Hotel Budapest, Berlin ...
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Von Ungarn in Deutschland

  1. 208 Seiten
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Von Ungarn in Deutschland

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Über dieses Buch

Budapest–Berlin: Hier verlief eine der vielen ostwest­lichen Fluchtlinien des 20. Jahrhunderts. Erst nach 1989 bemerkte man erstaunt die Präsenz der Ungarn in Deutschland, vor allem aber in Berlin, wo große Autoren wie György Konrád, Imre ­Kertész, Péter Esterházy oder Péter Nádas lebten, wo Terézia Mora und György Dalos heute leben. Dabei reicht die ungarische Präsenz hierzulande viel weiter zurück, oft verbunden mit anderen großen Umbrüchen: 1918, 1933, 1944, 1956. Thomas Sparr erzählt von einer einzigartigen historischen Konstellation, von Gedanken und Werken, vor allem aber von den Leben dahinter. Georg Lukács, Arnold Hauser, Peter Szondi und Ágnes Heller sind zu hören, Ivan Nagel, die Komponisten György Ligeti und Györgi Kurtág ebenso wie die vielen Autoren, die den Weltruf der ungarischen Literatur begründen. Die Donau, das erfahren wir hier, fließt auch durch Berlin.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783946334965

1918

Im Leben von Georg Lukács bildet das Jahr 1918 wie für alle Ungarn und die meisten Europäer die entscheidende Zäsur: das Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen Verwerfungen, erst recht für das Königreich Ungarn, das später im Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Landes und ein Drittel seiner Bewohner an Rumänien und an seine anderen Nachbarländer verlieren wird, das Ende der K.-u.-k.-Monarchie, das schon der Tod des Kaisers Franz Joseph 1916 eingeläutet hatte, mit ihm endete eine Regentschaft, die über ein halbes Jahrhundert eine Balance im Riesenreich gehalten hatte. Dessen Auflösung setzte ein zerstörerisches Potenzial frei. Auch die Wanderung von Ost nach West nahm 1918 eine entscheidende Wendung. Wien betrachtete man schon als ungarisch, Paris war früher ein Sehnsuchtsort für Ungarn; nun wurde es Berlin mehr denn je. Der Schriftsteller Mór Jókai wusste schon 1878 aus der Reichshauptstadt zu berichten:
»Die herzliche Aufnahme, die mir in den Berliner Schriftstellerkreisen ständig zuteilwurde, ist zu neun Zehntel nicht meiner eigenen literarischen Arbeit, sondern der Sympathie meiner Nation gegenüber zu verdanken. Nach der kühlen Aufnahme (kühl bis ins Herz hinab) durch die Wiener Redakteure und Kollegen, berührte mich die freundschaftliche Sympathie der Berliner Schriftsteller wie ein Zaubermärchen. Namhafte, weltberühmte Dichter, deren Werke auf dem Erdenrund in jeder Sprache gelesen werden, hoben uns nach der ersten Begegnung zu sich empor und überhäuften uns mit so vielen wahren Zeugnissen der Freundschaft und Sympathie, dass dieser mir bis dahin ›unbekannte‹ Genuss mich hätte berauschen können, hätte ich nicht gewusst, dass ich den Löwenanteil meiner Nation nach Hause zu bringen habe.«
Ein optimistischer Auftakt nach der zweifachen, der ungarischen wie deutschen Nationenwerdung, dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867 als Geburtsstunde der K.-u.-k.-Monarchie und der Gründung des Deutschen Reiches 1871, die beide bis 1918 bestanden. Wohl keine andere Nation haben die Deutschen so aufmerksam, freundlich und aufgeschlossen aufgenommen wie die Ungarn. Reichskanzler Otto von Bismarck empfing den in seiner Heimat populären Mór Jókai 1874 in Berlin, wo ihm seine Schriftstellerkollegen nach eigenem Bekunden so überaus freundlich begegneten. Er war zu Gast bei Ferenc Wallner, dem das nach ihm benannte Theater gehörte und der sich von Berlin aus um die Verbreitung ungarischer Literatur, ungarischen Theaters und ganz allgemein der Kultur des Landes bemühte. Der Berliner ungarische Verein bereitete dem Autor aus Budapest ein Abendessen, zu dem rund hundert Ungarn zusammenkamen: »Junge und Alte, reiche Unternehmer und arme Gewerbetreibende, Lehrlinge und Handwerker, Künstler und stattliche Damen. Und in dem mit den Fahnen in den Nationalfarben geschmückten Saal herrschte ungarische Laune, Rákóczy-Marsch, Csárdás, ungarische Trinksprüche und echte ungarische Weine dank der Großzügigkeit des generösen Mäzens der hiesigen Ungarn, Hoffman (Militärlieferant), dessen schöne stattliche Tochter mich mit einer angenehm klingenden ungarischen Gratulation empfing. Dieser Abend war die empfindsamste Freude meines Aufenthaltes in Berlin.«
Unter den verschiedenen Abstufungen von »Ausland« gebe es für Ungarn immer eine, die »Westen« bedeutet, »der Westen: das ferne, wunderschöne Licht und der gärende Sauerteig«, schreibt Aladár Komlós in der auf Ungarisch erscheinenden Wiener Ungarischen Zeitung während eines Aufenthalts in Berlin 1923. Über Jahrzehnte war der ferne, lockende Westen Paris: »Für uns ist heute Berlin unser Paris: eine Stadt, die bislang keine Rolle in der ungarischen Kulturgeschichte gespielt hat. Die Spree ist unsere Seine. Wird dieser Fluss wohl die ungarischen Felder fruchtbar machen?«
»Nekünk ma Berlin a Párizsunk« – »Unser Paris ist heute Berlin« – so hieß eine Ausstellung, die das Literaturmuseum Petőfi in Budapest und die ungarische Botschaft in Berlin 2007/8 nacheinander an beiden Orten zeigten. Drei Jahre zuvor gab es im Budapester Literaturmuseum die Ausstellung »Paris lässt nicht los« zu sehen. Die zweite Ausstellung dementiert scheinbar die erste. In Wirklichkeit aber betont sie den Zusammenhang des ungarischen Wunschbilds vom Westen, in dem Paris und Berlin, Spree und Seine, ständig miteinander verglichen wurden. Würde die Spree, so hatte Komlós gefragt, die ungarischen Felder fruchtbar machen. Aus der Rückschau von einhundert Jahren könnte man die Frage genau umgekehrt beantworten: Die Donau floss durch Berlin und machte über genau ein Jahrzehnt die deutschen Felder fruchtbar. Und damit kehren wir an die Donau, nach Budapest zurück.
In den Jahren nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, die von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung geprägt waren, verabschiedete das ungarische Parlament das Gesetz, das Juden Gleichberechtigung gewährte. Ein formal wichtiger Schritt in einem Land, das immer wieder antisemitische Vorkommnisse erschütterten, wie sie es auch in Frankreich und Deutschland taten, denken wir an den später berühmt gewordenen Berliner Antisemitismusstreit, den Heinrich von Treitschke 1879 vom Zaun brach, eine Auseinandersetzung um die Teilhabe von Juden an der deutschen Gesellschaft der Kaiserzeit.
Mit der Gleichberechtigung setzte unter den Budapester Juden der Prozess der Magyarisierung ein. 1881 gaben 59 Prozent der Budapester Juden als ihre Muttersprache Ungarisch an, statt Deutsch, Jiddisch oder andere Sprachen die Grenzen des Königreichs entlang, zehn Jahre später waren es über 85 Prozent. Das zog zwei markante Veränderungen im Budapester Stadtleben nach sich: Um 1900 gab es in Budapest keine deutschsprachigen Theater mehr und nur noch eine deutschsprachige Zeitung, die allerdings in ganz Europa verbreitet war: Pester Lloyd, der seit 1854 zweimal am Tag als Morgen- wie Abendausgabe erschien. Doch in den bürgerlichen, jüdischen Kreisen wurden die deutsche Sprache und Kultur über die Jahrhundertwende hinweg kultiviert. Der Autor und Übersetzer Marcell Benedek, ein enger Schulfreund von Lukács, überliefert 1918 die Anekdote von einer Gesellschaft, die einige Jahre zuvor in Budapest zusammenkam:
»Ein junger Mann fragte ihn: ›Und im Herbst fahren Sie nach Kulturien zurück? Glücklicher Mensch! Ich rate Ihnen, bleiben Sie da!‹ Wenn ich das tun könnte! Als das Wort Kulturien fiel, verbreitete sich der Glanz des Heimwehs auf den Gesichtern der Anwesenden. Deutschland … Berlin. Bei den Salonabenden der Familie bezeichnete man Deutschland als Kulturien und beinahe alle sprachen dieses Wort gen Himmel gewandten Blickes, mit einem verliebten Ton aus.«
In diesem Sehnsuchtsort etablierte sich von 1900 an ungarische Kultur. Es gab die Monatsschrift Jung Ungarn, »eine dicke und schöne deutsche Revue, die in Berlin bei der angesehenen Verlagsgesellschaft Cassirer erscheint«, wie der damals federführende ungarische Kritiker Ignotus bei ihrem Erscheinen 1911 zu berichten wusste: »Eine Lektüre, die den Ungarn interessiert, weil sie von ungarischen Themen handelt, den Fremden wiederum, weil seinem Interesse bislang unbekannte und nicht erahnte Dinge nahegebracht werden – auch stößt sie auf inniges Interesse des Deutschen, denn die Fäden der Jahrhunderte alten, in Wirklichkeit Jahrtausende alten ungarisch-deutschen Zusammenhänge werden hier mit besonderem Fingerspitzengefühl ertastet. Dem entspricht die Aufmerksamkeit, die der neuen Revue nicht nur bei uns zu Hause, sondern auch in Berlin entgegengebracht wird.«
Woher Ignotus Jahrtausende der ungarisch-deutschen Zusammenhänge hernimmt, bleibt rätselhaft, aber das Unternehmen einer solchen Monatsschrift, auch wenn sie nur kurzlebig war, zeugt von der lebendigen ungarischen Präsenz in Berlin. Elek Falus hatte sie genauso gestaltet wie die Zeitschrift Nyugat, der Westen. Eine graphische Brücke zwischen Budapest und Berlin, zwischen Ost und West.

Gründerfigur

In die Epoche der Gründerzeit hinein wird György Bernát Löwinger am 13. April 1885 in Budapest geboren. Der Vater József Löwinger aus Szeged und die Mutter Adel Wertheimer aus Wien hatten den jüdischen Namen in den ungarischen Lukács geändert. 1899 wurde die Familie geadelt, der Vater jung Direktor der EnglischÖsterreichischen Bank in Budapest. Georg, sein älterer Bruder János und die jüngere Schwester Mici wuchsen in bürgerlichem Wohlstand auf. Die Eltern führten ein gastfreies Haus mit vielen Autoren, Malern und Schauspielerinnen als Gästen, ein Haus voller Bücher und Bilder, die der Vater im Laufe der Jahre erwarb. Künstler brauchten Förderung, lautete seine Devise.
Der Werdegang im wohlhabenden Elternhaus, die frühe Berührung mit Kultur und den zwei Sprachen, Ungarisch und Deutsch, beide nahezu gleichrangig, waren üblich für einen ungarischen Intellektuellen seiner Generation. Der junge György besuchte das evangelische Gymnasium in Budapest. »Aus rein jüdischer Familie«, notiert Lukács in den letzten biographischen Aufzeichnungen vor seinem Tod und fährt fort: »Gerade darum: Ideologien des Judentums gar keinen Einfluss auf geistige Entwicklung.« Das ist das Credo des jüdischen Bürgertums in Budapest und anderswo, ein dialektisches Credo: Gerade wenn Töchter und Söhne aus frommen jüdischen Familien stammten, wurden sie zu Juden ohne Judentum, ohne die eigenen, über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte entstandenen Traditionen. József Lukács, ein Zeitgenosse von Theodor Herzl, wurde Konsul von Palästina, aber auf den Weg dorthin, und sei es nur zu Besuch, machte er sich nicht. Es zeugt nicht nur von tiefer Ironie, es liegt geradezu eine historische Wiederkehr des Verdrängten darin, dass Thomas Mann im Zauberberg Georg Lukács als konvertierten, also abtrünnigen Juden aus orthodoxer Familie literarisch verwandelt wiederkehren lässt:
»Leo Naphta stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe der galizisch-wolhynischen Grenze. Sein Vater, von dem er mit Achtung sprach, offenbar in dem Gefühl, seiner ursprünglichen Welt nachgerade weit genug entwachsen zu sein, um wohlwollend darüber urteilen zu können, war dort schochet, Schächter gewesen – und wie sehr hatte dieser Beruf sich von dem des christlichen Fleischers unterschieden, der Handwerker und Geschäftsmann war. Nicht ebenso Leos Vater. Er war Amtsperson und zwar eine solche geistlicher Art. Vom Rabbiner geprüft in seiner frommen Fertigkeit, von ihm bevollmächtigt, schlachtbares Vieh nach dem Gesetz Mosis, gemäß den Vorschriften des Talmud zu töten, hatte Elia Naphta, dessen blaue Augen nach des Sohnes Schilderung einen Sternenschein ausgestrahlt hatten, von stiller Geistigkeit erfüllt gewesen waren, selbst etwas Priesterliches in sein Wesen aufgenommen, eine Feierlichkeit, die daran erinnert hatte, daß in Urzeiten das Töten von Schlachttieren in der Tat eine Sache der Priester gewesen war.«
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Thomas Mann im Hause Lukácz in der Gyopárstraße (Budapest), um 1913.
Thomas Mann war mit der Familie Lukács bekannt; József Lukács verwaltete die Honorare seiner gerade in Ungarn weitverbreiteten Werke. Eine Geschäftsbeziehung, die übers rein Geschäftliche hinausging: Der Bankdirektor lud den Dichter und seine Familie in sein Budapester Haus ein. Der revanchierte sich auf seine Weise, ein Dichterdank, und nahm die Familie in sein Werk auf. Deren Schilderung im Zauberberg ist nicht frei von Stereotypen, mit denen man zu jener Zeit Juden wahrnahm. Wir finden deutliche Züge der Lukács in seinem Roman, wenn Thomas Mann den frommen Vater beschreibt, Leos christlich geprägte Schulausbildung, protestantisch bei Georg, katholisch-jesuitisch im Zauberberg, oder das frühe Studium von Marx und Hegel, das Leo und Georg teilen. Die dichterische Freiheit verschafft sich viel Raum in den Gesprächen über Gesundheit und Krankheit, die Leo Naphta auf einem der langen Schneespaziergänge zu einem Existenzial erhebt. »Im Geist also, in der Krankheit beruhe die Würde des Menschen und seine Vornehmheit; er sei, mit einem Worte, in desto höherem Grade Mensch, je kränker er sei, und der Genius der Krankheit sei menschlicher als der der Gesundheit.«
Aber kehren wir vom Zauberberg in die historischen Ebenen von Budapest zurück: Im Sommer 1902 legt Georg das Abitur ab, veröffentlicht früh Theaterkritiken und macht sich auf die erste Auslandsreise nach Skandinavien mit einem Besuch bei Henrik Ibsen, einem der damals führenden Dramatiker.
Sosehr Leben und Werk von Georg Lukács vom 20. Jahrhundert geprägt sind und Kunst wie Literatur dieses Jahrhunderts haben neu sehen lassen, so wenig sind ihm Historiker bislang gerecht geworden. Es gibt keine umfassende Biographie über ihn.
In Berlin und in Budapest schreibt Lukács an einem Buch über das moderne Drama, genauer: über die Soziologie des modernen Dramas. Den größten Fehler in der soziologischen Kunstbetrachtung sieht er darin, dass sie zwischen dem Kunstwerk und »bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen« wolle. Darauf folgt der Satz, der zum Grundsatz von Lukács’ ganzer Ästhetik werden wird: »Das wirklich Soziale aber in der Literatur ist: die Form.« Erst die Form – und ihre Analyse – macht das »Erlebnis« des Dichters – und Erlebnis ist der Schlüsselbegriff der Philosophie jener Zeit – aus, indem es die Wirkung des Kunstwerks freisetzt. Auf Wirkung setzte vor allem das naturalistische Drama, die Stücke von Tschechow, Gorki, von Strindberg und Ibsen, von Gerhart Hauptmann, die die Theater damals zeigten. Die Premiere von Hauptmanns Die Ratten, einem spätnaturalistischen Drama, könnte Lukács 1911 in Berlin gesehen haben. Gerade 19-jährig, hatte er 1904 in Budapest die Thália-Gesellschaft mitbegründet, in der, wie in der Berliner Freien Bühne oder dem Théâtre Libre in Paris, die Stücke der damaligen dramatischen Avantgarde aufgeführt wurden.

Die Seele und die Formen

1911 erscheint in Berlin eine Sammlung von Essays unter dem Titel Die Seele und die Formen. Ihr Verfasser Georg von Lukács hatte einige der Aufsätze vorab schon auf Ungarisch in der Zeitschrift Nyugat veröffentlicht, der Westen. Genau in diese Himmelsrichtung strebten die Zeitschrift wie Lukács’ Beiträge. Sie handeln von Novalis, von Stefan George, der Wiener Moderne, von Kierkegaard, Theodor Storm, von allem, was von Budapest aus gesehen westlich lag. Und an den Anfang stellte der junge Autor einen Brief an seinen früh verstorbenen Freund Leo Popper, in dem er über die Form der nachfolgenden Beiträge meditiert: den Essay. Lukács nennt ihn eine Kunstform: »In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale.« In den Schriften des Essayisten, also seinen, schreibt Lukács, werde die Form zum Schicksal. Die Seele nimmt in den Formen der Kunst Gestalt an. Der Essay, so heißt es am Schluss der Einleitung, »ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. Jetzt erst klänge es nicht widerspruchsvoll, doppelsinnig und wie eine Verlegenheit, ihn ein Kunstwerk zu nennen und doch fortwährend das ihn von der Kunst Unterscheidende hervorzuheben: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränität dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung.«
Gegen diese Form des Essays erhob die Schulphilosophie erhebliche...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Budapester Straßen
  5. Sommer in Budapest
  6. 1918
  7. 1944
  8. 1956
  9. Reisen nach Berlin
  10. Dank
  11. Literatur
  12. Über den Autor
  13. Impressum