Am Grunde des Flusses
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Am Grunde des Flusses

Erzählungen

  1. 144 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
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Am Grunde des Flusses

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Nicht wie geschrieben, sondern wie mit Sprache gemalt wirken Jamaica Kincaids Erzählungen, in denen sie Bilder und Stimmungen ihrer Kindheit auf der karibischen Insel Antigua heraufbeschwört. Mit eigenwilligem Strich malt sie die äußere Welt, die Blumen, die Tiere, das Meer, und die innere, die Ängste und Sehnsüchte des heranwachsenden Mädchens, das mit der Wucht seiner Gefühle ringt, mit der Übermacht der Mutter, mit dem Auseinanderklaffen von Phantasie, Traum und Wirklichkeit.Niemand hätte Jamaica Kincaids Sprache in der deutschen Übersetzung so gerecht werden können wie die Dichterin Sarah Kirsch.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783311702061

Am Grunde des Flusses

Das ist das Gelände. Die steilsten Berge, dick bewachsen, wobei gewaltige, scharfe Felsen die größte Gefahr abgeben und nur die tapfersten, geschicktesten, durchtriebensten menschlichen Füße es wagen könnten sich zu erkühnen, wo ein mächtiger Strom seinen Platz finden würde und in abenteuerlicher Bewegung, begierig, sich breit und kräftig zu sehn, Krümmungen und Kurven und Senkungen in vielen Richtungen ausfüllt, einen willkommenen, einfachen Weg betreibt für jedes träge Rinnsal, jeden plätschernden Bach, jeden Regentropfen, der auf das abschüssige Land fällt. Und dieser Fluss, der endlich zu einem großen, schnell fließenden Wasserlauf wird, stürzt mit einem Dröhnen, einer Lautstärke, gewaltiger schon als das Gegenteil völliger Stille, jäh über ein Wehr und eilt durchs trockene flache Land in unvollendeten Kurven, wie sie ein Kind herstellen mag, das ein Spielzeug hinter sich nachschleppt. Dann hält sich der Fluss an die vorgeschriebenen Pfade, durchkreuzt die Ebene skrupellos, nimmt den steilen Grat und das grasreiche Bett. Tagelang kann ein Strom so fließen, und schließlich windet er sich zu einer Schlucht hin, tief in die Erde gegraben, findet ein Becken ermesslicher Tiefe und Breite, staut sich im abgründigen Kessel. Jetzt bricht die Dämmerung an, der Tag ist vorbei, der Strom fließt ruhig, kräuselt sich sanft, dass die Bäume sicher auf den Sandbänken wachsen, die Rinde weiß, die Stämme geneigt, die Zweige mit Blättern bedeckt bis in den Himmel. Sie werden von der Tiefe widergespiegelt, erwarten das Auge, die Hand, den Fuß, welche allem eine Bedeutung erst geben.
Und welche sollte es sein? Denn jetzt ist hier nur ein Mann, der sich in einer Welt befindet, die ihrer Natur längst beraubt ist. Er liegt in einem kleinen Zimmer auf seinem Bett, als wäre er völlig allein, und wartet, wartet lange. Worauf er wohl wartet? Solch unvollständiger Mensch kann nicht erkennen, worauf er denn wartet. Er wird aus den Weizenfeldern nicht klug, kann den reifen, aufbrechenden Körnern nichts abgewinnen und nicht begreifen, wie glücklich dieser Anblick einen anderen macht. Die Gemeinsamkeiten von Gegensätzen übersteigen seine Begriffe, oder er ahnt nicht mal deren Existenz. Er kann die wandernden Vogelschwärme nicht einsehen, oder dass Nacht dem Tag folgt und Jahreszeit Jahreszeit in einem scheinbar endlosen Kreislauf, und nicht die Schönheit, die Freude, den Sinn, den alles ergeben könnte. Er wird auch aus dem Wind hier nicht klug, der die Küste verwüstet, der Mensch und Fracht auseinandertreibt und für kurze Zeit den stetigen Fluss des Handels bös unterbricht. Er kann sich kein Bild von einem Individuum machen, das von seiner täglichen, etwas stupiden Arbeit aufsieht und nahezu niedergeschmettert ist durch die Endgültigkeit von Unten und Oben und seinem eigenen Kopf dazwischen. Oder wenn das gleiche Individuum plötzlich um eine Ecke gerät, sein eigenes Spiegelbild in einer Glasscheibe findet und sich schüchtern zulächeln will. Unbegreiflich für ihn der Anblick einer Frau mit einem spielenden Kind, obgleich sie ein Bild abgeben, das schlechthin als Verkörperung menschlicher Zufriedenheit gilt. Ober wie Unheil den kalten, unbefangenen Blick von Kindern stets anzieht. Er kann, was Sonntag ist, nicht verstehen, den Klang nicht von Kirchenglocken, das Tönen seraphischer Stimmen in gläserner Harmonie, die Einmütigkeit einer Gemeinschaft, die besänftigenden Worte der Gebete nicht, nicht das gewaltige Verlangen nach himmlischer Seligkeit. Er kann nicht dahinterkommen, wie einfache Gefühle, die sich in Farbe und Heftigkeit unterscheiden, sich langsam verstärken, in einen unerträglichen Taumel geraten und zuletzt in der ruhigen Abendluft schrill explodieren. Er kann nicht erkennen, dass es die zufälligen Erfindungen sind, die seit je die unumstößlichen, großen Verwirrungen stiften, und dann die Geschichte der Menschheit abgeben. Für ihn kann der Zusammenprall des Gedachten in zielloser, gewaltiger Folge gar nicht gedacht sein, der ein mit Widersprüchen gefülltes Hirn dann zurücklässt. Dieser Mensch sitzt im Nichts. Nicht im erfüllten Raume, auch nicht in der Leere, weder in Dunkelheit noch im Licht oder auch nur einem Schimmer davon. Er sitzt im Nichts, absolut im Nichts.
Siehe! Ein Mann steigt aus dem Bett, eine gute halbe Stunde später als seine Frau, und er wäscht sich. Setzt sich auf einen Stuhl an einen Tisch, den er eigenhändig hergestellt hat (und seine Fingerspitzen sind von einem dünnen, schokoladenbraunen Schleier Nikotin überzogen). Seine Frau setzt ihm eine Schüssel Porridge vor, etwas Käse, gebuttertes Brot, zwei gekochte Eier und eine große Tasse mit Tee. Er isst. Die Ziegen, Schafe und Kühe werden gerade auf die Weide getrieben. Ein Hund bellt. Jetzt betritt seine Tochter das Zimmer. Im Vorübergehen bückt sie sich, die Hand ihm zu küssen, welche auf seinem Knie ruht, und er wartet ab, bis ihr Kopf wieder auftaucht und küsst sie mit seinen Lippen, die er absichtlich feucht gemacht hat, breit auf die Stirn. »Sir, es ist nass!«, sagt sie. Und er lacht sie an, während sie die Stirn mit dem Handrücken abwischt. Er drückt seine Frau zum Abschied, öffnet die Tür, bleibt dann aber stehn. Weshalb kommt er nicht weiter? Sieht er was? Er sieht sich inmitten von Sägespänen eine Grube vermessen, die er ausgehoben hat, oder wie er geschwungene Linien in ein Treppengeländer schlägt, oder Säulen aufrichtet, oder über einer Tür das Haupt eines Cherubs anbringt. Wie er sich eine Zigarette anzündet, die Lippen kräuselt, ein frischgehobeltes Holzstück im Winkel anlegt und schließlich alles betrachtet, wofür er ein Auge zukneifen muss. Er steht da, die Hände in den Hosentaschen, die Daumen sehen hervor, und er wiegt sich auf den Fersen, er beurteilt eine kleine Vollendung, während der letzte Nagel noch eingeschlagen wird. Aber er gelangt nicht über die Schwelle und betrachtet die Sonne, ein verletzendes Rot ist an den Horizont gesetzt, er hört die Vögel nach Hause fliegen, er sieht Insekten im letzten Tageslicht tanzen, er hört es laut aus sich singen:
Der Tag will nun ermatten
Es steigt die Nacht empor
Viel abendliche Schatten
Flattern schwarz hervor.
Er kann so vieles sehen (und hören). Wer ist dieser Mann wirklich? So abgesondert jetzt, manchmal leuchten seine Augen, schlägt sein Herz viel zu schnell vor Freude, die er weder benennen noch erklären kann. Wo liegen seine besonderen Fähigkeiten? Können sie etwas bewirken? Morgen wird die Eiche gefällt, das Gerüst kann zusammenbrechen, aus den Klauen der Rinder wird Leim.
Und er steht immer noch unentschlossen an seiner Schwelle, den Kopf erhoben voller Selbstbewusstsein. Aber dann verschiebt sich sein Blick, er starrt in die Gegend, ist völlig niedergeschlagen. Erst begeistert, dann niedergeschlagen, so ist das bei ihm. Wird er sich jetzt einen Trost suchen? Und welchen? Er sucht seine lebenden Fossilien hervor. Da ist das Gehäuse des Perlboots, das in einer alten Blechdose inmitten abgebrochener Buntstifte, zerbröselnder Tuschfarben, zerschnittener Radiergummis liegt, zur Erinnerung wohl an einen besonderen Tag vor Jahren am Meer. Aus dem harmlosen Wurm ist schließlich ein Parasit geworden. Bedenk es. Und da ist die Erde, die Oberfläche sichtlich beruhigt, gastlich die Atmosphäre. Immer noch stehen hier getürmte, gigantische Felsen großer Zahl, zerspalten und abgetragen vom Druck gewaltiger Meere, die längst zurückgewichen sind. Große Goldadern sind vorhanden, blubbernde Schwefelfontänen und Berge, von heißer Lava bedeckt. Am Boden einiger Höhlen liegt schwarzer Staub, darunter ein reiches Tonsediment, zwischen den Schichten gefangen Fasern eines geflügelten, vierfüßigen Tieres und Reste von Wirbellosen. »Und wo ist mein Platz?«, fragt jetzt der Mann. Er sagt noch: »Der Körper ist meine Seele.« Doch er senkt schnell die Augen, ist wieder er selbst, die Handflächen fest auf den Brustkorb gelegt. Er steht an der Schwelle und sieht, als er aufblickt, seine Frau, die den braunen Filzhut ihm reichen will (den er vergaß). Er sieht sein Kind über die Straße in einen Pulk Kinder gelangen, die auf dem Wege zur Schule sind, eine Mixtur zerbrochener Sätze, falsch ausgesprochener Wörter, Gelächter, keimende Bösartigkeit und Energieüberschuss alles in allem. Er sieht das Haus, das er eigenhändig erbaute, Bücher auf dem Regal, die er gelesen hat, früchtetragende Bäume, die er aus Sämlingen zog, die Speisekammer angefüllt mit Vorräten, die er besorgt hat. Er verlagert das Gewicht seines Körpers von einem auf den anderen Fuß, was vorübergehend zwar unsicher macht, aber dann wiegt er sich, wiegt sich. Er stellt sich vor, dass er in der einen Hand Leere und Sehnsucht hält und in der andren völlig erfülltes Verlangen. Es fällt ihm Zärtlichkeit, Liebe und Glaube und Hoffnung ein und sogar Güte. Er findet Schönheit im gewöhnlichen Dasein: Wie die Sonne aus großer, schimmernder Wasserfläche, die das Meer ist, hervorkommt, so geht sie jeden Tag auf, als ob alles neu ist und zum ersten Male geschieht. »Sing wieder. Sing jetzt!«, spricht er in seinem Herzen, als er die kühle Brise hinten am Hals spürt. Immer öfter spürt er auch die Sinnlosigkeit, die sich in allem verbirgt. Vor ihm erstreckt sich ein so furchtbares Schweigen, ein so weiter Raum, dessen Länge Breite und Tiefe nicht auslotbar sind. Das Nichts.
Die Zweige waren tot. Eine Fliege hing tot in den Zweigen, ihr zarter Körper bewegte sich im Wind, als ob es sich um die Reste eines schönen Kleids handle. Ein Käfer hatte vom Leib der Fliege gefressen und lag selber tot da. Tod folgt auf Tod folgt auf Tod. Alles lag tot da. Das Land, das vom Flusse sich ausdehnt, war länger keine grünende Weide, es lag ausgetrocknet, zerrissen da, mit schmalen Klüften, die in viele Richtungen liefen oder ineinander übergingen. Von weit oben gesehen boten die Klüfte viel Schönheit, keine Augenweide, aber doch Schönheit. Alles war tot. Tot lag, was gelebt hatte, tot auch, was leben würde. Alles hatte seine Zeit oder würde sie haben. Was machte es aus, ob die Zeit fünf Milliarden Jahre oder fünf Minuten betrug. Jetzt war es tot, versunken in Dunkelheit, verbannt aus dem Leben. Kurz mal gelebt, tot dann in Ewigkeit. Wie aussichtslos ich dagegen kämpfe. Plackerei, Plackerei, in der Nacht und am Tag. Hier wird ein Haus gebaut. Hier wird ein Monument errichtet, an etwas, eine gute Tat genannt zu erinnern, oder einer Frau zum Gedächtnis, die über besondre Fähigkeiten verfügte, oder einfach für alles, was sie war, was sie tat. Hier sind ein paar Kinder, und schier grenzenlos wurden Liebe, Respekt an sie verschwendet. Das Haus gibt es nicht mehr. Das Monument ist verschwunden. Die Kinder verstummten. Ich rufe mir das Haus zurück, ich rufe mir das Monument zurück, ich wecke die Kinder aus ewiger Dunkelheit auf, und mitunter, aber nur kurz, erscheinen sie mir, stets mit dem Leichtentuch noch bedeckt, immer, als wären sie aus Grabhügeln von Asche gekommen. Angeschlagen, trüb, in Bruchstücken gar, oder es fehlen einfach große Teile, die Schleifen zum Beispiel sind weg aus den Haaren der Kinder. Die Kinder also, die ich sehr geliebt habe, viel mehr als das Monument, viel mehr als das Haus, einst waren sie von solcher Schönheit, dass der Gedanke aufkommen konnte, dass sie nicht irdisch wären. Die Vergangenheit ist tot. Die Zukunft wird tot sein. Und was mir vor Augen noch steht, sobald ich mich umgedreht habe ist es schon tot. Soll ich Tränen verschütten? Leid ist an To...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Widmung
  4. Mädchen
  5. Nachts
  6. Zuletzt
  7. Flügellos
  8. Ferien
  9. Der Brief von zu Hause
  10. Was ich gerade getan habe
  11. Dunkelheit
  12. Meine Mutter
  13. Am Grunde des Flusses
  14. Über Jamaica Kincaid
  15. Impressum