Selbstporträt in Schwarz und Weiß
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Selbstporträt in Schwarz und Weiß

Unlearning race

  1. 184 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Selbstporträt in Schwarz und Weiß

Unlearning race

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und definieren. »Selbstporträt in Schwarz und Weiß« ist die Geschichte einer amerikanischen Familie, die sich über mehrere Generationen hinweg verändert auf ihrer Suche nach dem, was es heißt schwarz zu sein, und dem, was als weiß angenommen wird. Thomas Chatterton Williams, der Sohn eines »schwarzen« Vaters aus dem abgehängten Süden, und einer »weißen« Mutter aus dem Westen, war sein ganzes Leben davon überzeugt, dass ein einziger Tropfen »schwarzen Bluts« einen Menschen schwarz macht. Das war so fundamental für sein Selbstverständnis, dass er nie eine andere Überlegung zuließ. Aber die schockierende Erfahrung, der schwarze Vater zweier weißer Kinder geworden zu sein, erschütterte diesen Glauben. Es ist jedoch nicht so, dass er nun glaubte, nicht mehr schwarz zu sein oder dass seine Kinder weiß sind, sondern dass sich diese Kategorien von niemanden mehr angemessen erfassen lassen. Großartig geschrieben und darauf aus, die festgefahrenen Meinungen überraceauf den Kopf zu stellen.

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Information

TEIL EINS

Der Blick von nah und fern

Ich hatte die Cafeteria verlassen, in der mein Bruder Clarence mit dem Holzauto spielte, das er mit Hilfe älterer Pfadfinder zusammengebaut hatte, und ging den langen Flur hinunter zu den Toiletten. Das Gebäude war an Samstagen fast menschenleer und atmete den Hauch der Gesetzlosigkeit einer Schule in unterrichtsfreier Zeit. Nachdem ich fertig war, warf ich einen Blick in den Spiegel und sprang dann beim Rausgehen an die hohe Stange, mit der die Metallkabinen an der gekachelten Wand befestigt waren. Das war nicht leicht für einen Drittklässler, eine athletische Meisterleistung, die ich auch ohne Zuschauer genoss. Meine Sprungkraft verband mich mit meinen Lieblingssportlern. Auch meine Haare trug ich wie sie: an den Seiten und hinten kurz rasiert und oben etwas länger, mit einer rasiermesserscharfen Linie links. Gerade als meine Beine vorschwangen, ging die Tür auf und Evan kam herein. Er war in der Achten, der älteste von drei blonden, sommersprossigen und geradezu lächerlich geschniegelten Brüdern und, obwohl irischer Katholik, vom Typ her viel mehr ein WASP, ein White Anglo-Saxon Protestant, als die Söhne von Italienern, Polen und Ukrainern, aus denen die Schülerschaft unserer Konfessionsschule größtenteils bestand. Er sah zu, wie ich meinen Abschwung machte. In seiner Aufmachung mit Bootsschuhen und Dockers wirkte er alles andere als furchteinflößend, aber er war größer als ich und lächelte mich komisch an. Ich wollte an ihm vorbei zur Tür, aber er verstellte mir den Weg. Sein Lächeln wurde bedrohlich. »Was ist?«, brachte ich verwirrt heraus. Wir gingen seit Jahren auf dieselbe Schule, ohne je ein Wort gewechselt zu haben. »Affe«, raunte er, noch immer lächelnd, und mein ganzer Körper erstarrte. Ich wurde beleidigt, und zwar aufs Übelste, was mir weniger Evans Äußerung verriet als sein Gesichtsausdruck. Nur begriff ich nicht ganz, warum. Ja, ich hatte wie ein Affe geschaukelt, aber hier ging es um etwas anderes. Völlig sprachlos versuchte ich nochmal, an ihm vorbeizukommen. Wieder verstellte er mir den Weg, beugte sich über mich, noch immer grinsend, und wiederholte betont ruhig: »Du beschissener kleiner Affe.« Erstaunt begriff ich, dass auf einmal – auch wenn ich nicht verstand, warum – die Möglichkeit von Gewalt im Raum stand. Rein instinktiv zwängte ich mich an ihm vorbei, mit aller Entschlossenheit, die ein Achtjähriger aufbringen kann. Dieses Mal ließ er mich gehen, und ich hörte ihn hinter mir lachen, als ich zurück in die Cafeteria lief, mit pochendem Herzen, das Gesicht glühend vor Selbstgefühl, während mein unerfahrener Verstand die Bedeutung des gerade Geschehenen zu erfassen suchte.
Ich wusste allerdings genug, um wissen, dass ich meinem Vater nicht erzählen konnte, was passiert war. Ich sah seine Reaktion förmlich vor mir: wie er aus seinem ledernen Schreibtischstuhl aufsprang, in dem er am Wochenende wie auch unter der Woche die meiste Zeit verbrachte, über ein Buch gebeugt, konzentriert, Dinge unterstreichend. »Los, komm«, würde er sagen, kurz und knapp, mit diesem abwesenden Blick, als sehe er nicht mich, sondern etwas anderes an, und schon wäre er im Flur am Garderobenschrank, hätte sich seinen dunkelgrauen Mantel über die breiten Schultern geworfen, die Schlüssel bereits in seiner starken Hand. Folgte ich ihm nach draußen, könnte ich sicher sein, dass er das Kinn schon leicht gesenkt hätte, wie in Erwartung des Schlags, den er parieren und dann kontern würde – mit allem, was er hatte und vielleicht mit mehr, als es die Situation verlangte. Würde ich Pappy erzählen, was der weiße Junge auf der Toilette zu mir gesagt hatte, würde er sich in diese unsägliche Wut hineinsteigern, die mich noch immer zusammenzucken lässt, wenn ich an sie denke. Er würde eine Woche lang nicht konzentriert arbeiten können, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber außerdem würde es ihm wehtun und den Schlaf rauben. Im Dunkeln würde er an seinem Schreibtisch sitzen, in die eigene Vergangenheit versetzt, und Qualen leiden, weil nun bewiesen war, was er immer befürchtet hatte: dass egal, wie stark er war, er nicht stark genug sein würde, seine Söhne vor dem amerikanischen Rassismus zu beschützen; einem Rassismus, der psychologische Kriegsführung einsetzt und kleinen Jungs, wenn sie allein sind, Abscheulichkeiten zuraunt. All das war es nicht wert. An jenem Tag und an anderen danach beschloss ich, selber stark genug zu sein, um ihn davor zu beschützen, diese Wahrheiten zu erfahren.
Diese Wut meines Vaters über Erlebtes, über das unfassbare Unrecht, das ihm unbedeutende Männer und auch deren Kinder zugefügt hatten, weil sie sich nur wegen ihrer Hautfarbe und Haarstruktur für etwas Besseres hielten – ich teilte sie nicht ganz. Aber ich lernte früh, diese Wut, diesen unsäglichen Schmerz von jemandem, den ich liebte wie mich selbst, nachzuempfinden und möglichst vorauszuahnen. Es misslang mir eines schönen Herbstnachmittags, als mich Pappy von der Schule abholte. Das kam eher selten vor, und es fühlte sich auch anders an, neben meinem Vater im Auto zu sitzen. Das Radio blieb aus, es gab kein Hot 97, den Hip-Hop-Sender, den meine Mutter mir zuliebe manchmal anstellte. Stattdessen gab es Erwachsenen-Fragen in Erwartung wohlüberlegter Antworten.
»Wie war dein Tag, mein Sohn?«
Pappy schien guter Stimmung. Draußen war es warm. Er hatte geduscht und sich den Hals gepudert, und der Geruch von Talkum und der Pomade, die er manchmal beim Kämmen der Haare verwendete, vermischte sich mit dem alten Autoleder zu einem süßlichen Moschus-Duft. Der Motor lief schon, aber wir waren noch nicht losgefahren. Auf dem schattigen Bürgersteig lungerten Mitschüler herum, die noch auf ihre Eltern warteten. Irgendwie fingen wir an, über Sport zu reden, darüber, worin ich gut war und was mich interessierte. Meine Liebe galt dem Basketball, aber auch für Baseball hatte ich etwas übrig. »Und Boxen?«, fragte mein Vater. »Es wird Zeit, dass du boxen lernst. Du willst doch boxen können, oder?«
Die Art, wie er mich ansah, hatte etwas Anerkennendes. Ich war jetzt alt genug, um in dieses Männergeheimnis eingeweiht zu werden. Selbstverständlich war meinem Vater die geistige Entwicklung am wichtigsten, aber er war beileibe kein Stubengelehrter. Er war ein Mann eines gewissen Alters und mit einer gewissen Prägung durch die Südstaaten-Kultur und entsprechenden Fähigkeiten und Vorlieben. Dass ich nicht nur intellektuell, sondern auch körperlich gute Anlagen zeigte, gefiel ihm, und beide Aspekte der Persönlichkeit mussten gefördert werden, da hatte er offensichtlich Recht.
Warme Sonnenstrahlen fielen durch die Windschutzscheibe und entspannten mich. Ich sah mich schon auf mein Zimmer gehen, die Schuluniform ausziehen und raus zum Spielen eilen. Ich rannte gewissermaßen schon zu den Basketballplätzen, und so entging mir der Ernst der Frage meines Vaters, von dem ich in jenem Moment dachte, er wolle bloß plaudern. »Ach, ich weiß nicht, Babe«14, sagte ich abwesend. »Boxen ist mir eigentlich nicht so wichtig.«
»Boxen ist dir nicht so wichtig?«, wiederholte er. »Wer hat dir das gesagt?«
»Niemand hat mir das gesagt. Was meinst du damit?«
Pappys Gesicht verhärtete sich. Ich erinnere mich: wie der Motor ruckelnd ansprang, wie der alte Benz in drei Zügen gewendet wurde und Pappy auf meine weißen Mitschüler auf dem Bürgersteig zeigte. »Wer hat dir gesagt, dass Boxen nichts für dich ist?«
»Gar niemand!« Ich verstand die Frage überhaupt nicht.
»Verflucht noch mal!«
Bis dahin hatte ich kaum Zeit mit den schwarzen Jungs verbracht, die ich später einmal gut kennenlernen und deren Kultur ich mir aneignen würde. Jungs aus den ausgegrenzten Randbezirken meiner Kleinstadt, die sehr den Jungs aus den größeren, rein schwarzen Siedlungen außerhalb der Stadt ähnelten. Jungs, die älter aussahen als ich, selbst wenn sie jünger waren, und die sich zu prügeln verstanden, im Spaß wie im Ernst. Es sollte noch Jahre dauern, bis mir all das vertraut wurde, und vorerst hatte ich nur meinen Vater jemals boxen sehen. Ich erinnere mich an die große, generationenalte Frustration, die aus seinem Fluchen sprach. Und an eine übergriffige Angst. Ich weiß nicht mehr, was ich, bestimmt stammelnd, erwiderte, um mich zu retten und ihn zu beruhigen. Aber ich erinnere mich an seine schmerzerfüllte Wut – die wenig mit mir zu tun haben schien –, als er mich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben anschrie: »Die werden zum Teufel noch mal keinen Weißen aus dir machen!« Und ich erinnere mich an die qualvolle Stille auf der Heimfahrt, als mein Gehirn zu begreifen versuchte, wie das gehen soll: zu etwas gemacht werden, das man doch gar nicht sein kann.
Nicht lange danach, als sich seine Laune wieder aufgehellt hatte – denn diese Ausbrüche von race-bezogener Verletztheit und Angst waren nur von kurzer Dauer –, ging ich zu meinem Vater und sagte ihm, ich wolle Boxen lernen. Sein eigener Vater war nie Teil seines Lebens gewesen und seine Mutter gestorben, als er noch ein Kind war. Seine entferntere Verwandtschaft aus Texas kannten wir nicht. Hin und wieder, vielleicht einmal im Jahr, klingelte das Telefon und dann änderte sich Pappys Stimme, wurde wohl auch langsamer, und er schwatzte eine Stunde oder länger mit irgendeinem Verwandten. Ich versuchte, mir die Gesichter dieser geisterhaften Männer und Frauen vorzustellen, die – so unglaublich mir das schien – wussten, wer mein Vater war. Welcher Welt er entstammte. Aber natürlich hatte ich keine Ahnung, was für eine Art von Leben sie führten. Meine Mutter sagte dann etwas wie: »Ach, das ist So-und-so aus Detroit«, als würde das die Sache für mich klarer machen. Sobald Pappy aufgelegt hatte, waren alle vorübergehend geknüpften Verbindungen in die Vergangenheit augenblicklich gekappt und das Thema beendet. Fragte ich ihn, wo er so gut boxen gelernt habe, bekam er wehmütig glänzende Augen und sagte, seine Onkel in Longview hätten es ihm beigebracht. Es ist eine der wenigen mir bekannten Erinnerungen an seine Kindheit, die ihm ein völlig unbekümmertes Lächeln entlockten.
Ich hätte besser wissen müssen, dass Boxen für das Selbstverständnis meines Vaters als Mann genauso wichtig war wie Lesen. Denn die Hinweise darauf waren, genau wie die Bücher, unübersehbar. Unser Keller hätte auch der von Cus D’Amato sein können, hätte der eine literarische Ader gehabt. Dort gab es ein Laufband, Trimmräder, Kabelzuggeräte, Medizinbälle und Hantelbänke. In der Garage hatten wir einen Profi-Sandsack und eine Boxbirne, außerdem mehrere Sets Kopfschutze und scharlachrote Everlast-Boxhandschuhe. Erst rückblickend ist mir klar geworden, dass mein Vater wohl geplant hatte, uns irgendwann zu trainieren. In meiner Kindheit und Jugend gab es immer wieder mal kurze Box-Lektionen, spontane Unterrichtseinheiten im Flur oder in der Küche, in denen er mir geduldig zeigte, wie ich meine Füße bewegen, meine Schultern hochziehen musste – Kinn runter, Hals schützen – und wie man einen Schlag abwehrt. »Geh leicht in die Knie und lass die Füße fest am Boden, damit du reagieren kannst.« Pappy selbst war nicht zu treffen, zumindest nicht von mir, so blitzschnell bewegte er Hände, Oberkörper und Kopf, noch mit weit über Sechzig. Auch ich habe flinke Hände. Aber ich bin schlaksig, er kompakt. Und sein Kiefer ist aus härterem Holz als meiner. Es war toll, was er draufhatte. Gibt es etwas Schöneres, als den eigenen Vater in etwas hervorstechen zu sehen? Inzwischen denke ich, dass daran allenfalls die Freude heranreicht, dem eigenen Sohn etwas fürs Leben mitzugeben.
Wie ein Berggipfel, den man vom Flugzeug aus sieht, ragt ein Abend aus dem Nebel meiner Kindheitserinnerungen heraus. Pappy nimmt den schmächtigen kleinen Jungen, der wohl ich bin, mit hinunter in den Keller, streift ihm Handschuhe über und dann sich selbst. Es ist ein Ort der Härte, der mit Abstand unwirtlichste des Hauses, mit einem harten Kachelboden, dessen Risse den darunterliegenden Beton erkennen lassen. An den Wänden stehen keine hölzernen Regale, wie im Wohnbereich, sondern harte Metallregale mit Tausenden überzähliger Bücher und zwischen ihnen die Trainingsgeräte. Hier unten gibt es harte schwarze Hantelscheiben aus Eisen und harte Chromstangen, und die Luft ist auch am heißesten Tag des Jahres noch kühl und feucht. Es ist ein ungemütlicher Raum ohne jede Sitzgelegenheit. Hier muss man stehen. Hier muss man trainieren oder sich ein Buch nehmen und lesen. Wenn man an diesen Ort hinabsteigt, muss man erkennbar an sich arbeiten.
»Bist du bereit?«, fragt er, und auf einmal ist sein texanischer Akzent deutlicher hörbar. Oder spielt mir da die Erinnerung einen Streich?
»Ja«, antwortet der Junge in meiner Erinnerung, und dann schlägt ihn sein Vater. Nicht annähernd mit ganzer Kraft, aber auch nicht wie ein Acht- oder Neunjähriger. Immer wieder schlägt er kurze Jabs aufs Kinn, zur Verblüffung des Jungen, der so noch nie geschlagen wurde. Der überhaupt noch nie geschlagen wurde.
»Du musst wissen, wie das ist, einen Schlag einzustecken. Wie er sich in deinem Gesicht anfühlt«, sagt Pappy liebevoll, aber bestimmt zu dem Jungen, dessen Gedanken rasen. »Wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast, wird es dich nie mehr überrumpeln.« Konsterniert, aber entschlossen, sich den Respekt seines unnachgiebigen Vaters zu verdienen, nickt der Junge und wünscht, er wäre irgendwo anders. Er hält weiteren Schlägen an Kiefer und Kinn stand, von denen einer, weil die Boxhandschuhe so unförmig sind, seine Nase schrammt, und seine Augen füllen sich mit Tränen.
Das Flugzeug der Erinnerung fliegt weiter und der Berggipfel verschwindet; was bleibt, sind Wolken. Ich weiß nicht mehr, wie diese merkwürdige Unterrichtsstunde endete, ob im Guten oder Schlechten. Ich weiß nur, dass Pappy nicht noch einmal versuchte, mir diese Lektion zu erteilen und ich ihn auch nicht mehr darum gebeten habe. Wie sich zeigte, konnte ich nie die nötige Disziplin aufbringen, um Boxen zu lernen. Was nicht heißt, dass ich nicht lernte, wie man sich prügelt. Wie ich meine Hände einzusetzen hatte, brachte ich mir später selbst bei, in der Schule des Lebens – also auf jene Art und Weise, die mein Vater als ungenau und unzuverlässig verachtet. Doch selbst als kleiner Junge begriff ich, dass Pappy es gut mit mir meinte. Dass mein Vater aus irgendwelchen Gründen nur mit Menschen richtig warm wurde, die im Leben schon mit einem Mindestmaß an Widrigkeiten zu kämpfen hatten. Trotzdem habe ich schon immer vermutet, dass sich Pappy bei jener Boxstunde ebenso unwohl fühlte wie ich. Ganz sicher hat er mir nie gewünscht, in irgendeiner Situation einmal auf meine Fäuste angewiesen zu sein.
Als Achtklässler hatte ich dann schon einiges gelernt. Unter anderem, wie ich mir mein – wie auch immer geartetes – Anderssein zunutze machen konnte. Meine »race« war mir damals wohl nie stärker bewusst als die Male, die ich meinerseits Gelegenheit fand, Evans kleinen strohblonden Bruder zu terrorisieren, der nie verstehen sollte, womit er sich meinen Hass zugezogen hatte. Es war auch das Jahr, in dem Pappy mich vor die erste große Entscheidung meines Lebens stellte. Ich könne zur Delbarton School gehen, einer Schule mit lauter Evans, mit hohen Leistungsansprüchen und einer erstklassigen Basketballmannschaft. Einer Schule, die wir uns eigentlich nicht leisten konnten, für die mir Pappy aber schon irgendein Stipendium besorgen würde. Oder aber zur Union Catholic Regional High School, keine zwei Kilometer von unserem Haus die Straße hinunter. Die hatte zwar kein besonderes Renommee, was Sport oder Unterricht betraf, dafür aber eine gemischtgeschlechtliche Schülerschaft, die obendrein nicht nur aus Weißen, sondern zur Hälfte aus Schwarzen und Latinos bestand. In meinem damaligen Alter durfte ich noch hoffen, an Gewicht und Größe mächtig zuzulegen, so dass ich weiterhin davon träumte, einmal für ein Basketballteam der höchsten Hochschulliga zu spielen. Doch es dauerte keine fünf Minuten, bis ich mich entschieden hatte. Ich sagte Pappy, er solle mich noch am selben Tag an der Union Catholic anmelden. Natürlich war es auch eine hormonelle Entscheidung – selbst wenn mich mein Vater dafür bezahlt hätte, wäre ich auf keine reine Jungenschule gegangen. Aber noch etwas anderes spielte eine Rolle. Schon damals begriff ich, dass dies das bislang bedeutendste Bekenntnis zu meiner race-bezogenen Identität war. Ich war schwarz, und nichts wünschte ich mir damals mehr, als alle Uneindeutigkeit loszuwerden und mich meinen Leuten anzuschließen, von denen mich die Lebensweise meiner Eltern weitgehend ferngehalten hatte.
Meine Jugend verbrachte ich überwiegend auf asphaltierten Basketballplätzen und vorm Fernseher, wo ich Sendungen von Black Entertainment Television schaute, aber ohne schwarze Großfamilie. Denn mein Vater hatte ja alle Verbindungen zu den Südstaaten gekappt. In diesen Jahren war ich sehr damit beschäftigt, meine race zu erlernen und ihr entsprechend aufzutreten. Ich war ein Streber im Leistungskurs »Schwarze Männlichkeit«, mit einem Eifer, der mich heute an den eines fanatischen Konvertiten erinnert. Am meisten aber irritiert mich im Rückblick die Bemühtheit dieses Unterfangens. In den Genen, die ich mit meinem Vater teile, die mein Haar gekräuselt und meine Haut gefärbt haben, sind keine Verhaltensvorschriften kodiert. Alles, was ich darüber lernte, ein »nigga« zu sein, e...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Anmerkung des Autors
  4. Prolog
  5. Teil 1 - Der Blick von nah und fern
  6. Teil 2 - Heirat über Grenzen hinweg
  7. Teil 3 - Selbstporträt eines Ex-Schwarzen
  8. Epilog - Umrisse einer anbrechenden Zeit
  9. Danksagungen
  10. Bücher, aus denen zitiert wurde:
  11. Über den Autor
  12. Über den Verlag
  13. Impressum
  14. Anhang - Fußnoten