Die Wiederkehr des Übens
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Die Wiederkehr des Übens

Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens

  1. 236 Seiten
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Die Wiederkehr des Übens

Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Üben ist eine Praxis, die einen produktiven, verstehenden und kritischen Zugang zu Kultur und zu demokratischen Gemeinschaften ermöglicht. Das Buch unternimmt daher eine Rehabilitierung des Übens als leibliche und geistige, wiederholende und kreative Praxis, mit der ein grundlegendes Verhältnis zu sich, zu Anderen und zur Welt konstituiert wird. Üben und Übung werden in ihren zentralen Strukturen vorgestellt und erfahrungs-, bildungs-, sozial- sowie erziehungstheoretisch ausgewiesen. Dabei wird gezeigt, dass Praxen wie Bewegen, Verstehen, Urteilen, Kritisieren und Unterrichten ein- und ausgeübt werden. Im Üben wird zudem das Verhältnis der Übenden zu sich (trans-)formiert. Leibliche, motorische, geistige, meditative, schulische und didaktische Übungen werden systematisch unterschieden und in ihren unterschiedlichen pädagogischen Feldern analysiert.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783170413313
Auflage
1
Thema
Bildung

1 Aspekte einer Theorie des Übens als Praxis und Erfahrung

Ein kleiner Junge strauchelt und kippelt auf seinem roten Fahrrad. Sein Vater hält ihn zunächst am Sattel fest, dann lässt er los. Nach kurzer Zeit kippt der Junge um und fällt hin. Er steigt gleich wieder auf und versucht es erneut. Dieses wiederholt sich mehrfach. Kratzer, Schürfwunden, Tränen und Wut auf das sperrige Fahrrad gehören ebenso dazu wie der Stolz, »es« zu können und es den anderen Kindern und Erwachsenen zu zeigen.
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Abb. 1: Fahrradfahren üben: sich bewegen üben (M. Brinkmann, eigene Aufnahme).
Im Klassenrat der 3a sollen auf Anregung der Lehrerin anlässlich verschiedener Vorfälle die Klassenregeln besprochen werden. Die Schülerinnen und Schüler wollen alle Regeln nochmals auf den Prüfstand stellen und eventuelle Konsequenzen bei Regelbruch gemeinsam festlegen. Sie diskutieren über mögliche Prinzipien der Regelgebung, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, und üben sich im Urteilen.
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Abb. 2: Klassenrat in einer Grundschule: Urteilen üben (Drubig-Photo/Adobe Stock).
Eine Meditierende sitzt im Lotussitz und fokussiert sich auf ihren Atem. Nach einer Weile schweifen ihre Gedanken ab, und sie bemerkt, dass die Konzentration auf den Atemstrom verloren gegangen ist. Sie versucht sich wieder auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Das scheint ihr nicht recht zu gelingen, wie sie später in einem Meditationsprotokoll mitteilt. Der Übungsleiter stellt ihr anschließend Fragen zu ihrem mentalen Zustand und zeigt ihr, wie sie zugleich angespannt und entspannt atmen soll, um zur konzentrierten, fokussierten Atmung zurückkehren zu können.
In einem heterogenen Volkshochschulkurs werden literarische Werke diskutiert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sitzen einander zugewandt. Es geht darum, sowohl den Text als auch die Perspektiven der Anderen zu verstehen. Diese stammen teilweise aus nicht europäischen Kulturkreisen. Die Diskussion ist von Missverständnissen geprägt bei gleichzeitiger Anstrengung, die Perspektiven der Anderen anzuerkennen und mit den eigenen Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Das zeigt sich in Gesten und Gesichtsausdrücken, die das Gesagte untermalen, häufig aber schon vor dem Gesagten gezeigt werden. Sie wirken wie eine Choreographie, die ein leiblich-körperliches Aufeinander-Antworten in Szene setzt. Die Missverständnisse können nicht aufgelöst werden.
Schülerinnen und Schüler sitzen im Unterricht an Mathematikaufgaben. Ihre Köpfe sind über das Heft gebeugt. Der Blick ist fest auf das Blatt gerichtet. Körperlich zeigt sich ein Dreieck bestehend aus Auge, Hand und Blatt. Sie atmen
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Abb. 3: Meditieren üben als achtsames Anhalten des Bewusstseinsstroms (CC0 JD Mason/Unsplash).
dabei, oftmals deutlich vernehmbar, in einem gleichmäßigen Rhythmus. Ihre Körper haben eine angespannte Haltung.
Diese Beispiele aus unterschiedlichen Feldern des Übens stammen aus Projekten der Übungsforschung (Brinkmann 2012), die in Berlin seit 2012 in unterschiedlichen Bereichen betrieben wird.2 Sie stellen exemplarische Praktiken und Erfahrungen im Üben dar. Diese zeigen sich in spezifischen Verkörperungen (vgl. Brinkmann 2020d). An ihnen sollen im Folgenden zunächst wichtige Kennzeichen des Übens herausgearbeitet werden. Diese werden in diesem Kapitel in sieben Punkten überblickshaft und einführend dargestellt und später in den weiteren Kapiteln aufgegriffen und vertieft.
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Abb. 4: Schreiben, Lesen, Rechnen üben als Ein- und Ausüben von Kultur (CC0 Martin Vorel/Libreshot).

1.1 Üben ist eine Praxis des Könnens

Eine Person, die eine Mathematikaufgabe lösen, mit dem Fahrrad fahren oder Tennis spielen, Vokabeln lernen, meditieren, verstehen oder soziale Regeln im Gesprächskreis einhalten will oder soll, kennt vielleicht jeweils die formalen Regeln dafür. Sie weiß, wie gefahren, gerechnet, meditiert, zugehört oder diskutiert wird, und sie weiß auch, dass dafür Konzentration, Geduld und Aufmerksamkeit wichtig sind. Aber sie kann diese Fertigkeiten und Fähigkeiten nicht so ohne weiteres ausführen. Bevor sie sie ausführt, muss sie üben. Das gleiche gilt für Blitzschachspielerinnen und Blitzschachspieler, für Ärztinnen und Ärzte oder Lehrpersonen. Könnerinnen und Könner handeln zunächst intuitiv und eingebunden in eine Situation. Die Situation wird gestalthaft wahrgenommen (Polanyi 1985). Wir nehmen also nicht zuerst isolierte Tatsachen wahr und geben ihnen dann einen Sinn, sondern umgekehrt: Zuerst kommt das sinnhafte Erlebnis des Ganzen der Situation, aus der heraus dann einzelne Teile isoliert werden können (vgl. Merleau-Ponty 1976, Buck 2019). Das wiederum ist die Bedingung dafür, dass Könnerinnen und Könner hochflexibel und mit »konzentrierter Leichtigkeit« agieren (vgl. Neuweg 2006, S. 12).
Um grammatikalische, mathematische, motorische oder soziale Fertigkeiten und Fähigkeiten oder individuelle Haltungen zu erwerben, bedarf es mehr als eines Willens, einer Motivation und mehr als Wissen. Wissen, Motivation, Erkenntnis oder Kognition reichen nicht aus, um etwas zu können. Denn über Motivation und Wissen verfügen die in den o. g. Beispielen erwähnten Personen. Aber sie können es nicht direkt und unmittelbar in die Praxis umsetzen. Können entsteht aus der Praxis in einem wiederholenden und intentionalen Tun, d. h. im Üben. Die Personen im Volkshochschulkurs oder die Kinder der 3a wissen und kennen schon etwas – in diesen Beispielen die Regeln für verständiges Zuhören. Um die eigene Perspektive argumentativ begründen zu können, müssen sie sich im Urteilen üben. Hier wie im Bereich des sozialen Miteinanders oder im Bereich motorischer oder meditativer Praxis reichen Vorsatz, Motivation, Wissen oder Willen nicht aus. Denn um sich gegenseitig achtsam zuhören zu können, müssen sie wiederholend das Verstehen Anderer sowie Aufmerksamkeit und Achtsamkeit einüben. Üben geschieht dadurch, dass man Entsprechendes tut. Dazu müssen sie diese Praxis ausführen. Diese einfache Einsicht, dass Einüben nur im Ausüben wirksam wird, dass Können nur in der Praxis erworben wird, kannten schon die Griechen: »So wird man durch Bauen ein Baumeister, durch Kithara spielen ein Kitharaspieler« – das bemerkt Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« (Aristoteles 1985, S. 27, 1103a; übers. u. modifiziert M. B.). Üben ist daher eine Praxis, die zunächst körperlich bzw. leiblich strukturiert ist. Sie ist aber keineswegs nur auf motorische Fertigkeiten beschränkt. Im Üben werden auch geistige, mentale Fähigkeit ausgeprägt. Im Üben verbinden sich Wissen und Können, Leibliches und Geistiges. Die wiederholende Übung führt zur Ausbildung von Gewohnheit (hexis), Können und Haltung (ethos). Es geht also nicht um Wissen, sondern um Praxis – und, wie ich zeigen werde, um Erfahrung (
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Kap. 4.1). Im Üben ist implizites Wissen, das nicht vollständig auf den Begriff gebracht werden kann, als praktisches Können primär, verbal explizites und formalisiertes Wissen hingegen sekundär (vgl. Neuweg 1999). Nur im leiblichen Tun können mentale, ästhetische und ethische Fähigkeiten, praktische Fertigkeiten, Haltungen und Einstellungen wiederholend erlernt und kultiviert werden. Der Weg dahin ist die wiederholende Übung.
Mit dem Leib beginnt und endet das Üben (
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Kap. 5.1). Üben hat etwas mit der »Einverleibung von Strukturen« (Waldenfels 2001b, S. 166, S. 183) zu tun. Strukturen werden im Folgenden in leibphänomenologischer Bedeutung als »Struktur des Verhaltens« (Merleau-Ponty 1976) verstanden. In einer Struktur- bzw. Gestaltwahrnehmung stehen Teil und Ganzes in einem Entsprechungs- und Verweisungsverhältnis. Folglich ist »Übung (…) Ausbildung, im weitesten Sinne, einer Struktur, nicht die Festigung eines Bandes« (Koffka 1921;
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Kap. 5.1). Diese Strukturen der Bewegung, des Wahrnehmens, des Denkens bzw. Urteilens, des Verstehens und Imaginierens (
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Kap. 8) sind implizit und leiblich strukturiert. Sie können kaum in explizite Regeln übersetzt werden. Gleichwohl sind diese Regeln den Praktikerinnen und Praktikern und professionellen Akteurinnen und Akteuren bekannt. In der Physik zum Beispiel kennt man die Regel, die Radfahrer intuitiv in ihrem leiblichen Tun befolgen.3 Georg Neuweg bemerkt dazu lakonisch: »Der Punkt ist nur: Obwohl die Regel beschreibt, wie es geht, kann man mit ihr nicht lernen, wie es geht« (Neuweg 2006, S. 2). Üben basiert also nicht auf Regeln, sondern auf Praxis und Erfahrung. Im Üben wird ein »Körperschema« auf dem Fundament eines »sensu-motorischen Apriori« (Merleau-Ponty 1976, S. 116) aufgebaut. In diesem Können kommt gewusstes Können (knowing how) und gekonntes Wissen (knowing that) zusammen (vgl. Ryle 1969). Im Üben als leibliche Praxis werden Fertigkeiten und Fähigkeiten ausgebildet und Haltungen kultiviert. Es sind daher weniger Formen des Wissens, der Repräsentation und des Bewusstseins, sondern vielmehr Formen »impliziten« Könnens: Üben bringt gleichsam »Könntnisse« (Prange 1979, S. 117) hervor. Die erfahrene Praktikerin und der erfahrene Praktiker kann etwas, weil sie oder er es geübt hat. Hier zeigt sich bereits der innere Zusammenhang von Erfahrung, Profession, Wiederholung und Übung (
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Kap. 8.5).

1.2 Üben basiert auf Nicht-Können – negative Erfahrungen

Üben und Übungen haben eine lange Geschichte. Die Rekonstruktion vergessener Formen des Übens, die antiken »Technologien des Selbst« und die mittelalterlichen Exerzitien (
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Kap. 5.3 und 8.2) sowie der Blick auf nicht europäische Praktiken des Übens in China (
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Kap. 3) und auf mentale Übungen des Bewusstseins und der Meditation (
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Kap. 6) zeigen die Vielfältigkeit und Produktivität des Übens. Die kulturgeschichtliche und genealogische Perspektive auf die Praxen des Übens relativiert den modernen Fortschritts- und Machbarkeitsmythos. Die Geschichte der Übung (
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Kap. 2) macht deutlich, dass erst in der europäischen Moderne mit Üben vornehmlich Erfolg, Leistung, Perfektionierung und Optimierung verbunden wird. Die...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1 Aspekte einer Theorie des Übens als Praxis und Erfahrung
  7. 2 Geschichte des Übens
  8. 3 Üben in China
  9. 4 Erfahrung, Lernen, Üben
  10. 5 Strukturen des Übens
  11. 6 Sich selbst üben
  12. 7 Mit anderen üben – Didaktik der Übung
  13. 8 Felder des Übens