„Das Material war kritisch gesichtet, die Bausteine lagen bereit.
Aber es fehlte der große Geist, der sie zu einem Gebäude zusammengefügt hätte.“1
Obwohl Eduard Fueter in seiner lange als Standardwerk geltenden Geschichte der neueren Historiographie Jean Mabillon und seinen Nachfolgern Anerkennung für ihre Leistung in der Erschließung von großen Quellenbeständen zusprach, sah er die Entwicklung hin zu einer modernen gelehrten Geschichtsschreibung vor allem mit der Aufklärung vollzogen. War für ihn die Einführung einer systematischen Methode zwar ein wichtiger Schritt in diese Richtung, wurde die Moderne erst durch „den großen Geist“ eingeläutet. So sei der Verdienst historisch-kritischer Gelehrsamkeit vor allem für die „systematische Pflege der Hilfswissenschaften“ gegeben, ihr ging es um die Sicherung und Publikation der Quellen, „den historischen Stoff geistig oder künstlerisch zu verarbeiten, lag nicht in ihrer Absicht.“ Fueter schlussfolgerte: „Ihre darstellenden Werke haben daher, historiografisch genommen, keine große Bedeutung.“2
Der Historiker griff damit noch im frühen 20. Jahrhundert eine Einschätzung auf, die bereits die Nachfolgegeneration der angesprochenen Gelehrten verbreitet hatte. Dies sieht man etwa bei Voltaire, der die reine Quellensammlung als zweckfrei kritisierte.3 Dieses Denken teilte Johann Christoph Gatterer,4 der 1767 seine Gründe für die Herausgabe der Allgemeinen historischen Bibliothek mit einem „Mangel guter Geschichtsbücher in teutscher Sprache“ und dem damit einhergehenden Wunsch einer „Verbesserung der Geschichtskunde“ erklärte.5 Auch er schätzte die Grundlagenarbeit seiner Vorgänger, doch genügte diese nicht mehr seinen Vorstellungen einer Geschichtswissenschaft, die „Geschichte im ganzen Umfang“6 war und im besten Fall nationale Erzählungen in nationalen Sprachen hervorzubringen hatte. Dies alles führte zu einer Abwertung der um 1700 herum betriebenen historisch-kritischen Geschichtsschreibung, die in Teilen bis heute anhält. Eine Erklärung dafür findet sich bereits bei Fueter selbst, sah er in der Komplexität und Menge des gesammelten Materials einen Grund, wieso die Aufklärungsgeschichtsschreibung kaum auf die Vorarbeiten der historisch-kritischen Gelehrten einging.7 Dabei sind es einerseits die gleichzeitige Parallelität verschiedener historiografischer Genres, andererseits die komplexe Verflechtung von heute getrennten Disziplinen, die bis in die Gegenwart die Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Historiografie schwierig gestalten. Dass darüber hinaus anachronistische Kategorien zu einer Herabwürdigung historisch-kritischer Geschichtsschreibung führten, wird kaum thematisiert: War bereits einige Jahre später das „Gebäude“ – die Erzählung – die Essenz aller historischen Bemühungen, war dieses keine Kategorie, mit der historisch-kritische Gelehrte Anfang des 18. Jahrhunderts operierten. Für sie hatte die Geschichtsschreibung andere Funktionen zu erfüllen, die, wenngleich heute häufig als bloße Kompilatorik betrachtet, für die Zeitgenossen die gleiche Berechtigung hatten wie andere Formen der Historiografie.
1.1 Historisch-kritische Gelehrsamkeit – Forschungskontexte und Problemfelder
Spätestens mit dem Aufstieg der historisch-kritischen Methoden8 der Mauriner und Bollandisten hatten sich Teile der Geschichtsschreibung aus einer humanistisch-rhetorischen Tradition der ars historica herausgelöst.9 Zurückgeführt wird dies auf den kartesianischen Zweifel und die Notwendigkeit, historische Wahrheit herstellen zu müssen, um den Anforderungen einer Wissenschaft gerecht zu werden. Dementsprechend rückte die Anwendung der richtigen Methode als einziges Mittel zur Wahrheitsfindung in den Vordergrund.10 Diese Art der Gelehrsamkeit soll in der Folge als historisch-kritisch bezeichnet werden, denn Kritik wurde zum „Zentralbegriff der Epoche“11 und das Aufstellen von Kriterien für Echtheit und Qualität einer Quelle ihre zentrale Praxis. Wenngleich Quellenkritik freilich keine Neuheit im Kanon der Geschichtsschreibung war, wurde sie durch Jean Mabillon auf eine neue systematisierte Ebene gehoben und weit über philologische Aspekte hinaus betrieben.12 Dies war vor allem notwendig geworden, um die Tradition des eigenen Glaubens und das Alter der dazugehörigen Institutionen zu verteidigen.13 Gleichzeitig ging es darum, die „opinio communis“, also bisheriges Glaubensgut, entweder endgültig zu stützen oder aber durch Kritik zu widerlegen.14 Geschichtsschreibung und Theologie waren so eng miteinander verknüpft. Eine ihrer grundlegenden Entwicklungen war dabei vor allem die Priorisierung des Quellentypus der Urkunde, die zum Charakteristikum der hier beschriebenen historisch-kritischen Gelehrsamkeit wurde. Freilich wurden auch andere Quellen wie Grabdenkmäler, Münzen und Medaillen einer Analyse unterzogen, aber vor allem auf ihre Fähigkeit hin beurteilt, rechtliche Aussagen zu treffen. Aus diesem Grund kommt der historisch-kritischen Gelehrsamkeit häufig eine juristische Komponente zu.15 Diese äußert sich auch personell, waren viele der bekannten Historiker von ihrer Ausbildung her Juristen.
Die Zeit war also vor allem von einer Fokussierung auf die Quelle geprägt und die Hauptbeschäftigung historisch-kritischer Gelehrter bestand darin, eben diese Quellen zu sammeln und einen systematisierten Umgang mit ihnen zu pflegen. Aus diesem Grund wird die Zeit als grundlegend für die Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften angesehen;16 dass dies nicht der zeitgenössischen Vorstellung entsprach, soll hier deutlich werden: Für die gelehrten Zeitgenossen war das Betreiben von Diplomatik gleichbedeutend mit dem Schreiben von Geschichte. Die Vorstellung von Hilfswissenschaften war nicht in ihrem Arbeiten verankert, auch ein Auseinandertreiben von Historiografie und Gelehrsamkeit wurde nur rückblickend identifiziert. Das bedeutet, dass Narration für die Gelehrten in den Hintergrund rückte, ließen sie doch die Quellen für sich selbst sprechen. Geschichte wurde dezidiert nicht als historia magistra vitae betrieben, eine lebenspraktische Vorbildwirkung wurde ihr nicht zugesprochen.17 Geschichte sollte nicht Universalgeschichte sein, wie sie von Voltaire oder in dessen Tradition stehend in Deutschland von Schlözer18 betrieben wurde. Ebenso war die Hof Historiografie in diesem Kontext nicht anwendungsorientierter Ratgeber des Fürsten.19 Es ging auch nicht um „die kausale Hintergründigkeit einzelner historischer Sachbestände“,20 sondern der Anspruch war es, eine möglichst vollständige Idee eines Quellenbestandes zu erlangen, um daraus historische Wahrheiten und folglich rechtsgültige Aussagen ableiten zu können. Eine der Prämissen dieser Geschichtsschreibung war gerade das Verfügbarmachen und gleichzeitig auch Erhalten der in alten Medien gespeicherten Informationen.21 Daraus ergibt sich, dass das Sammeln historischer Quellen zu einer der zentralen Aufgaben der Historiker wurde und die später als „zweckfreie Quellenedition“22 gewerteten Quellensammlungen zu einer ihrer primären Gattungen. Dem Historiker selbst kam dabei die Rolle des Richters zu, der über die Echtheit dieser Quellen zu urteilen hatte und entschied, was zu sichern war und was nicht. Die erste Eigenschaft des Historikers musste demnach die Liebe zur Wahrheit sein. Er wurde zur öffentlichen Person, die auf diese Art auch politische Konflikte lösen konnte: „La bella diplomatica [sic], la guerre par les diplômes, par les titres, a remplacé la guerre tout court.“23 Unparteilichkeit und Genauigkeit wurden zu den wichtigsten Schlagwörtern der Zeit, der Widerspruch von Ideal und tatsächlichen Arbeitsbedingungen jedoch eine der größten Schwierigkeiten für die Gelehrten ebenso wie für die Historiografiegeschichte.
Damit geriet die historisch-kritische Gelehrsamkeit „zum einen in Konkurrenz zum Modell der rhetorischen Geschichtsschreibung, die sich die Selektion des aufgefundenen Stoffes zur Aufgabe macht, zum anderen in ein konträres Verhältnis zur zeitlich nachgängigen, politisch-philosophischen Geschichtsschreibung, der es doch im Wesentlichen auf eine Synthesebildung auf der Grundlage bereits erfolgter Forschung ankam“.24 Mit dieser Position wusste die Historiografiegeschichte nicht immer umzugehen, gelang es ihr doch nur schwer, die historisch-kritische Gelehrsamkeit in eine Genealogie der modernen Geschichtswissenschaft einzufügen – und dies auf drei Ebenen:
Einerseits werden die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts immer noch als eine Art Zwischenepoche angesehen, die nicht (mehr) Humanismus und (noch) nicht Aufklärung ist.25 Hier ist generell für die Geschichtsschreibung ein Fehlen einer konzeptuellen Basis zu erkennen, die es ermöglichen würde, sich von Vorgängern und Nachfolgern zu lösen und somit Defizitnarrative zu vermeiden.
Zweitens eignet historisch-kritische Geschichtsschreibung sich nur schwer dazu, als Vorgeschichte des Historismus zu dienen, wie sie etwa von Ulrich Muhlack beschrieben wurde. Ein Grund hierfür ist die Abwesenheit einer ausdrücklichen Geschichtstheorie, eines spezifisch artikulierten Geschichtsdenkens; die theoretische Frage nach einem Geschichtsmodell wurde nicht explizit gestellt. Stattdessen kann hier allenfalls von einer der „Praxis immanente[n] Historik“26 gesprochen werden. Dass jedoch gerade dieser Fokus auf die Praxis die Essenz der Geschichtsschreibung war, wird verkannt und die historisch-kritische Gelehrsamkeit nur auf ihren Beitrag zur historischen Methode reduziert. Dabei wäre es wichtig zu sehen, dass für ihre Vertreter eben die korrekte Anwendung dieser Methode und ihre öffentliche Darlegung in Form von Editionen Geschichtsschreibung war. Die historisch-kritische Gelehrsamkeit fiel aus einem teleologischen Modernisierungsdiskurs heraus, bei dem das Ziel die moderne wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist. Alle Bemühungen vergangener Historiografen werden dementsprechend durch dieses Raster beurteilt und bewertet. Damit geht zudem die Einte...