Einführung in die Katholische Soziallehre
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Einführung in die Katholische Soziallehre

Kompass für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

  1. 144 Seiten
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Einführung in die Katholische Soziallehre

Kompass für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

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Über dieses Buch

Was sind Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander? Wie lassen sich soziale Konflikte überwinden und Gerechtigkeit herstellen? Diese und viele weitere soziale Fragen behandelt die Katholische Soziallehre. Sie gibt dazu kein starres Programm vor, schon gar keine parteipolitische Agenda. Aber sie bietet grundlegende Orientierungen für die Praxis in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Diesen vielseitigen, doch oft vergessenen sozialen Kompass möchte Markus Schlagnitweit aus seiner langjährigen Erfahrung in der sozialen und politischen Erwachsenenbildung neu ans Licht heben. Seine kompakte Einführung vereint die Darstellung der klassischen Prinzipien der Katholischen Soziallehre mit einem Überblick über ihre Geschichte bis hin zu ihren neuesten Entwicklungen.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783451824289

1. Kompasskunde: Grundlagen der Katholischen Soziallehre

Was bedeutet »Katholische Soziallehre«?

Wenn man einen Kompass bloß als »Orientierungshilfe« beschreibt, so ist das zwar nicht falsch, aber auch nicht sonderlich präzise: Es könnte damit genauso gut ein Wegweiser, eine Navigations-App, ein Leuchtturm oder eine auffällige Landmarke gemeint sein. In meiner langjährigen erwachsenenbildnerischen Tätigkeit in der Vermittlung der Katholischen Soziallehre (KSL) ist mir jedenfalls aufgefallen, dass dieser Begriff für viele Menschen mit höchst unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt bzw. assoziiert ist: Manche identifizieren die KSL mehr oder weniger mit den Programmen von Parteien aus dem (zumindest historisch betrachtet) christlich-sozialen Spektrum. Für andere verweist der Begriff auf die konkrete sozial(-karitativ)e und politische Praxis der (katholischen) Kirche. Wieder andere verstehen darunter v. a. eine durch Dialog, Teilhabe und Ermächtigung gekennzeichnete Spielart gesellschaftspolitischer Praxis bzw. Prozesse. Für die allermeisten, auch ausdrücklich »kirchennahen« Menschen ist der Begriff aber generell derart unscharf und diffus, dass man einem alten Kalauer recht geben muss, dem zufolge die KSL überhaupt »das größte Geheimnis der katholischen Kirche« darstellt.
Ich möchte diesem Buch eine Definition zugrunde legen, die auf den Jesuiten Oswald von Nell-Breuning zurückgeht, einen der einflussreichsten und profiliertesten katholischen Sozialdenker des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum:
Die Katholische Soziallehre ist die aus dem katholischen Glauben abgeleitete oder mit diesem zumindest nicht in Widerspruch stehende, in Dokumenten des kirchlichen Lehramtes anlassorientiert niedergelegte, in katholischen »Denkschulen« bzw. von bedeutenden katholischen Autoren vertretene Lehre vom Sozialen im weitesten Wortsinn.[2]

… aus dem katholischen Glauben abgeleitet oder mit diesem zumindest nicht in Widerspruch stehend …

In den biblischen Quellen des christlichen Glaubens finden sich zwar durchaus Hinweise zu einer Ordnung des menschlichen Lebens innerhalb einer Gemeinschaft. So tragen etwa manche Passagen aus den mosaischen Gesetzestexten des Ersten Testaments oder den Pastoralbriefen des Neuen Testaments durchaus den Charakter einer frühen Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung.[3] Dennoch unterscheiden sich erstens die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten im historischen wie kulturellen Kontext dieser biblischen Schriften zu sehr von den Strukturen und Lebensbedingungen moderner Gesellschaften, als dass eine simple Übertragung auf diese möglich und sinnvoll wäre.
Zweitens – und das trifft insbesondere auf die Schriften des Neuen Testaments zu – liegt die Grundintention der biblischen Texte nicht in einer Ordnung des Gesellschaftslebens: Die frühe Christenheit rechnete mit einem nahen, mit der Wiederkunft des Messias verbundenen Ende der Welt (»Parusie«) und versuchte, sich darauf v. a. mit persönlicher Umkehr und Lebensstiländerung – also eher auf individual-, denn sozialethischer Ebene – vorzubereiten. Erst als diese Naherwartung des Weltendes zusehends enttäuscht wurde, begann das junge Christentum, sich »in dieser Welt einzurichten« und also auch mit Fragen eines guten und dauerhaften sozialen Zusammenlebens auf Grundlage der jesuanischen Botschaft vom Gottesreich zu befassen. Erst allmählich setzte sich also die Überzeugung durch, dass Christsein auch etwas mit aktiver Mitgestaltung des wirtschaftlichen, politischen und generell sozialen Lebens auf diesem Planeten zu tun habe. In der Folge behandelten bereits theologische Lehrer bzw. Schulen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte in ihren Schriften auch Fragen der (sozialen) Gerechtigkeit, des Rechts auf Privateigentum, der sittlichen Erlaubtheit des Zinswesens, der Aufgabe und Kompetenz des Staates bzw. politischer Autoritäten, der Austragung sozialer und politischer Konflikte etc. Sie begründeten damit eine originäre Tradition christlichen Sozialdenkens.
Viele der darin verhandelten Themenfelder werden natürlich auch in der neuzeitlichen KSL aufgegriffen und behandelt. Dennoch sind die – großteils noch vereinzelten und wenig systematischen – Elemente der älteren christlichen Sozialethik kaum mehr übertragbar auf die Verhältnisse der Gegenwart. Es fehlt ihnen noch weitgehend die durch die modernen Sozialwissenschaften erhärtete Einsicht, dass Probleme der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Ordnung nie nur eine Frage des individuellen Sozialverhaltens sind, sondern immer auch eine Frage der gemeinschaftlichen und also politischen Gestaltung sozialer Verhältnisse, gesellschaftlicher Strukturen und rechtlicher wie wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. V. a. aber fußen ältere Traditionsstränge einer christlichen Sozialethik vielfach noch auf der Vorstellung weitgehend geschlossener, insbesondere religiös (und also auch moralisch) homogener Gesellschaften.
Die neuzeitliche KSL sieht sich dagegen mit der Komplexität wachsender gesellschaftlicher, kultureller und weltanschaulicher Differenzierung, Pluralität und Mobilität konfrontiert und dadurch genötigt, in Anerkennung dieser Tatsache ihren Geltungsanspruch weit über den Rahmen rein christlichen Gemeinschaftslebens hinaus zu formulieren. Als das »Ursprungsdatum« der modernen KSL gilt deshalb gemeinhin das Erscheinungsjahr der päpstlichen Enzyklika (= Rundschreiben) Rerum novarum (RN), die Leo XIII. 1891 vor dem Hintergrund der weltweit die Gesellschaften sozial wie kulturell umwälzenden industriellen Revolution im 19. Jahrhundert veröffentlichte. Die Kirche erkennt darin (aus heutiger Sicht relativ spät) an, dass sie ihre soziale Verkündigung so zu begründen und zu formulieren hat, dass damit auch potenzielle nicht-christliche Dialogpartner adressiert werden können. Eine unilaterale, direkte Ableitung ihrer Soziallehre ausschließlich aus katholischen Glaubenssätzen bzw. -quellen könnte diesem Anspruch unmöglich genügen. Sie musste ihre Sozialverkündigung vielmehr so formulieren, dass ihre Argumente und Inhalte auch ohne ausdrücklichen Rekurs auf katholische Glaubensgrundlagen nachvollzieh- und annehmbar wären, ohne dieselben freilich zu verraten oder gar in Widerspruch dazu zu treten.
Jahrzehnte lang bediente sich die KSL dazu eines philosophisch-naturrechtlichen Ansatzes. Sie glaubte, ihre Begründung und Legitimation einerseits »nach innen« in den unverrückbaren, nicht weiter verhandelbaren Glaubenswahrheiten zu besitzen und andererseits »nach außen« in deren »Verobjektivierung« im Naturrecht. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass sich aus der menschlichen Natur – für gläubige Christen in Jesus Christus endgültig und unüberbietbar geoffenbart und von der Kirche authentisch und vollständig interpretiert und verkündet, für Nicht-Christen allgemein und allein durch den Gebrauch der Vernunft erkennbar – auch ewige und unbedingte Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben des Menschen ableiten ließen.
Dieser faktisch als unhinterfragbar postulierte Naturbegriff fiel in der jüngeren Vergangenheit allerdings wachsender – auch wissenschaftlich begründeter – Kritik und Infragestellung anheim. Von außerhalb der Kirche stellte diese Kritik v. a. darauf ab, dass ein so formuliertes normatives Naturrecht die wissenschaftliche Erforschung empirischer Tatbestände de facto obsolet mache, ja, dass es daraus allfällig gewonnene neue Erkenntnisse als solche gar nicht geben könne. Innerkirchlich regte sich Widerstand dahingehend, dass dieser spekulative Naturrechtsansatz praktisch ohne jede Bezugnahme auf die biblischen Quellen des Glaubens auszukommen vorgab. Insbesondere der französische Dominikaner Marie-Dominique Chenu, einer der einflussreichsten theologischen Berater des 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965), verwies in scharfer Weise auf die dergestalt subtil verborgene Ideologisierung der KSL unter dem Deckmantel einer vorgeblich objektiven Wahrheit.[4]
Vor dem Hintergrund dieser massiven Kritik und Infragestellung einer rein naturrechtlichen Begründung der KSL rekurrieren jüngere Dokumente der KSL – beginnend mit den Lehrschreiben Johannes’ XXIII. und besonders deutlich in den kirchlichen Sozialtexten ab Johannes Paul II. – in ihrer Argumentation nicht mehr so stark auf vermeintlich objektiv und allgemein gültige, im Licht der Vernunft »leicht erkennbare« natürliche Grundlagen. Sie suchen den Dialog über soziale Fragen vielmehr »mit offenem Visier« und auf Augenhöhe, indem sie die religiösen Wurzeln und Begründungen ihres Menschen- und Gesellschaftsbildes offen deklarieren; in der Folge vertreten sie die daraus abgeleiteten Schlüsse als eben auf dem Fundament der Heiligen Schrift sowie der kirchlichen Tradition gründende, spezifisch katholische Position im pluralistischen Diskurs gesellschaftspolitischer Werte, Prinzipien, Ideen und Interessen.

… in Dokumenten des kirchlichen Lehramtes …

Als die wohl wichtigsten Quellen und zentralen Landmarken der KSL haben die Lehr- bzw. Rundschreiben zu sozialethischen Fragen und Themen der Päpste seit Leo XIII. zu gelten. Die Veröffentlichung dieser päpstlichen Sozialenzykliken erfolgte in unregelmäßigen Abständen. Selbst die anfängliche Tradition, ein »rundes« Jahresjubiläum des Erscheinens von RN zum Anlass dafür zu nehmen, wurde durch die »Einschiebung« weiterer Dokumente außerhalb solcher »Gedenkjahre« bald und in jüngerer Zeit besonders häufig durchbrochen. Letztlich trieben doch eindeutig wichtigere Anlässe als die bloße Wiederkehr eines Jahrestags die Fortschreibung und laufende Erweiterung der KSL voran: nämlich wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse, Entwicklungen und Phänomene von Relevanz für das gesellschaftliche Zusammenleben in dieser Welt bzw. in einzelnen ihrer Regionen.
Mit dieser regionalen Einschränkung ist auch angedeutet, dass nicht nur Dokumente des päpstlichen Lehramtes mit ihrem weltweiten Geltungsanspruch den Gesamt-Corpus der KSL ausmachen, sondern genauso Äußerungen regionaler oder nationaler Bischofskonferenzen, gelegentlich – wie etwa im Falle des Sozialwortes des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich aus dem Jahr 2003 – auch in Kooperation mit christlichen Schwesterkirchen. Die Bedeutung dieser »kleineren« Dokumente der KSL liegt neben dieser bisweilen ökumenischen Dimension v. a. darin, dass sie – ausgehend von den in den »großen« päpstlichen bzw. weltkirchlichen Soziallehre-Dokumenten dargelegten sozialen Grundprinzipien und -normen – die KSL in konkretere soziale, politische und kulturelle Kontexte hinein übersetzen.[5] Sie nehmen damit eine wichtige Rolle für die Transmission der großen theoretischen Leitideen der KSL in die gesellschafts- und realpolitische Praxis der Kirche(n) bzw. in ihre konkreten gesellschaftlichen Kontexte wahr. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass viele dieser regionalen KSL-Dokumente ihre Ausformulierung nicht in wissenschaftlichen Gelehrtenstuben oder kirchlichen Organisations- und Gremialbüros erfuhren, sondern als Frucht oft breit angelegter Dialogprozesse unter Beteiligung kirchlicher wie nicht-kirchlicher Akteure aus unterschiedlichen politischen und sozialen Lagern.[6]

… anlassorientiert niedergelegt …

Blickt man auf die rund 130-jährige Geschichte der KSL, wird deutlich, dass diese sich von Anfang an gewissermaßen als ein »antizyklisches« Korrektiv zu dominanten gesellschaftspolitischen Tendenzen bzw. Ideologien ihrer jeweiligen Gegenwart entwickelt hat. Von Beginn an ist die KSL nicht – wie manch andere Äußerungen des kirchlichen Lehramts – mit dem Impetus eines unverrückbaren, ewig gültigen und in sich abgeschlossenen Lehrgebäudes aufgetreten. Sie will vielmehr als zeitgemäße Antwort auf soziale Fragen in einem je spezifischen zeitgeschichtlichen Horizont verstanden werden[7] oder – wie es der Titel von Johannes Schaschings Studie zur Sozialenzyklika Quadragesimo anno (QA, 1931) treffend benennt – als »zeitgerecht – zeitbedingt«.[8]
Diese zeitgeschichtliche Bedingtheit gilt aber nicht nur für die formale Entstehung und Weiterentwicklung der KSL. Selbstverständlich sind auch ihre Inhalte in dieser sozialgeschichtlichen Kontextualität und Dynamik zu lesen, zu interpretieren und in Anwendung zu bringen. Auch sie sind – einmal formuliert und niedergeschrieben – nicht unterschiedslos als kontextlos-abstrakte bzw. ewig gültige Wahrheiten zu verstehen, sondern als Aussagen und Positionen mit einem konkreten »Sitz im Leben«. Andernfalls würde die KSL der Gefahr preisgegeben, nur zu einer weiteren unter anderen gesellschaftspolitischen Ideologien zu »verkommen« bzw. ideologisch vereinnahmt zu werden.
Exkurs
Ich möchte das Gesagte beispielhaft anhand eines zentralen Themas der »Gründungsenzyklika« Rerum novarum (1891) veranschaulichen: der Frage nach dem Recht auf Privateigentum. Die Enzyklika, die sich die Behandlung der Arbeiterfrage des späten 19. Jahrhunderts zum Gegenstand gemacht hat, greift – im Kontext gerade dieser Thematik zunächst einigermaßen überraschend – gleich zu Beginn die Eigentumsfrage auf und affirmiert in weiterer Folge eindeutig ein Recht auf Privateigentum. Die prominente Fokussierung auf dieses Thema hat in der Rezeptionsgeschichte der Enzyklika nicht wenig Irritation ausgelöst und ihr auch viel Kritik eingebracht. Sie ist indes nur zu verstehen als Ausdruck dafür, dass Leo XIII. seine Enzyklika zwar als eindeutige Position zugunsten der gesellschaftlichen Integration der Arbeiterschaft verstanden wissen wollte – allerdings in bewusster Opposition zur sozialistischen Arbeiterbewegung jener Zeit, welche ein Recht auf Privateigentum grundsätzlich bestritt (vgl. RN 3[9]).
Es ist in weiterer Folge nicht ausgeblieben, dass bestimmte gesellschaftspolitische Kräfte, denen an der rechtlichen Tabuisierung des Privateigentums gelegen war, meinten, dieses Interesse mit Berufung auf die päpstliche Enzyklika untermauern zu können, und einzelne ihrer Abschnitte einfach in diesem Sinne lasen. Zu Unrecht! Tatsächlich affirmierten RN und spätere Dokumente der KSL das Recht auf Privateigentum zwar mit der Begründung, Privatbesitz allein vermittle »den unbedingt nötigen Raum für eigenverantwortliche Gestaltung des persönlichen Lebens […] als eine Art Verlängerung der menschlichen Freiheit« (GS 71). Dazu kommen noch v. a. von Thomas von Aquin hergeleitete »praktisch-empirische« Rechtfertigungsgründe für ein Recht auf Privateigentum: Erstens behandelt man Dinge, die einem gehören, besser als Dinge, die einem nicht oder gemeinsam mit (vielen) anderen gehören, was einen pfleglicheren – heute würde man auch sagen »nachhaltigeren« – Umgang mit Gütern und Ressourcen gewährleistet; zweitens haben persönliche Zuständigkeiten bzw. Verantwortlichkeiten in der Regel zur Folge, dass wirtschaftliche Prozesse organisatorisch-technisch und rechtlich besser geordnet, also auch ökonomisch effizienter und damit wieder ressourcenschonender ablaufen; drittens kann privater Besitz – sofern er nicht über die Maßen ungleich verteilt ist – auch einen Beitrag zu sozialem Frieden bedeuten, wenn also jeder Mensch über Eigentum verfügt und damit zufrieden ist. Ein Recht auf Privateigentum wäre demnach als notwendige Bedingung der Möglichkeit eigenverantwortlichen – und d. h. personal-sittlichen – Handelns im Bereich des Wirtschaftslebens unbedingt anzuerkennen. Zugleich legt die KSL mit diesen Argumenten auch ein deutliches Bekenntnis zu privatwirtschaftlichem Unternehmertum ab.
Allerdings – und darauf kommt es mir an dieser Stelle an – sind diese Affirmationen immer auch als Widerspruch zu Positionen zu lesen, welche ein Recht auf Privateigentum überhaupt negieren! Tatsächlich wurde in der kirchlichen Sozialtradition dieses Recht aber niemals absolut verstanden: Das Recht auf Privateigentum gilt nur unter Maßgabe des vorrangigen Grundaxioms der universellen (göttlichen) Bestimmung der Güter für alle Menschen. Im Klartext: Wo durch das Privateigentum Einzelner anderen Menschen das zu einer menschenwürdigen Existenz Notwendige vorenthalten wird, verliert das Privateigentum auch seine Unantastbarkeit. Das Recht auf Privateigentum begründet also niemals einen absoluten, unantastbaren Besitzanspruch, sondern gilt immer nur, soweit es die notwendige Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns sowie sach-, menschen- und gesellschaftsgerechten Wirtschaftens darstellt.
Eine ähnliche zeitgeschichtliche, aber auch sozialwissenschaftliche Einbettung bzw. Kontextualisierung ist auch im Umgang mit den klassischen Grundprinzipien der KSL – Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl – zu beachten. Nicht selten kommt es allerdings vor, dass gesellschaftspolitische Akteure sich einzelner dieser Grundprinzipien lediglich bedienen, um mit Berufung auf zumeist aus dem Kontext gerissene Passagen päpstlicher Dokumente einfach eigene Positionen »abzusegnen«. Auf christlich-sozialer Seite wird diesbezüglich besonders gerne das Subsidiaritätsprinzip (auch unter dem verkürzenden Schlagwort »Prinzip Eigenverantwortung«) ins Treffen geführt, auf sozialdemokratischer Seite das Solidaritätsprinzip. Gelegentlich vermittelt dieses Vorgehen den Eindruck, man bediene sich an der KSL nach Art eines Steinbruchs, aus dem man sich nach Belieben die passenden »Brocken« herausholt. Tatsächlich verkennt so ein Umgang den kontextuell-antizyklischen Charakter der gesamten KSL, der sich auch im Ensemble ihrer Grundprinzipien widerspiegelt.
Bei genauer Betrachtung fällt nämlich auf, dass auch die Ausformulierung der zentralen Grundprinzipien der KSL immer in einem ganz bestimmten zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext geschieht – und zwar als Gegenposition zu einer in der jeweiligen Zeit gerade...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. VORWORT
  6. 1. Kompasskunde: Grundlagen der Katholischen Soziallehre
  7. 2. Kartenmaterial: Weltkirchliche Soziallehre-Dokumente im Überblick
  8. 3. Fixsterne: Prinzipien der Katholischen Soziallehre
  9. Die Fundamentalprinzipien – 4 Haupthimmelsrichtungen
  10. Abgeleitete (Sub-)Prinzipien der Soziallehre-Praxis
  11. NACHWORT
  12. DANKSAGUNG
  13. ABKÜRZUNGEN
  14. QUELLEN & LITERATUR
  15. Anmerkungen