Cajetan Schaltermann
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Cajetan Schaltermann

  1. 161 Seiten
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Cajetan Schaltermann

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Max Herrmann-Neißes schonungsloser und ehrlicher autobiographischer Roman: Der Autor zieht Bilanz und beschreibt, wie es zu der Hassliebe mit seiner Heimatstadt Neiße kam, die er ab ca. 1917 in seinen Namen aufnahm. Aber es ist nicht nur die spießbürgerliche Kleinstadtmentalität kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die er aufs Korn nimmt, sondern auch sich selbst. -

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Information

Jahr
2020
ISBN
9788726594409

X

Von jetzt ab blieb Cajetan Schaltermann, rein äußerlich betrachtet, der verlästerten Heimatstadt getreu und die mißglückte Expedition nach Berlin seine letzte größere Reise. Bei den alten Schaltermanns war nicht mehr sonderlich die Rede davon, man ging sich gegenseitig schonend aus dem Wege, wie an etwas allzu Brenzlichem daran vorüber und auf die Tagesordnung los; dem und jenem der Stammtischler war ja die eine oder andre Berliner Zeitung mit der vernichtenden Kritik an Cajetans Wirken zu Gesichte gekommen, so hatten auch die Eltern bereits ihre Wunden weg und für Cajetans Trauer ein gewisses, am eignen Leibe bewährtes Mitgefühl. Der Verleger des heimatlichen Oppositionsblättchens hatte überdies sich auf jeden von Vater Schaltermanns leisen Winken als schwerhörig erwiesen und nichts des weiteren getan, das Sprüchlein »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert« war mit »Ich werde es Ihrem Herrn Sohne nie vergessen, daß er seine Fähigkeiten ganz uneigennützig in den Dienst unsrer Sache stellte« glänzend pariert worden, es fielen sogar ein paar solche Späne wie »Immer schön umsonst im Theater sitzen können . . .« und »Unentgeltliche Gelegenheit zur Einarbeitung« von dem Gehobel hinüber und herüber ab, und die alten Schaltermanns, die zumindest auf ein Zigarrenpräsent mit inliegendem Zwanzigmarkschein gehofft hatten, waren ein günstiger Boden für jegliche Animosität und Feindseligkeit gegen dies mangelhafte und korrupte Institut »Presse«. Diese Stimmung blieb natürlich auf den Cajetan mit seinen Erfahrungen und seinem betäubungsbedürftigen, mehr denn je zu schmackhaft gemachten Einseitigkeiten neigenden Gewissen nicht ohne Einfluß, und die Rolle des Märtyrers oder verkannten Genies wurde zunächst als die einzige Form, unter der für ihn wenigstens ein Minimum von Genugtuung und sich selbst täuschender Rechtfertigung möglich war, begierig und mit selbstquälerischer Wollust aufgegriffen. Dabei spähte er nach Genossen seiner bald bereits als eine vorteilhaft beschwichtigende und kleidsame Tracht empfundenen Schmerzhaftigkeit, und seiner Sehnsucht wurde auch schneller und ausgiebiger Erfüllung, als ihm hätte lieb sein sollen. Im Beginn wurde er mit ein paar jungen Studenten vertrauter, die an Jahren und Geistesgaben erheblich unter ihm standen, deren Akquisition als ergebene Gefährten ihm aber schmeichelte und deren unbedingt anhängliche Jüngerschaft ihm als eine Bestätigung seiner eigenen Meister-Qualitäten erschien. Es waren das dem verbrämteren Proletarierstande entsprossene Gernegroße, die ihr sozialer Instinkt und ihre vererbte Spezialbegabung zu prononzierterer Kunstbeflissenheit verleitete, da sie sich wohl bewußt waren, daß auf einem anderen Acker sich hervorzutun ihnen so gut wie jede Vorbedingung fehlte. Dabei überschätzten sie vollständig die natürlichen Begrenztheiten ihrer Talentierung und übernahmen sich mit jedem stärkeren Bissen, und immer gab es eine Stelle, wo der Stoff nicht gelangt hatte und unversehens der Vater Gerichtsdiener und der Vater Küster allzu nackt durchschimmerte. Verbunden durch den Zufall, daß ihre Erzeuger ehemalige Militärhoboisten gewesen waren, hatte sich ihre rechtens als Abwehr gedachte musische Betätigung zuerst ausschließlich an der Tonkunst orientiert und vor willigen Brüdern Wirtschaftseleven, Seminaristen oder Buchhandlungsgehilfen als ihrem Publikum Konzerte veranstaltet, in denen die schwierigsten Beethoven- und Mozartstücke mit stümperhaft unbeholfner Drauflosgängerei heruntergerackert wurden und die Veranstalter augenscheinlich mehr Wert auf die eigene Wissensbereicherung als auf das Vergnügen ihrer Zuhörer legten, doch aber vermittels freigebig verabreichten Dünntees und billiger Rauchgelegenheit so etwas wie allgemeine Befriedigung erzeugt wurde. Allmählich wuchs nicht nur der Kreis der passiven Teilnehmer, indem es sich herumsprach, wie für Schüler bei einigem guten Willen Gelegenheit zu unkontrollierbarer Ausschweifung geboten war, denn auf den Tee folgte oft noch von geschmeichelten Vätern dedizierter Alkohol, sondern auch der Stamm der Aktivitas vermehrte sich durch verschiedene nichtstudierte Herren, die die Aufnahme in diese »akademische Gesellschaft« bei der Ahnungslosigkeit ihrer voreingenommenen Erfolgsanbeterei für etwas ansahen, womit zu Haus und anderswo Furore zu machen wäre. Der evangelische Kantor, dem Küstersohne für gewisse Orgelaushilfen verpflichtet, machte den Auftakt und stellte der »Kapelle« der zwei Studenten seinen ganzen Anhang von hoffnungslos Mißvergnügten zur Verfügung, die ihre kläglich abgetriebenen Steckenpferde mit kaum zu überbietender Arroganz für ausdauernde Renner ausgaben und mit der Grandezza von Buschklepperhäuptlingen in Paradevorritten. Dieser Kantor, mit dem vorbildlichen Namen Darm begabt, war dem Cajetan schon seit langem nicht unbemerkt geblieben infolge verschiedener Konzerte, die er in den ersten Jahren seiner Amtsübernahme zu arrangieren und jedesmal mit lautem Tamtam anzukündigen pflegte. Diesen an und für sich ziemlich armseligen Pianisten, der zuerst nach einem ganz abgetanen Dorfe verschlagen worden war, hatte die Berufung in die immerhin ansehnliche Stadtstellung mit seinem ganzen bis dahin unterirdisch glimmenden Glauben an eine höhere Bestimmung aufflammen lassen; aus ihren Winkeln wagten sich unverdaute Träume und niegestilltes Sehnen, wo er sich als gefeierten Dirigenten am Pulte über ein hundertköpfiges Orchester herrschen oder mit dem Lorbeerkranz in der Hand hinter Rampenlichtern sich verbeugen sah, indes draußen die erregte Menge schon seine Weisen pfiff und Direktoren nach dem alleinigen Aufführungsrechte sich die Sohlen von den Schuhen rannten. Und obwohl der Superintendent, dem er beim Antrittsbesuche seine Pläne andeutete, ihn vor allzu großem Optimismus warnte, weil ja eben die Stadt nicht nur fast immun gegen Kunst überhaupt sei, sondern auch schon durch – im übrigen durchaus tüchtige – Aufführungen des katholischen Kollegen ihr leider geringes Bedürfnis nach derlei so gut wie gedeckt habe, versteifte sich der Darm, der nach Art seines Charakters durch Widerstände nur bestärkt wurde, das traditionelle Mißtrauen gegen die übergeordnete Kirchenbehörde tat das Seine dazu, und je mehr er sich in der Folge nur allzu augenscheinlich von der Gutgründigkeit der Bedenken des Geistlichen überzeugen mußte, um so hartköpfiger verbohrte sich sein durch viele geduckte Hungerjahre schief gemachter Trotz. Er fing also an, mit aller Macht seinen Schädel gegen Wände zu bocken, drillte den Kirchenchor mit einer Grobheit, die viel Verstimmungen machte, mußte nachher, als er noch zu seinen Privatkonzerten allein auf dessen Willigkeit sich angewiesen sah, klein beigeben, und nun war erst recht alles verdorben: weil diese Leute die erlittne Unbill nicht vergaßen, seine empfindlichen Stellen wußten und ja nicht aus Liebe zur Sache, sondern aus purem Ehrgeiz oder ihrer Eitelkeit zur Freude sich mitzutun entschlossen hatten. So war es denn auch kein Wunder, daß alles, was von dem Kantor so großartig verheißen war, schmählich fehlschlug: der katholische Kollege war ihm nicht nur durch längere Ansässigkeit in der Stadt überlegen, sondern hatte auch noch den Vorteil für sich, altbewährter Leiter eines ständigen Musikvereins zu sein, dessen peinlichst vorbereitete, einmalige Symphonie-Aufführung in jedem Jahr für die ganze Stadt und ihre Umgegend ein Fest bildete, und er war nicht zuletzt auch wirklich der gediegenere Künstler. Des Darms Konzerte blieben also jämmerlich leer: außer ein paar Neugierigen des andern Lagers waren nur, mehr pflichtmäßig, die Repräsentanten der evangelischen Gemeinde erschienen und einige enthusiastische Musikliebhaber, und selbstredend gelang es dem Darm auch nicht, mit dem minderwertigen Material, das der ungeschulte Kirchenchor darstellte, die Wirkungen zu erzielen, die ihm am Herzen lagen, denn die Leutchen waren obendrein durch das Fiasko so eingeschüchtert, daß sie sich schlechter hielten als in den Proben. Das Ergebnis war, daß auf den nervösen Veranstalter Vorwürfe und Beschimpfungen von allen Fronten aus regneten: die Gemeinde fühlte ihre ohnehin in der ganz katholischen Gegend exponierte Stellung durch solche verfehlten Experimente grundlos gefährdet, die Kunstfreunde wurden von der überragenden Meisterschaft des katholischen Konkurrenten nur inniger überzeugt, und die Mitwirkenden hielten sich für unsterblich blamiert und drehten sich den Vorfall so, als ob der Kantor sie übel hintergangen und skrupellos seinen eigensten Interessen dienstbar gemacht hätte. Anstatt nun in sich zu gehen, seine Rechnung von frischem aufzustellen, sich jeder Täuschung über nur in der Phantasie vorhandenes Guthaben zu entschlagen und Klarheit über das, was erreichbar wäre, zu schaffen, verrannte der Haltlose sich jetzt erst recht in seiner Sackgasse, machte aus der eignen Not eine Untugend der andern, bildete sich ein, von Kabale und Neid gestürzt zu sein, riß sich an seiner gekränkten Eigenliebe noch einmal wie an einem Seile empor, preßte aus sich heraus, was als Vorrat für ein ganzes langes Leben hätte reichen sollen, verschlang wahllos alle erreichbare Lektüre und klammerte sich in seiner Oppositionslust gerade an das Modernste, das ihm doch am wenigsten lag, komponierte dann Teile aus Hauptmannschen Dramen oder Schnitzlerschen Novellen, die sich absolut nicht zu musikalischer Interpretation eigneten, seinem Verständnis vollends zu hoch flogen und die er überdies doch nur in die älteste, direkt inadäquate Stilart sich übersetzen konnte. Diese Kompositionen wurden ihm natürlich wieder von Überall zurückgeschickt, und da begann er zu saufen, stieß die wenigen Schüler aus kirchenanhänglichen Kreisen, die ihren Kultusbeamten wirtschaftlich zu fördern für Pflicht hielten, mit der Exzentrizität seiner sich grundlos immer in Kämpferstellung fühlenden Überheblichkeit nach und nach vollends ab, gefiel sich in absichtlich zur Schau getragenen Künstlerlaunen, tat herablassend, kam zu spät oder gar nicht, und hockte nun überall in den Winkelkneipen herum, räsonnierte, ließ sich freihalten und kristallisierte eine Sippe ähnlich verschlammter und verkrachter Schatten-Existenzen an sich, von der Diasporagemeinde aus Opportunitätsgründen bloß noch widerruflich und mit Nachsicht im Amte geduldet.
Besagter Darm mit seinem nicht ganz einwandfreien Umgang verstärkte also jetzt die Gemeinschaft der zwei Studenten-Reformatoren: da führte er einen mit sich, der als Junge zu allerlei Abenteuerei entwichen, später dem verlorenen Sohne gleich reumütig zurückgekehrt und nun zufrieden war, bei einem geduldigen Bauunternehmer eine bescheidene Stellung gefunden zu haben, sich trotzdem vor Leichtgläubigen Architekt schimpfte, Fagott zu blasen verstand und vom Vater nicht viel mehr als den zureichenden Namen Bernert ererbt hatte, und einen Diurnisten, der aus irgendeinem Zufallsgrunde mit dem Xylophon Bescheid wußte, und einen Bankbeamten, der als Lautensänger seinen Mann zu stellen sich vermaß, und nun bekam das Programm immer mehr Abwechslung, man befaßte sich nicht mehr einseitig nur mit Musik, sondern bemühte sich, immer bunter zu variieren. Cajetan las Dichtungen vor, und der Bankmensch klimperte Chansons, und dann fand sich der Veterinär dazu, der der Freund des berühmten Mannes schien, weil er überall, wo etwas Außergewöhnliches sich regte, dabei sein mußte, und da er weder ein Instrument beherrschte, noch einen andern Zweig der Kunstbetätigung, seinem Ehrgeize aber die indifferente Charge eines bloßen Zuhörers nicht genügte, versuchte er durch Notenumwenden, langschweifige Wichtigkeitsredereien und aufhaltende gute Ratschläge ein Mittelding zu bilden. Jetzt büßten die Abende aber, was sie an Quantität gewannen, an Qualität ein, da ja nicht einmal dem Kantor, geschweige denn seinen Mitläufern ehrlich daran lag, die Kunst zu feiern, vielmehr jeder, wenn es hochkam, ein Mittel suchte, sich selbst zur Geltung zu bringen und sich ein paar möglichst fidele Stunden voller Betäubung und Entrücktheit zu verschaffen, und als sie sich nun so ziemlich einer Gesinnung fühlten, der letzte Ernst, den etwa dieser aus Scheu vor jenem sich noch abgezwungen hatte, wegfiel. Cajetan allein war noch bestrebt, koste es, was es wolle, eine gewisse Disziplin aufrecht zu erhalten, denn müßte er sich eingestehen, daß auch diese Empörer gegen die Stadt nur eine mißlungene Maskerade und eine Farce bedeuteten, würde ihm die letzte dünne Planke unter den Füßen entzogen sein und auch seine eigene Pose hätte dann nicht viel mehr Berechtigung als so ein masochistisches Schmollen: »S’ist dem Vater schon recht, wenn ich mir die Füße erfriere, warum kauft er mir keine Schuhe!« Er nahm es sogar auf sich, seine Eltern, denen eine Überrumplung durch so viele, noch dazu ihnen nicht grade sympathische Menschen recht ungelegen war, zu besänftigen, und bestellte den ganzen Klub zu einer Sitzung in seine Wohnung. Das Programm für diesen Abend hatte er sich mit ganz besonderer Sorgfalt ausgearbeitet und, soviel an ihm lag, sich mit einer Akkuratesse präpariert, die einer besseren Sache wert gewesen wäre. Fiebernd vor Ungeduld patroullierte er lange vor der verabredeten Stunde in seinem Zimmer auf und ab, das er stimmungsvoll mit Kerzen erleuchtet hatte. Einzig der Kantor, der reichere Zufuhr von Alkohol witterte, erschien pünktlich, die andern schleiften sich erst allmählich mit gleichgültiger Saloppheit heran, brachten allerlei nichtige Erregung von draußen mit, die zwei Studenten stritten über den Vorzug von Greifswald oder Rostock, der Tierarzt machte sich unpassend interessant durch einen Gruß des berühmten Mannes, als welchen Gruß er dem Cajetan angeblich zu übermitteln hatte, der Lautensänger schwatzte mit dem »Architekten« über irgendein weibliches Wesen, das ihnen auf dem Wege zu Cajetan begegnet war und erhebliche Avancen gemacht haben sollte, und die Mutter Schaltermann bereitete ihrem Sohne eine durchaus unerwünschte Aufmerksamkeit, indem sie den Pikkolo von unten abkommandierte und mit Bier und belegten Brötchen aufwarten ließ. Cajetan überwand seine Empfindlichkeit, dämpfte, was zu dämpfen ging, überhörte den Kantor, der vor lauter Behaglichkeit übermütig zynisch wurde, impertinent schnarchte: »Ich bin mit Bier und Wurschtigkeiten versehen, wegen mir kann der Feetz losgehn!«, und versuchte, in absichtlich gemessenen, offiziell gehaltenen Begrüßungsworten einigermaßen zu zügeln. Der Gerichtsdienersohn sollte mit einem Geigensolo einleiten, er holperte entsetzlich, mittendrin sprang ihm eine Saite, und dabei stand er schief, wie einer, der Schuhe putzt, der Kantor machte halblaut Witze, der Küstersprößling, der die Klavierbegleitung hatte, geriet aus dem Takte, Cajetan biß sich auf die Lippen und sah starr dem Veterinär ins Gesicht, der eine ergriffen-kundige Eselsschnute bekam. Dann folgte das, was Cajetan sich als Zugstück und Höhepunkt dieses Festes ausgedacht hatte, eine monologische Szene, zu der der letzte Akt des »Michael Kramer« von ihm zurechtgestutzt worden war; zwei mit einer schwarzen Decke drapierte Stühle sollten Arnolds Sarg vorstellen, und Cajetan begann, indem er eine gebückte Haltung einnahm und den Vorsatz in sich hineinknirschte, diese Bande mit der Gewalt seiner Stimme ebenso zu bezwingen wie jene verwöhnteren Hörer in Berlin, und betete des alten Kramer wundersam hinflutende Predigt mit sonorem Tone, der vor innerer Ergriffenheit vibrierte. Der Rhythmus trug ihn, einen Schwan, der auf abendrotpurpurnen Wellen gleitet, er bekam nach und nach einen priesterlichen Gestus, aber, während er völliger Entrücktheit zusteuerte, kroch ein peinliches Gefühl unter sein Gewand, er empfand sich mit einem Mal als in die luftleere Feindseligkeit einer riesigen Kristallglocke geschlossen, und schon wußte er, daß er sein Heiligstes vor die Säue warf, ward über sich selber ärgerlich und führte das so weihevoll Begonnene lustlos fad zu Ende, während er vor den halb nachsichtigen, halb gelangweilten oder gar Belohnung heischenden und Selbstüberwindung aufweisenden Mienen seines Auditoriums voll Scham und Zorn zu erröten anfing. Sobald er den Schlußpunkt gesetzt hatte, atmete alles auf, endlich erlöst von einer als lästig empfundenen Höflichkeitspflicht, der Veterinär und der Bankbeamte klatschten entgegenkommend und versuchten ein paar verunglückte Komplimente über Cajetans Rezitatorentalent herauszudrocksen, da riß aber schon der Kantor das Präsidium an sich, dem das viele genossene Bier Mut gab, nun nichts ähnliches mehr ruhig über sich ergehen zu lassen, meckerte: »Na, nu hamm wer aber genug von der melankatholischen Richtung, wir sind doch keen Begräbnisverein!«, und schon saß er am Klavier und polterte seinen »Jubiläumsmarsch«, der bei allerlei Cakewalk- und Wackeltanzrhythmen erfolgreich zu Gaste gewesen war, und nun schlugen die Wogen über Cajetans Kopf unweigerlich zusammen, da ihn angeborne Schüchternheit bei Fällen, wo er eine eigene Schuld witterte, und übertrieben anerzogene Gastgeberbedenken hemmten. Es war nicht anders, als ertränke er und verschwände unbeachtet mit einem drolligen Gurgellaut in den Tiefen und nicht einmal von den Wolken, die sich auf seiner Stirn – welche nicht zu lügen gelernt hatte – immer düsterer ballten, nahm irgendwer Notiz. Der Bankbeamte wurde genötigt, seine Laute umzugürten und Schnadahüpfel zum besten zu geben, deren dummdreist verschweinte oder pointelos schwachsinnige Refrains animiert im Chorus nachgebrüllt wurden, der Gerichtsdienersohn zeigte Kartenkunststücke und Scherze mit Streichhölzern, was in ganz blöde Unanständigkeit sich auflöste, und endlich wurde nur noch gequalmt, gesoffen und diejenige Unterhaltung geübt, in der alle sich zwanglos wie die Ferkel in ihrem Kote mit ungetrübter Verständnisinnigkeit begrunzten. Da war es auch soweit, daß keine langverhaltene Böswilligkeit mehr stumm bleiben mochte, sondern jede wie eine Schlange aus geöffnetem Korbe fuhr: der Kantor begnügte sich, durch die Freigebigkeit von Cajetans Eltern und die Unbestrittenheit, mit der ihm der Vorsitz eingeräumt worden war, versöhnt mit einer durch kleine Schweinsäuglein betulicher gemachten Glosse: »Ma sieht bloß nischt, weilʼs finster is!«, dann legten die Studiker los gegen die Verschwendung, die der Gebrauch von Kerzenlicht bedeuten sollte, wühlten sich ordentlich in ihre eigene Armut ein, packten Einzelheiten ihres Semesterlebens aus, das mit Entbehrungen und Schäbigkeiten gespickt war, pochten auf die ihnen als Joch auferlegte und höchst unfreiwillig ertragene Dürftigkeit wie auf ein Verdienst und ließen es an hämischen Seitenhieben auf »verwöhnte Muttersöhnchen, die nicht nötig haben, Examen zu machen, Snobismus, Studium als Luxus« und mehr derart, was den Cajetan angehn sollte, nicht fehlen. Da verspürten auch die andern keine Verpflichtung zur Gêne mehr, der Lautensänger brachte mehr offenherzig als klug alle seine speziellen Bankmensch-Paritäts-Schmerzen vor: immer würden sie von den andern Akademikern so von oben herab behandelt und hätten doch das »im praktischen Leben gestanden haben« voraus, womit er die selbst als Unannehmlichkeit empfundene Lehrzeit euphemistisch verklärte. Schon drängelte sich aber der Kantor, ängstlich besorgt, unter sothaner Wendung doch wieder den Platz an der Tete zu verlieren, mit beiden Ellbogen vor und flegelte sich auf das Lieblingsthema seines Komponistenmißgeschicks, zog alle Register des Verfolgungswahnes und konnte nicht umhin, zwischen Cajetans literarischer und der eignen musikalischen Betätigung Vergleiche zu riskieren, die von keinerlei sentimentalen Anwandlung, auch dem Gegenpart gerecht zu werden, getrübt wurden und sogar das Verwerfliche an der Wohlhabenheit der alten Schaltermanns in durchsichtigen Anpöbelungen aufs Tapet brachten, bis das Niveau soweit unter Null sank, daß von diesen unter der Bedingung der Kostenlosigkeit zu jedem Exzeß Geneigten die angeblich volksverderbliche Tendenz des Gastwirtsgewerbes schlechthin zur Debatte gestellt und von den beiden Studenten mit unverschämten Verhöhnungen Cajetans längst begrabene Periode der Offiziers-Freundschaften ohne zwingenden Grund ans Licht gezerrt wurde. Sobald es einmal soweit gekommen war, befand sich Cajetan als der Feinfühligere im Nachteil: wurde abwechselnd rot und blaß, versuchte durch leise Zugeständnisse abzulenken oder durch Eingehen auf einen leichtfertig spöttelnden Ton, der ihm aber nicht lag, das Ganze ins Gebiet des Scherzhaftgemeinten hinüberzuspielen – doch diese Plumpen, als sie erst merkten, wie er ihnen zu entweichen gedachte, schrieben die Zugeständnisse seiner Politesse auf das Konto ihrer Überlegenheit und trieben ihn nur desto brutaler in die Enge, daß er wie aus Todesgefahr erlöst aufatmete, als im schonungslosesten Augenblick der servierende Pikkolo abberufen, das Lokal unten geschlossen und beim Versiegen des materiellen Stoffes keinerlei Lust zu längerem Verweilen von seinen unliebsamen Gästen bekundet wurde. Noch war ein lärmender Aufbruch zu überstehen, und endlich starrte Cajetan in sein durch Speisekrümel, Zigarettenstummel, Asche, durchblätterte und offen weggeworfene Bücher verferkeltes Zimmer und begann wie auf den Trümmern einer Festung in unendlicher Einsamkeit unaufhaltsam heftig zu weinen. Und mit solchen Rüpeln hatte er sich gemein gemacht, hatte geglaubt, ebenbürtige Bundesgenossen gegen die verhaßte Stadt ergattert zu haben! – er verging vor Reue und Zerknirschung – war er denn viel besser? hatte er nicht ganz ähnlich aus seiner Inferiorität eine Anmaßung gemacht und die alte Regel: Minus mal Minus gibt Plus wie ein Affe wörtlich genommen? Nein, für derlei Gesindel war er denn doch nicht geschaffen, soviel abstoßenden Mangel an Takt und Selbstbeherrschung, soviel Struwwelpeterhaftigkeit vertrugen seine Nerven schon nicht – an andern, fügte seine Selbstverachtung boshaft hinzu, aber gleich sprang etwas dazwischen, das ihn daran erinnerte, er hätte doch wenigstens rechtzeitig noch das Bewußtsein seiner Schande erlangt, und nun überhob er sich für einen Moment mit dem ungerechten Verdammungs-Schlagwort »Schlechte Erziehung«, führte aber doch seinen Gedankengang bis zu dem Kreuzwort zurück, wo er dem ländlichen Verwandten gegenüber die Contenance verloren hatte, und begann nun das große Reinemachen und Aufräumen. Die ganze Phalanx der mißglückten Rebellen gegen die Ordnung und Gesetzlichkeit der Stadt marschierte vor seinem visionären Blick auf, ihn verletzte wie ein absichtlich persönlicher Affront die Mangelhaftigkeit ihrer Bewaffnung, und als er näher zusah, erkannte er hinter ihrem verqueren Grimme Eifersucht auf den halb beneideten, halb verachteten »Feind«, Bereitwilligkeit zu kapitulieren und die nur mangelhaft verhehlte Militäranwärter-Ergebenheit, und dann schlossen sich die an, die bereits soweit waren, als Saulusse begonnen und als Paulusse geendigt hatten, und Cajetan fixierte mit hellseherischer Geschärftheit jede Kurve ihres Übertritts, wie sie sachte Fühlung genommen, sich auf Vordermann gerückt und endlich ganz in Reih und Glied formiert hatten; da gab es einen ehemaligen Zigeuner, der heut als Drechslermeister Innungstafeln vorsaß, und einen ehemaligen Pläneschmied voll Beflügelung und Sternentrieb, der heut als kleinbefriedigter Spediteur dem Anwachsen von Vermögen und Leibesumfang haltbar bescheiden zusah, und einen Wirrkopf, der nacheinander Farmer in Afrika, Homöopath, Altertumshändler, Grundstücksmakler gewesen war und unter alles das in einer friedlich devoten Museumsverwaltercharge den dicken Strich zog, oder jenen Zeichenlehrer, durch dessen Vermittlung Cajetans Buch Oberlehrerkreisen Anstoß und Geißel geworden war, der einst die Kunstschule besucht, sich dann in eine Heirat verplempert und in der Pensionsberechtigung seiner Subaltembeamtetheit gefangen hatte und der heute schon recht artig mit den Autoritäten seiner Befugnis zu liebäugeln verstand. Cajetans überträntes Gesicht verzerrte sich zu einem erschreckenden Gelächter – oh! dem »Fiep-Ottel«, diesem harmlosen Gemeinde-Idioten, der immer mit dem Stocke Schießgewehr spielte und hinter Weibsleuten her »Puff . . . Puff . . .« machte, hatte ein aus dem Kriegerverein gewiesener Bosnickel seine Uniform geschenkt, und nun zog der Depp zum Ärgernis bei jedem Ausmarsch forsch hinterdrein, als ob er dazu gehörte, und jede maßregelnde Gewalttat gegen den unschädlich Blöden hätte doch Schaden und Spott nur noch größer gemacht! Das war eine Berühmtheit dieser Stadt, und der »Forscher« war eine andere und der »Tierfreund« ebenso, aber wer in der allgemeinen Achtung voranging, darüber herrschte kein Zweifel, und wie stand es mit den übrigen? Einem Dichter, der der ausgesprochen reaktionären Gesinnung der Stadt entgegen gewesen war, hatten sie nach seinem Tode doch eine Gedenktafel stiften müssen, aber man hatte sie im Hofe seines Geburtshauses angebracht, und der Krämer Hausbesitzer stapelte seine Seifenkisten so hoch auf, daß nichts mehr sichtbar war, und speiste vorwitzige Fremdlinge mit der phlegmatischen Selbstbewußtheit ab: »Mein Geschäft geht vor! Der alte Tintemann bringt mer nischt ein!«, und Cajetan hatte vor solch imposanter Offenherzigkeit beinah Respekt. Und von einem Nordpolforscher nuschelte man wie von einem Entarteten, und den Rennfahrer erwähnte man wie einen unsichren Kantonisten, der nun doch noch eine Geldquelle geworden war, und ein schwammi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Other
  4. I
  5. II
  6. III
  7. IV
  8. V
  9. VI
  10. VII
  11. VIII
  12. IX
  13. X
  14. Über Cajetan Schaltermann