Kanonbildung und Editionspraxis
  1. 190 Seiten
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Die Editionswissenschaft, aber auch die editorisch arbeitenden Fachdisziplinen haben sich bisher nicht besonders intensiv um das spezifische Verhältnis von Kanon und Edition bemüht. Der vorliegende Band legt in einem interdisziplinären Zugriff exemplarische Studien aus der Literaturwissenschaft, der Musikwissenschaft und der Philosophie vor, die theoretische Fragestellungen der Kanonforschung mit Fällen der fachgeschichtlichen Editionspraxis verbinden, um so Konturen einer fachübergreifenden Beziehungsbeschreibung von Kanonbildung und Editionspraxis sichtbar zu machen. Dazu schlägt der Band vier Wege ein. In einer ersten, wissenschaftsgeschichtlich orientierten Rubrik werden "Aspekte der Fachgeschichtsschreibung" aus philosophischer und neu- wie altgermanistischer Perspektive in den Blick genommen. Die zweite Rubrik "Ausgabentypologische Aspekte" befragt die Editionsformen in ihrem Bezug zu Kanonbildungsprozessen. Wie sich Autor-, Editor- und Leser-/Benutzer-Perspektiven auf Kanonisierungsphänomene niederschlagen, erörtert die dritte Rubrik "Produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte". Schließlich wirft die vierte Rubrik "Wissenschaftspolitische Aspekte" ein Augenmerk auf die Auswirkungen von institutionellen, lebensweltlichen und biografischen Rahmenbedingungen auf Kanonisierungsfragen im Kontext von Editionen.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783110684681

I. Aspekte der Fachgeschichtsschreibung

Kanonbildung und Editionspraxis – aus Sicht der Philosophiegeschichtsschreibung

Gerald Hartung
Philosophiegeschichtsschreibung befördert die Kanonisierung unseres Wissens von der Geschichte der Philosophie. Es ist aus Gründen einer notwendigen Ordnung der kaum überschaubaren Zahl der Dokumente nicht möglich, dass es anders ist. Ob wir die Geschichte des Lebens und Werkes großer Persönlichkeiten, die Geschichte von philosophischen Problemen, Institutionen und Konstellationen oder die Geschichte der Philosophie im Horizont sprachlicher, religiöser, politischer oder kultureller Grenzen schreiben – immer geht es, um eine berühmte Formel des Philologen August Boeckh zu bemühen, um Erkenntnis des Erkannten. Das Material ist bereits vorsortiert, wir schreiben uns in einen bestehenden Kanon ein oder wir arbeiten an einem Gegen-Kanon.1 Die Muster von großer Individualität und Epigonalität, von Zentrum und Peripherie, von Tälern und Höhenkämmen des philosophischen Denkens, die Geschichten mit Anfängen und Endpunkten, mit Kontinuitäts- und Bruchlinien sind kaum vermeidbar.
Selbst die Flucht in eine „kommende Weltphilosophie“2 bietet keinen Ausweg, außer man feiert die Entgrenzung des europäischen Kanons der Philosophie als einen ersten Teilerfolg (was man durchaus so sehen kann). Der andere Weg einer Destabilisierung des Kanons verläuft über die Reduzierung der makrologischen zugunsten einer mikrologischen Perspektive, der Zerstückelung der großen Linien auf Ereignispunkte (Foucault) und der Neuverteilung von Aufmerksamkeit auf geschichtliche Zusammenhänge, wenn Episoden als Alternativen zu großen Erzählungen (Blumenberg) vorgestellt werden.
Wenn wir heute in einem kritischen Verhältnis zu Vorgängen der Kanonbildung in den Wissenschaften und Künsten stehen, dann sollten wir einen Moment lang darüber nachdenken, dass diese Haltung selbst Antwort auf eine „geschichtliche Befindlichkeit“3 der Moderne ist. Damit meine ich die Einsicht, dass Geschichte immer Wahl einer bestimmten Geschichte durch die Praxis einer bestimmten Erkenntnis und aufgrund eines Willens zum rationalen Verstehen von Ereignisfolgen ist.4 Der Historiker Reinhart Koselleck hat auf überzeugende Weise beschrieben, wie im 19. Jahrhundert durch die Verknüpfung von Standortbindung und Zeitlichkeit (als subjektivierten Strukturen von Raum und Zeit) in der Perspektive des Historikers die geschichtliche Welt nicht nur in dramatischer Weise offen wurde für immer wieder neu ansetzende Versuche ihrer Bewältigung, sondern auch die Notwendigkeit einer kontrollierten historiographischen Erschließung wachgerufen wurde. Der Historismus ist ohne diese Voraussetzungen als Kulturphänomen nicht zu verstehen.5
Wollen wir also Prozesse der Kanonbildung in der Historiographie der Philosophie in den Blick nehmen, dann empfiehlt es sich, für einen kurzen Moment mit einem der prononciertesten Geschichtsdenker der Moderne ins Gespräch zu kommen. Paul Ricoeur hat in Geschichte und Wahrheit (frz. 1955) eindrucksvoll die zwei Lesarten der Geschichte im Horizont der Moderne diskutiert.6 Zum einen kann seiner Ansicht nach die Geschichte, die wir wählen, als Ankunft eines Sinnes verstanden werden. Diese Variante setzt voraus, dass der Philosoph „einer gewissen Teleologie der Geschichte“ vertraut.7 Die empirische Betrachtung der historischen Ereignisfolgen wie auch die individuelle Erfahrung gelebter Geschichte widerspricht jedoch einer teleologischen Erklärung. Daher betont Ricoeur die Berechtigung einer zweiten Variante des Geschichtsdenkens, die am singulären Ereignis, an den unterschiedlichen Motivationslagen der Akteure und an der soziokulturellen Variabilität alles Sinnverstehens ansetzt. Dann verliert sich die Vorstellung eines einheitlichen Sinns von Geschichte. Wir wählen nicht und entscheiden uns nicht für eine Perspektive. In Ricoeurs Worten meint dies, dass wir uns der Möglichkeit des Un-Sinns aussetzen.
Zwischen beiden Lesarten der Geschichte besteht eine unaufhebbare Spannung.8 Jeder Versuch, die Kluft nicht nur zu überbrücken, sondern zu schließen, muss gewaltsam vorgehen. Entweder wird das singuläre Ereignis, das individuelle Moment in der Geschichte einem Allgemeinen geopfert, oder aber es wird der Anspruch auf Kohärenz im Geschichtsdenken unterlaufen.
Wer wie Ricoeur die Unaufhebbarkeit dieses Gegensatzes sieht und anerkennt, der muss allerdings mit der Zweideutigkeit leben, dass in jedem Versuch, Geschichte als Ereignisfolge und als Ganzheit zu denken, Sinn und Un-Sinn in der Betrachtung korrelieren. Die Differenz von Ereignis (événement) und Ankunft (avènement) des Sinns von Geschichte bleibt bestehen und damit auch die Erinnerung daran, welchem Un-Sinn jeder Sinn entnommen ist.9
Nur die erste Lesart der Geschichte hat für Ricoeur philosophische Tiefe. Dies zeigt sich insofern, als nur eine philosophische Analyse der Geschichte die Paradoxien einer singulären Geschichte im Erlebnis des einzelnen Menschen und einer allgemeinen Geschichte der menschlichen Gattung, die Widersprüchlichkeit von Diskontinuität und Kontinuität integrieren kann. Die entscheidende Frage ist, was wir meinen, wenn wir vom Sinn in der Geschichte sprechen, und welche Bedeutung für die Entdeckung oder (Re-)Konstruktion von Sinn ein methodologisch geleitetes historiographisches Verfahren hat. Ricoeur weist die Ansprüche einer teleologischen Geschichtsbetrachtung zurück. Dezidiert kann es nicht um Ent- oder Aufdeckung von Sinn durch Verknüpfung von Ereignisketten gehen. Sinn erschöpft sich nicht in den Beschreibungen von Entwicklung und Kausalitätslinien. Sinn reichert sich nicht in einem linearen Geschichtsprozess kontinuierlich an, sondern manifestiert sich diskontinuierlich um die – von den Ereignissen gebildeten – Knotenpunkte der Geschichte. Die Ereignisse selbst sind für uns Menschen organisierte Zentren des Sinns, wir deuten unser Leben im Licht prägnanter Ereignisse. Wir wählen die Geschichte, wir erzeugen durch begründbare Entscheidungen unsere Geschichte. Nur auf diesem Weg kommt der Sinn in die Geschichte.
Geschichte ist allerdings mehr als ein einzelnes Leben und mehr als eine bloße Summe individueller Erlebnisse. So stehen wir vor der Schwierigkeit, den Sinn der Geschichte weder außerhalb der Ereignisse noch unmittelbar in ihnen zu finden. „Die Geschichte kann deshalb gelesen werden als extensive Ausdehnung des Sinns und als Einstrahlung des Sinns aus einer Vielfalt organisatorischer Zentren heraus, ohne daß dabei irgendein in der Geschichte stehender Mensch den totalen Sinn dieser ausgestrahlten Sinne konstruieren könnte.“10 Tatsächlich ist das Geschichtsdenken an die ‚Aporie des Verstehens in der Geschichte‘ gekettet, die sich als Einheit in Vielheit darstellen lässt. Unser Verstehen zielt auf eine Einheit des geschichtlichen Sinns ab und kann doch nicht die Vielheit der Erlebniszentren, der singulären Ereignisse vollständig transzendieren. In jedem Gesamtentwurf regt sich der Einspruch des individuellen Anderserlebens, der Differenz in der Erfahrung des Einzelnen.
Es ist nach Ricoeurs Ansicht die unüberbietbare Leistung Hegels, diese letzte Aporie in einer Synthese aufgehoben zu haben, in der das Geschichtsdenken mit der Bewegung des Ganzen, d. h. mit einer die Einzigartigkeit des Erlebens und Verstehens absorbierenden Totalität verbunden ist. Diesseits der Hegel’schen Problemlösung gibt es für Ricoeur eine doppelte Grenze des Verstehens: „Auf der einen Seite ist es nicht ganz einfach, bis zum System zu gelangen, und vielleicht ist selbst bei Hegel nicht alles System. Es ist aber ebenfalls schwierig, bis zur Einzigartigkeit zu gelangen.“11 Das geschichtliche Verstehen bewegt sich zwischen den Extremen des Systems eines allgemeinen Sinns von Geschichte und der Einzigartigkeit des geschichtlichen Erlebens. Die philosophische Betrachtung vollzieht sich im Aufstieg von der Einzigartigkeit über die Typologie bis zur Aufhebung im Ganzen.12 Erst in dieser Bewegung wird die Geschichte menschlich und sinnhaft – und wir erwarten von der Aufhebung des bloß Singulären, das sich dem Verstehen sperrt, die ‚Ankunft eines Sinns‘.
Jede Aufhebung des Einzelnen, Un-sinnigen, in ein Ganzes, Ein-sinniges, ist nach Ricoeur unzweifelhaft an ein Moment der Entscheidung geknüpft. Sobald ich einen Sinn wähle, bleibt der Un-Sinn, das ‚Brachland der Geschichte‘ an seinen Rändern übrig. Sinn, Geschichte, Kultur sind nur Aspekte in einem Meer der Sinn-Möglichkeiten. Für Ricoeur liegt jenseits unserer Wahl nicht die Grenze des Sinnindifferenten und Sinnwidrigen, sondern andere Wahlmöglichkeiten und andere Sinnkonzepte – wie er im Gegensatz zu Max Webers Bestimmung des Kulturbegriffs festgehalten hat.13 Nach Ricoeurs Ansicht wähle ich immer zwischen zwei Weisen des Sinns und wähle weder einen Sinn von Geschichte in einem Meer des Unsinns – so dass die Wahl erst die Transformation von Unsinn in Sinn vornimmt – noch wähle ich den Sinn als vorgegebene Ganzheit – denn so gesehen würde die Wahl ja nur bestätigen, was mir immer schon mitgegeben wäre. Weil die Wahl eine echte Wahl sein soll, mir also Alternativen zur Verfügung stehen müssen, die ebenfalls sinnvoll sein können, ist es für uns „unmöglich, Hegelianer zu sein.“14
Die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Nachfolge Hegels markiert die Grenze des Geschichtsdenkens bei Ricoeur, der vor der „ungeheure[n] Paradoxie“15 stehenbleibt, dass Geschichte immer – und auf immer – zugleich als „Ankunft eines Sinns und als Auftreten von Einzigartigem“16 zu verstehen ist. Nur im Aushalten dieser Paradoxie haben wir es mit Geschichte im emphatischen Sinn zu tun.17 Geschichte bleibt nur Geschichte, wenn sie weder zur Einzigartigkeit noch zur Allgemeinheit durchbricht. Anders gesagt: „geschichtlich ist das, was nicht gän...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Zum Verhältnis von Kanon und Edition Einführung in die Fragestellung
  5. I. Aspekte der Fachgeschichtsschreibung
  6. II. Ausgabentypologische Aspekte
  7. III. Produktions- und rezeptionsbezogene Aspekte
  8. IV. Wissenschaftspolitische Aspekte
  9. Anschriften