt, hatte aber auch die ersten GrundstĂŒcke verkauft, der Grossvater hatte dann die Villa gebaut und den Garten neben ihr an der Ecke der Hauptstrasse und der Frohweinstrasse angelegt, den Garten, der jetzt als letzte grĂŒne Insel im HĂ€usermeer lag. Der Grossvater hatte auch das Gut in der Priegnitz gekauft. Von den Badows hatte er es erworben und den Sohn draufgesetzt, als der die schöne Anna Fehrenbach heiratete. An die Hochzeit entsann sich BĂ€ckermeister Krause noch ganz genau: er hatte die Brötchen ins Frohweinsche Haus geliefert, nicht aber die Torten; die waren von Telschow am Potsdamer Platz gekommen; er konnte sich heute noch darĂŒber Ă€rgern, denn so gut wie Telschow hĂ€tte er sie auch gebacken. Aber der BrĂ€utigam wollte es damals besonders fein haben, und deshalb musste natĂŒrlich der grosse Telschow herangezogen werden; er war ja immer etwas hoch hinaus gewesen, der Friedrich Frohwein, hatte dann auf Rechwitz ein Leben wie ein Grandseigneur gefĂŒhrt und vielleicht mehr Geld ausgegeben, als er durfte. Und das wollte was heissen, denn die Frohweins waren damals viele Millionen schwer und er der einzige Sohn.
Man wusste so allerlei in der Schöneberger Hauptstrasse. Auch dass die Ehe des Rittmeisters — Reserveoffizier bei den Brandenburger KĂŒrassieren war er gewesen — nicht besonders glĂŒcklich geworden; die zarte, kleine, blonde Frau und der grosse, lebhafte, dunkle Mann, in dem noch immer ein Schuss Bauernblut und Bauerngrossspurigkeit sass, hatten nicht zusammengepasst. Und beide hatten unter einem gelitten: es fehlte der Erbe, der echte Frohwein. Nur die zwei MĂ€dchen kamen in grossem Zwischenraume zur Welt, die Henriette, die dann Etta genannt wurde, und die Inge. WĂ€hrend des Krieges war Frau Anna Frohwein leise ausgelöscht, in Rechwitz war sie gestorben, wo sie die Gutsverwaltung ĂŒbernommen hatte, wĂ€hrend ihr Mann im Felde stand. Das war wohl zuviel fĂŒr ihren schwachen Körper gewesen. Die MĂ€dchen kamen nach dem Tode der Mutter zum Grossvater ins Frohweinhaus, die Etta damals ein Backfisch, die Inge noch ein Kind. Rechwitz wurde von fremder Hand verwaltet. Als der Rittmeister nach Kriegsende zurĂŒckkehrte, dachten die Schöneberger, er wĂŒrde auf sein Gut ziehen und seine Töchter mitnehmen. Aber er machte es anders, er blieb in Berlin. Und dann war eines Tages Etta verlobt. Frau Zimmerling hatte es zuerst gewusst; die Frohweinsche Köchin hatte es ihr erzĂ€hlt, als sie im Laden stand und gern mehr Butter haben wollte, als es auf die Karten gab. Eine Kinderfreundschaft, der Sohn eines Gutsnachbarn von Rechwitz, ein Herr von Wahlen. NatĂŒrlich vom Adel. Unter dem machte es der Rittmeister doch nicht fĂŒr seine schöne Tochter. Und die Etta war erst siebzehn Jahre. „Ein rechter Blödsinn“, hatte die Köchin damals zu Frau Zimmerling gesagt. Und Frau BĂ€ckermeister Krause hatte diesem Ausspruch beigestimmt, als die Zimmerling ihr die grosse Neuigkeit erzĂ€hlte. „Vielleicht will die Etta aus dem Haus,“ hatte sie hinzugefĂŒgt, „so bloss mit Vater und Grossvater, das ist doch nicht das Rechte fĂŒr so ’n junges Ding. Und dann gibt’s in Rechwitz natĂŒrlich mehr zu futtern als hier in Berlin.“
Ja, ja, man wusste allerlei ĂŒber die Frohweins in Schöneberg. Man wusste auch, dass es mit den Millionen lĂ€ngst zu Ende war. Auf der einen Seite hatte der Grossvater wĂ€hrend der Inflation an seinen Preussischen Konsols und seiner Kriegsanleihe festgehalten, auf der anderen Seite hatte der Rittmeister ziemlich heftig spekuliert und nicht immer mit GlĂŒck. Da war der Glanz wie ĂŒberall zerflossen. Nur das EckgrundstĂŒck war geblieben. Schuldenfrei; auch das wusste man. Da hielt der Grossvater, der alte Ernst Frohwein, die HĂ€nde drauf. Und auf dieses EckgrundstĂŒck waren die Anlieger stolz, auf die Villa, auf den Garten, weil es ein StĂŒck alter Bauernherrlichkeit war. Ein Rest. — —
Wieder lachte der Rittmeister, und wieder stimmten die StammgĂ€ste der Schöneberger Lichtspiele ein. Harry Liedtke hatte gerade dem indischen FĂŒrsten ein Schnippchen geschlagen und war zu Erna Morena in das Prunkzelt geschlĂŒpft, das ein riesiger Elefant, der dem grossen Hans aus dem Zoologischen Garten sehr Ă€hnlich sah, auf seinem breiten RĂŒcken trug.
Inge sah nicht viel von dem Film. Sie hielt die Augen oft geschlossen. Ihre Gedanken waren bei Ettas Brief und dem GesprĂ€ch, das sie ĂŒber ihn mit dem Vater auf dem kurzen Weg zum Kino gefĂŒhrt hatte.
„Was hat denn Etta geschrieben?“
„Wie immer, Papa. Sie klagt. Sie fĂŒhle sich einsam. Sie passe nicht aufs Land.“
„Na, das kennen wir ja. Und was will sie?“
„Ich soll ihr ein Kleid besorgen. Sie hĂ€tte nichts anzuziehen. Sie könnte sich nichts kaufen. Paul hielte sie so knapp. Nie hĂ€tte er Geld fĂŒr sie. Aber neue Maschinen könnte er kaufen und LeutehĂ€user bauen. Doch wenn sie etwas wollte ... Ach, du weisst ja, Papa.“
Der Vater hatte genickt und gesagt: „Was wird denn solch Kleid kosten?“
„Zweihundert bis zweihundertfĂŒnfzig Mark mindestens.“
Durch die ZĂ€hne hatte Friedrich Frohwein gepfiffen. „Donnerwetter — soviel. Da musst du mit Grossvater sprechen. Ich hab’s nicht.“
Das war auch immer das gleiche Lied. Sie musste mit Grossvater sprechen. Wenn Vater Geld brauchte, wenn Etta Geld brauchte. Sie musste bitten. FĂŒr beide. Nur dass sie einmal fĂŒr sich selber bitten könne, mĂŒsse, daran dachte niemand. Sie verdiente ja gut beim Notar Lorenz, eine glĂ€nzende Stellung, fast zweihundert Mark im Monat, und im Hause doch auch alles frei. „Was fĂ€ngst du bloss mit dem vielen Geld an?“ hatte der Vater sogar einmal gefragt. Dass sie sich alles selbst kaufen musste, was sie an Kleidung, WĂ€sche, Schuhzeug und den unentbehrlichen Kleinigkeiten weiblicher Jugend gebrauchte, damit rechnete Vater nicht. Wirklich, es war manchmal schwer, nicht bitter zu werden. —
Der Film war zu Ende. Ein Ozeandampfer fuhr ĂŒber das Meer und liess eine lange Rauchfahne hinter sich. Zum erstenmal machte Inge Frohwein die Augen weit auf. Da lag etwas von sĂŒdlicher Sonne ĂŒber dem Bild, von Weite, von Ferne, von Freiheit. Aber schon wurde abgeblendet. An der Reling stand ein glĂŒckliches Paar und sah auf eine entschwindende KĂŒste zurĂŒck. Und dann Grossaufnahme: Harry Liedtke beugte sich ĂŒber Erna Morena, Filmaugen klapperten. Geschminkte Lippen trafen sich. Kuss. Schluss. — ‚Scheusslich, dieser Kitsch‘, dachte Inge.
Die Beleuchtung flammte auf, die Musik — Klavier, Geige und Cello — schwieg. Die StammgĂ€ste erhoben sich und klatschten. MĂ€nner und Frauen stĂŒlpten sich die Kopfbedeckungen auf und schoben sich aus den engen Sitzreihen. Vater Frohwein und Inge wurden mitgeschoben, dem einzigen Ausgang des Kinos zu.
In der TĂŒr stand Karl Berstel, der Besitzer der Schöneberger Lichtspiele. Er stand da, klein, behĂ€big und tadellos angezogen. Er entliess sein Publikum, hatte fĂŒr den und jenen einen freundlichen Zuruf. Er kannte seine Leute und wusste, was zum GeschĂ€ft gehört. Er hatte eine feine Nase fĂŒr das, was die Schöneberger sehen wollten und was er bieten musste. Alle Schlager rollten bei ihm, sowie sie aus den grossen UrauffĂŒhrungstheatern heraus waren. Immer hatte er ein volles Ha...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Der Vitapalast