“I am so glad I spent that time at Mabery Road, because I would never have quite realized what a marvellous woman you are.”
CHRISTOPHER ISHERWOOD
Der Salon der Exilkünstler in Kalifornien
Illustration 1: Foto von Salka Viertel. © Katharina Prager, (2018). Berthold Viertel: Eine Biografie der Wiener Moderne. Wien: Böhlau Verlag.
Vorwort
Salka Viertel (Sambir, 1889 - Klosters, 1978) war eine jüdische Schauspielerin und Drehbuchautorin. Sie heiratete den Lyriker, Film- und Theaterregisseur Berthold Viertel, mit dem sie drei Kinder hatte. Wie viele andere Ehefrauen von europäischen Künstlern und Intellektuellen emigrierte sie mit ihrem Mann in die USA, als dieser einen Vertrag in Hollywood angeboten bekam und Kalifornien sich zum Mekka des Filmbusiness entwickelte. Dort, an der Küste des Pazifischen Ozeans, rief Salka einen renommierten Salon ins Leben, in dem prominente Künstler ein- und ausgingen. In den Zeiten von Hitlers Machtübernahme beherbergte sie zahlreiche Europäer, die vor dem Nationalsozialismus in Deutschland flüchteten. Salka lebte damals getrennt von ihrem Mann und wurde von Metro-Goldwyn-Mayer als Drehbuchautorin für die schwedische Schauspielerin Greta Garbo eingestellt, zu der sie eine enge Freundschaft entwickelte. Mit dem Beginn des Kalten Krieges wurde Salka jedoch verdächtigt, Anhängerin des Kommunismus zu sein, woraufhin ihr die Türen der Filmstudios verschlossen blieben, so dass sie ihrem Beruf nicht länger nachgehen konnte. Die willkürliche Hexenjagd auf Ausländer und die Einschränkung ihrer Freiheiten, mit der die amerikanische Politik sich gegen diejenigen wendete, denen sie Jahrzehnte zuvor noch eine glänzende Zukunft versprochen hatte, bedeuteten für Salka das Ende ihres amerikanischen Traums und ihre Rückkehr nach Europa, wo sie in der Schweiz zum zweiten Mal im Exil lebte.
Salka Viertel erlebte den Holocaust aus der Fremde und auch viele andere jüdische Frauen aus dieser Epoche, seien es nun deutschsprachige Drehbuchautorinnen, Schriftstellerinnen oder Dichterinnen wie Vicki Baum, Gina Kaus, Hilde Spiel, Nelly Sachs oder Else Lasker-Schüler, ergriffen die Flucht oder wurden in ein Konzentrationslager gebracht, wie die junge Ruth Klüger, die nach Auschwitz deportiert wurde. Sie alle verspürten den Drang, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, um durch ihren Lebensweg, der so eng mit den Ereignissen dieser Epoche verstrickt war, auch über das Dasein ihrer Zeitgenossen zu berichten.
Im April 1969 veröffentlichte Salka Viertel ihre Memoiren auf Englisch. Der Titel lautete The Kindness of Strangers, da sie sich nach eigener Angabe immer auf die Güte von Fremden verlassen hatte. Ihre Worte waren eine Anspielung auf die Figur der Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht. Ein Jahr später erschien die deutsche Fassung, die sich von dem ursprünglichen Titel löste und lieber Das unbelehrbare Herz der Autorin betonte, doch der Bezug auf Tennessee Williams berühmtes Werk blieb weiterhin bestehen und zwar an der Stelle, an welcher der Mangel an moralischer Geradlinigkeit der Figur diskutiert wird und die Antwort daraufhin lautet: „Was ist schon Geradlinigkeit? Eine Linie kann gerade sein, oder eine Straße… aber ein menschliches Herz?”1 Die einzige spanische Fassung ließ noch länger auf sich warten und erschien erst im Jahr 1995 bei Ediciones del Imán. Der Titel wurde erneut verändert und nahm mit Die Zuwanderer der Mabery Road2 Bezug auf die Straße, in der Salka Viertel in Santa Monica lebte und die der Treffpunkt der europäischen Intellektuellen im Exil war. Die Publikation, deren Vorwort Salkas mittlerer Sohn, der Schriftsteller Peter Viertel, verfasste, fand jedoch ebenso wie frühere Versionen nur eine geringe Verbreitung.
Salka Viertel berichtet in ihrer Autobiographie mit scharfsinnigem Blick von den verschiedenen Ereignissen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. Ihr Buch ist eine Chronik von erheblicher historischer und politischer Bedeutung, auch wenn es nach der Veröffentlichung wenig Beachtung erhielt, was jedoch vermutlich unter anderem auf den Umstand zurückzuführen ist, dass es von einer Frau geschrieben wurde. Es gibt jedoch noch einen weiteren, möglicherweise entscheidenden Grund und zwar den, dass Salka sich im Hinblick auf ihr Privatleben sehr bedeckt hielt. Sie bewahrte die ihr anvertrauten Erfahrungen vieler Freunde lieber für sich und verschwieg sogar, um niemanden bloßzustellen, den Namen mancher berühmten Persönlichkeit, die sich in ihrem Haus aufgehalten hatte.
Im Laufe der Zeit verfassten jedoch einige dieser Freunde ebenfalls ihre Memoiren und verwiesen an der einen oder anderen Stelle auf Salka. Diese Werke sind im Literaturverzeichnis aufgeführt, ebenso wie verschiedene Dokumente aus internationalen Archiven und Bibliotheken wie dem Deutschen Literaturarchiv von Marbach, der University of Southern California von Los Angeles, der Margaret Herrick Library und der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences von Beverly Hills, The Rosenbach Museum & Library von Philadelphia, der Deutschen Nationalbibliothek und dem Deutschen Exilarchiv 1933-1945 in Frankfurt am Main, der Library of Congress in Washington, der Franklin D. Roosevelt Presidential Library in New York, der Deutschen Kinemathek in Berlin, dem Jewish Museum in New York oder dem Archiv der Akademie der Künste in Berlin. Sie schildern das Leben einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus war und ihren Platz in der Geschichte verdient.
Mein Dank gilt allen Personen, die einen Teil dieser Geschichte aufgezeichnet und mich bei meinen Forschungen unterstützt haben, indem sie mir Dokumente zur Verfügung stellten, meine Fragen beantworteten oder ihr Einverständnis für die Publikation erteilten. Ich bedanke mich herzlich für die erhaltene Unterstützung und nicht zuletzt für die Freundlichkeit von Michaela Ullmann (University of Southern California); Kristine Krueger (Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Margaret Herrick Library); Dr. Marcel Lepper, Thomas Kemme und Dörthe Perlenfein (Deutsches Literaturarchiv Marbach); Michael Schwarz und Sabine Wolf (Akademie der Künste); Regina Elzner (Deutsche Nationalbibliothek); Rosemary Hanes (Library of Congress); William Baehr (Franklin D. Roosevelt Presidential Library); Thomas Kuhnke; Andrew Viertel; Katharina Prager; Don Bachardy; Phyllis Green (The Christopher Isherwood Foundation); Scott Reisfield; Alexandra Tyrolf; Mark A. Vieira; Robert A. Schanke; Nina Bahrendt (Villa Aurora); John (GarboForever); Elizabeth E. Fuller (The Rosenbach Library); Daniela Maurer (Israelitische Kulturgemeinde Wien); Małgorzata Budzyńska, Alan Schwartz und David Behrman. Selbstverständlich gilt mein Dank auch Lena Pasternak und Patrik Muskos (Baltic Centre), die an mein Projekt geglaubt und mir ein Aufenthaltsstipendium in Visby, Schweden, gewährt haben, um an dieser Biographie zu arbeiten.
Salka Steuermann
Salka Viertel, geborene Salomea Sara Steuermann, kommt am 15. Juni 1889 als Tochter einer jüdischen Familie in Wychylowka zur Welt, einem Vorort von Sambir3 in der Provinz Galizien, die damals Teil des österreichisch-ungarischen Reiches war, später zu Polen gehörte und heutzutage in der Ukraine liegt. Sambir ist zum Ende des 19. Jahrhunderts eine kleine Stadt mit 25.000 Einwohnern, in der Ukrainer, Polen und Juden gemeinsam leben. Ihr Vater, Josef Steuermann, besitzt eine Anwaltskanzlei und wird zum ersten jüdischen Bürgermeister der Stadt gewählt. Ihre Mutter Augusta wollte ursprünglich Opernsängerin werden, gibt diesen Traum jedoch unvermittelt auf. Mit ihrer blassen Haut, den hellen Augen und dem blonden Haar hätte man sie leicht für eine Arierin halten können. Salka ist die Älteste von vier Geschwistern. Ihre Schwester Rose wird 1891 geboren; Edward im Jahr 1892; der jüngste Bruder Zygmunt mit dem Spitznamen Dusko kommt 1898 zur Welt.
Ihre Kindheit ist geprägt durch den Lebensstil einer wohlhabenden, jüdischen, aber nicht gläubigen Familie, in der die Schönen Künste geschätzt werden und eine bereits von den Urgroßeltern zelebrierte Begeisterung für die Musik herrscht. Da sie zwei Kilometer von Sambir entfernt auf dem Land leben, gehen die Kinder nicht zur Schule und werden stattdessen von einigen deutschen und französischen Lehrerinnen unterrichtet. Salka beherrscht beide Sprachen fließend, zusätzlich zu der polnischen und ukrainischen Sprache, die in ihrer Familie gesprochen wird und in der sie sich mit Niania verständigt, ihrem Kindermädchen, das weder lesen noch schreiben kann und sich wie eine zweite Mutter um sie kümmert. Sie verbringt eine glückliche Kindheit in Wychylowka, einem Ort inmitten einer idyllischen Landschaft mit Wäldern, einem Fluss, einem Gemüsegarten mit zahlreichen Obstbäumen und am Horizont das grüne Bergpanorama der Karpaten, deren Gipfel je nach Jahreszeit erdfarben oder schneebedeckt sind.
In jungen Jahren wird das Buch Maria Stuart von Friedrich Schiller zu ihrem treuen Begleiter und sorgt dafür, dass Salka ihre Leidenschaft für das Theater entdeckt. Sie liebt die Rolle der Maria I. Königin von Schottland, beherrscht den Text auswendig und rezitiert ihn zu Hause vor ihren Geschwistern und den Hausangestellten. Die älteren Familienmitglieder reagieren darauf mit einer gewissen Zurückhaltung; möglicherweise, weil Salkas rebellischer Charakter sie befürchten lässt, dass ihr zukünftiger Lebensweg auf die Theaterbühne führen könnte. Diese Vorstellung missfällt ihnen und Schauspielerin scheint ihnen kein angemessener Beruf für eine Frau zu sein. Wenn Salka Texte rezitiert, kommt es vor, dass die Frauen ihrer Familie sich über sie lustig machen, auf ihren zweiten Namen Sara anspielen – genau wie die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt! – und sie regelrecht auslachen. Ihr Vater lauscht jedoch aufmerksam dieser Maria Stuart, die zwar etwas frühreif, aber liebenswert und voller Begeisterung ist. Salkas graue Augen blitzen angesichts neuer Entdeckungen voller Neugier und können gleich darauf von Melancholie getrübt sein. Ihr rötliches Haar, das sie üblicherweise als wilde Pracht trägt, steckt sie zu gewissen Gelegenheiten ordentlich zurück, ebenso wie auf der Fotografie in diesem Buch. Im Laufe ihrer zukünftigen Karriere als Schauspielerin wird es sie einige Mühe kosten, die Rolle der schottischen Königin zu spielen. Nicht nur, weil es sich um eine begehrte Rolle handelt, die erfahrenen und berühmten Schauspielerinnen vorbehalten ist, sondern auch, weil sie auf dieser improvisierten Bühne im Kreis der Familie damit konfrontiert wird, dass man sie nicht für eine Schönheit hält und nicht einmal ihre anmutige Gebärde am Schluss der Darbietung zu würdigen weiß. Ihre Schwester Rose hingegen muss nur dasitzen ohne etwas Besonderes zu tun, um sämtliche weiblichen Familienmitglieder von ihrer unglaublichen Schönheit schwärmen zu lassen.
Im Alter von zehn Jahren zeigt sich bei Salka eine verstärkte Krümmung der Wirbelsäule und um diese zu korrigieren, besucht sie das Orthopädische Institut der schönen Stadt Lwiw. Dort findet auch Schulunterricht statt, die religiöse Unterweisung ist jedoch freiwillig und es wird eine gemischte Schülerschaft aufgenommen, was für die damalige Zeit eher unüblich war. Das Zentrum wird von zwei Flüchtlingen aus dem russischen Sektor in Polen geleitet. Schon bald wecken die Themen der polnischen Geschichte und Literatur, die Madame Dalecka lehrt, die Kreativität der jungen Salka und sie beginnt, Erzählungen und Gedichte von melancholisch-patriotischer Natur zu verfassen. In den naturwissenschaftlichen Fächern weist sie hingegen einige Defizite auf.
Ihre Leidenschaft für die Literatur lässt sie Bücher von George Sand wie Indiana verschlingen, dessen Inhalt ihrer Großmutter und den meisten anderen älteren Frauen skandalös erscheint. Sie rezitiert William Shakespeare, den polnischen Dichter Juliusz Słowacki und als Jugendliche verstärkt sich der Wunsch, Schauspielerin zu werden. Ihre Mutter und ihre Tanten haben jedoch andere Vorstellungen und versuchen, Salkas Aufmerksamkeit vermehrt auf die Aussteuer zu lenken, da sie hoffen, dass sie sich angesichts all der hübschen Dinge mehr auf das Dasein als Ehefrau freuen und das Theater vergessen würde...