Leokadia, 22
Sozialarbeiterin in der Obdachlosenhilfe
Windig ist es an diesem Sonntag im März. Unser Treffpunkt ist der Augarten, ich schicke Leokadia ein Bild von da, wo ich stehe. „Gleich da“, schreibt sie mir auf Instagram zurück. Schon kommt sie auf mich zu, mit aufrechtem Gang, in schwarzer Lederjacke und mit einem breiten Lächeln.
Seit sie ihr Studium der Sozialen Arbeit an der FH Campus begonnen hat, arbeitet sie im Sozialbereich, mal als Fremdenrechtsberaterin, mal in der psychosozialen Beratung, und in den letzten drei Jahren in der Obdachlosenhilfe. Das Winterpaket der Stadt Wien ist eine Sozialmaßnahme, die obdachlosen Menschen einen warmen Schlafplatz anbietet, vor allem in kalten Nächten. Das Angebot gilt von 28. Oktober bis 28. April, das sind die Monate, in denen Leokadia dort beschäftigt ist, für den Sommer muss sie einen anderen Job finden.
„Eine sichere Beschäftigung ist es nicht!“ betont sie, und das ist gerade in ihrer Situation ein Problem. Wenn sie länger als drei Monate in Österreich bleibt, muss sie einen Antrag auf Aufenthaltsbewilligung stellen, als Studierende oder zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Leokadia hat keinen Anspruch auf Studienbeihilfe und kann nicht auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. Daher muss sie nebenbei arbeiten, um sich das Studium finanzieren zu können.
Mit ihren erstsprachlichen Kenntnissen in Slowakisch und Polnisch arbeitete sie anfangs in der Koordinationsstelle und dann als Betreuerin in einem Männerobdachlosenquartier im 21. Bezirk am Rande Wiens. Leokadia ist für 20 bis 30 Stunden angestellt und arbeitet im Schichtdienst. Oft muss sie Überstunden leisten. Mit zwei oder drei Kolleg*innen betreut sie 90 obdachlose Männer. Der Frühdienst geht von 8 bis 16.30 Uhr, der Spätdienst von 16 bis 22.30 Uhr und der Nachtdienst von 22 bis 8.30 Uhr. Keine Woche gleicht der anderen, das hat Auswirkungen auf den Biorhythmus.
Ich wundere mich, wie eine zierliche Person wie sie, mit pinken Haaren und netter Ausstrahlung, sich unter so vielen Männern Gehör verschaffen kann, und spreche sie darauf an.
„Ich bin eigentlich eine der härteren Betreuer*innen. Wenn ich bestimmend sein muss, habe ich eine laute Stimme“, lacht Leokadia.
Im Obdachlosenquartier wird dreimal am Tag Essen ausgegeben, die Bettwäsche wird einmal in der Woche gewechselt, die Zimmer werden für neue Nächtiger vorbereitet, und alles wird dokumentiert. „Manche unserer Klienten arbeiten seit über 20 Jahren in Österreich, vor allem am Bau, als Leih- oder Schwarzarbeiter. Einen Großteil des Geldes schicken sie ihren Familien, und mit einem Teil schenken sie sich ein Stückchen Lebensqualität. Doch von dieser Arbeit gibt es gerade wenig.“
Zu Leokadias Aufgaben gehört es nicht nur, die Basisbedürfnisse der Nächtiger zu stillen, sondern auch, sie auf dem Weg aus der Obdachlosigkeit zu unterstützen, wenn es gewünscht ist, egal ob die Nächtiger Schwierigkeiten mit ihrer psychischen Gesundheit haben oder substanzabhängig sind. Sie vermittelt sie an andere Organisationen und Gruppen weiter, wo sie Hilfe bekommen.
Ein „Housing First“-Prinzip wäre sinnvoller als das Notunterkunftssystem, meint Leokadia. Das Prinzip basiert darauf, obdachlosen Personen und Familien als Erstes eine stabile und sichere Unterkunft zu bieten und sich erst im nächsten Schritt mit den anderen Problematiken und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Denn eine eigene Wohnung bietet eine notwendige Grundlage, um sich dieser Thematiken anzunehmen.
Durch Corona und den Mangel an Personal war das Quartier extrem ausgelastet und die Betreuer*innen überlastet, vor allem gab es keine Möglichkeit auf persönliche Begegnung. Die Stimmung war angespannt, sowohl beim Personal als auch bei den Klienten, was zu Konflikten führte und den Alltag erschwerte. Die Betreuer*innen bekamen Schutzanzüge, und die Nächtiger wurden mit Masken und den Regeln bekannt gemacht, was anfangs sehr irritierend war. „Glücklicherweise arbeite ich in einem Quartier mit Einzel- und Doppelbettzimmern. Das ist aber die Ausnahme.“ In anderen Quartieren können die Maßnahmen nicht befolgt werden, weil es nur Mehrbettzimmer für bis zu zehn Personen gibt. „Die Problematik liegt im System. Es sind menschenunwürdige Zustände, wenn Personen in Schlafsälen mit acht oder zehn Betten untergebracht werden. Wir spüren es jetzt, weil es eine gefährliche Krankheit ist. Aber Personen, die in Mehrbettzimmern untergebracht werden, leiden auch sonst viel stärker an Krankheiten, die im Winter kursieren, an Grippe, Erkältung usw. Die Personenanzahl in den Zimmern muss reduziert werden!“
„Die Problematik liegt im System. Es sind menschenunwürdige Zustände.“
Kontaktpersonen von Infizierten mussten schnell in Quarantänequartieren untergebracht werden, die aus dem Boden gestampft wurden. Dort gab es kein Betreuungspersonal, manche der Nächtiger*innen hatten Panik und versuchten aus der Einrichtung zu flüchten.
Als Person mit einer Grunderkrankung war der Gedanke, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, für Leokadia nicht angenehm. Sie konnte sich aber nicht von der Arbeit freistellen lassen, da diese befristet ist und sie sonst nicht versichert gewesen wäre. „Gerade als Migrantin muss ich einfach weiterarbeiten, damit ich legal in Österreich bin. Ich habe wenig Wahl!“
So versucht sie, auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu bleiben, um sich möglichst effizient schützen zu können. „Es war lange ungewiss, ob wir geimpft werden, es wurde hierzu nichts kommuniziert.“ Mitte Februar bekam sie spätabends eine SMS, es wäre noch Impfstoff übrig, dafür müsste sie in den nächsten 55 Minuten im Impfzentrum sein. „Ich hatte zum Glück Nachtdienst und bin schnell rübergefahren. Wer weiß, wann ich sonst geimpft worden wäre.“ Leokadia wendet ihr Gesicht zur Sonne und lächelt.
„Ich habe gelernt, besser mit der Einsamkeit umzugehen, mich selbst zu motivieren. Aber ich konnte nicht an inhaltlichen Diskussionen wachsen.“
Leokadia wohnt allein, ist aber gern unter Menschen, vor allem für ihre politische Arbeit im Verband sozialistischer Student*innen. Große Diskussionsrunden und Austauschveranstaltungen blieben aus, und Leokadia war gezwungen, ihre sozialen Kontakte einzuschränken. „Ich habe gelernt, besser mit der Einsamkeit umzugehen, mich selbst zu motivieren. Aber ich konnte nicht an inhaltlichen Diskussionen wachsen. Es lässt mich traurig zurück.“
An die Politik hat Leokadia einige Forderungen, vor allem das Recht mitzubestimmen, sei es im Studium oder in der Arbeit. „Wir sind Österreich, und Österreich ohne uns würde niemals funktionieren. Wir Migrant*innen halten dieses System aufrecht, dürfen aber nicht wählen und haben kein Recht, selbst gewählt zu werden. “Den von Politiker*innen in Pressekonferenzen ausgesprochenen Dank empfindet sie als unauthentisch, weil dann keine Taten folgen. Es werden keine Gespräche mit den entsprechenden Berufsgruppen geführt, um wirkliche Veränderungen zu bewirken.
Leokadia setzt sich auch für die Aufwertung der Arbeit während des Studiums ein, denn Studierende im Sozial- und Gesundheitsbereich müssen tausende Stunden an unbezahlten Pflichtpraktika leisten. In ihrer Petition geht es darum, einen Mindestlohn für Pflichtpraktika einzufordern.
„Von der Gesellschaft wünsche ich mir“, fügt sie hinzu, bleibt kurz stehen und dreht sich zu mir, „Respekt. Alle gehen davon aus, dass jede*r in die Obdachlosenbetreuung gehen kann, aber es ist ein Beruf, der eine Ausbildung im Bereich Soziale Arbeit braucht. Es ist psychisch anstrengend, denn wir arbeiten mit Klient*innen mit unterschiedlichen Konfliktvergangenheiten.“ Viele Klient*innen leiden an Traumata, da sie Krieg, Misshandlung, körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt waren. Sie haben Schlafstörungen und Angstzustände. Dies führt dazu, dass einige substanzabhängig werden, um sich ihrem Leiden zu entziehen.
„Soziale Arbeit ist eine Profession, die unsere Gesellschaft zusammenhält.“
Wir gehen Richtung Haupteingang, wo ich meine Oma treffen sollte, da fügt sie hinzu: „Soziale Arbeit ist eine Profession, die unsere Gesellschaft zusammenhält.“
„Wir Migrant*innen halten dieses System aufrecht, dürfen aber nicht wählen und haben kein Recht, selbst gewählt zu werden.“
Nichtösterreicher*innen sind häufiger „Working Poor“ als Österreicher*innen
Menschen im Erwerbsalter (16 – 64 Jahre), die länger als 6 Monate Vollzeit oder Teilzeit erwerbstätig waren und trotzdem armutsgefährdet sind, werden von der EUROSTAT als „Working Poor“ definiert.
Quelle: Statistik Austria / Momentum Institut
„Die Pandemie hat uns gezeigt, dass es Beschäftigte gibt, ohne deren Arbeit das gesellschaftliche System kollabieren würde. Die Gewerkschaften kämpfen für einen kollektivvertraglichen Mindestlohn von 1.700 Euro und treten für Arbeitszeitverkürzungen ein. Im Hinblick auf die Situation von Frauen fordern wir einen Rechtsanspruch auf flächendeckende und leistbare Kinderbetreuungsplätze ab dem 1. Lebensjahr.“
Korinna Schumann, Vizepräsidentin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes
Lisa, 46
Krankenschwester
Für dieses Gespräch fahre ich extra ins Krankenhaus, denn Lisa ist so überlastet, dass wir das Interview nur direkt nach ihrem Dienst machen können. Ich weise meinen negativen Coronatest vor und bekomme Zutritt zum Gebäude. Auf der Station empfängt mich meine Tante, die ebenfalls hier arbeitet. Sie sagt mir, ich müsse kurz warten, da Lisa einen unerwarteten Patienten hat und noch das EKG abschließt. Wir setzen uns im Wartebereich.
Normalerweise ist der voll mit Kindern, deren Eltern und Geschwistern, doch seit März 2020 wurde der Betrieb in der Kinderherzambulanz eingeschränkt. Kinder dürfen mit nur noch einer erwachse...