THEMA Sterben und Beerdigen
Der Friedhof von morgen
Der Friedhof von morgen
Ostern 2020. Noch ganz zu Beginn der Pandemie. Als Angst umging, Menschen allein starben und alles anders war. Auch das Bestatten der Toten. In dieser Zeit sucht Pfarrerin Helene Kratzert ihren Friedhof in Palmbach (SĂŒddeutschland) auf und lĂ€sst dabei eine Kamera mitlaufen. Lutz Friedrichs
Kratzert erzĂ€hlt, was sie sieht: âEs gibt Zeiten, da ist alles dichter als sonst. Und es gibt Orte, die passen zu solchen dichten Zeiten. So ein Ort ist fĂŒr mich der Friedhof hier in Palmbach. Weil sich hier das Leben auf ganz wesentliche GefĂŒhle zusammenzieht: Auf Trauer, Schmerz, Liebe und Dank. Menschen machen hier, was man halt so macht auf einem Friedhof: sie pflanzen StiefmĂŒtterchen auf GrĂ€ber. Sie stehen eine Weile mit gesenktem Kopf. Manche weinen. Andere rufen sich lachend ĂŒber GrĂ€ber was zu. Und manchmal finden sich kleine Briefe, Kuscheltiere oder WindrĂ€der auf den GrabstĂ€tten. Das alles sind zwischen GieĂkanne und Spitzhacke kleine Bilder der Liebeâ (Kratzert, 5).
Die Andacht wird ins Netz gestellt, berĂŒhrt viele Menschen und erhĂ€lt den Preis der Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes fĂŒr digitale Ostergottesdienste. Pfarrerin Kratzert sieht, was auf einem Friedhof zu sehen ist. Und sie sieht mehr: Ihr Blick nimmt die âBilder der Liebeâ wahr. Sicher hat auch dieser Friedhof mit zurĂŒckgehenden Zahlen, wachsenden GebĂŒhren und anderen Alltagsproblemen zu kĂ€mpfen. Dennoch kann sie sagen: âEin Ort voller Liebe und Leben ist mein Friedhof.â Das ist der Friedhof nicht an sich, sondern der Friedhof wird zu einem solchen Ort, wenn er so genutzt und gesehen wird.
DIAGNOSE ODER: NACHRUF AUF DEN FRIEDHOF?
Es mangelt nicht an PhĂ€nomenen, die fĂŒr einen Abgesang, vielleicht sogar fĂŒr die Arbeit an einem Nachruf auf den Friedhof sprechen. Es gibt Stimmen, die sagen: Den Friedhof gibt es nur noch, weil er gesetzlich geschĂŒtzt ist. Er siecht dahin (vgl. Sörries).
TatsĂ€chlich geben Zahlen und beobachtbare Trends Anlass zur Sorge, wie am Beispiel des Hauptfriedhofs in Kassel deutlich wird (vgl. Friedrichs): Die Anzahl der Bestattungen insgesamt ist von 1527 (1973) ĂŒber 836 (1995) auf 397 (2017) zurĂŒckgegangen. Dabei ist die Anzahl der Urnenbestattungen von knapp 35 Prozent (1973) ĂŒber etwa 50 Prozent (1995) auf etwa 75 Prozent (2017) gestiegen. Das ist gegenĂŒber den Stadtteilfriedhöfen ein sehr hoher Anteil, markiert aber unverkennbar einen Trend. Sichtbar Ă€ndern sich auf dem Hauptfriedhof auch traditionelle Formen der Trauerkultur. RĂŒcklĂ€ufig ist die Zahl der kirchlichen Bestattungen. Es verĂ€ndern sich auch, so berichten Friedhofsmitarbeitende, Formen und Rhythmen des Grabgangs, der klassische Friedhofsbesuch am Totensonntag geht erkennbar zurĂŒck. Zudem ist die zentrale Friedhofskapelle nicht selten viel zu groĂ fĂŒr die meist kleinen Trauergemeinden.
Lutz Friedrichs
Dr. theol., geb. 1963, Direktor des Evangelischen Studienseminars der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar; apl. Prof. fĂŒr Praktische Theologie an der UniversitĂ€t Göttingen.
Wie in einem Brennglas bĂŒndeln sich hier in exemplarischer Weise zentrale Aspekte des Wandels der Friedhofskultur:
âąDie Zahlen konkretisieren den âSiegeszug der Feuerbestattungâ (Happe 2012, 76; vgl. ebd., 76â96), der nicht nur die Trauerkultur, sondern auch die Friedhofskultur grundlegend verĂ€ndert. Die Urnenbestattung erweist sich fĂŒr die Erfordernisse der mobilen Gesellschaft als attraktiv, da mit ihr â im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen â FlexibilitĂ€t in Ort und Zeit entsteht.
âąDer Friedhof verliert seine Monopolstellung, auch wenn er derzeit noch immer der zentrale Bestattungsort in Deutschland ist. Die Wahl des Grabes oder die WertschĂ€tzung des Grabmals sind auf der einen Seite Indizien fĂŒr den âFortbestand konventioneller, an Traditionen anknĂŒpfender Elementeâ (Thiemann, 329). Auf der anderen Seite lassen Umfragen erkennen, wie stark traditionelle Grabformen an Zuspruch verlieren. Dabei spielt der Aspekt des Pflegeaufwands eine zentrale Rolle (vgl. Aeternitas).
âąDaneben geht es um die Frage des Ortes. Mit der gesellschaftlichen Pluralisierung pluralisieren sich auch die Bestattungsorte. Der Friedhof wird zu einem Ort neben anderen.
âąDie Konkurrenz besteht nicht nur darin, dass der Friedhof als âaltâ und âunmodernâ empfunden wird. Die Konkurrenz ist auch eine Konkurrenz der Bilder. So kommen die alternativen Orte nicht nur dem BedĂŒrfnis nach einem pflegelosen Grab entgegen, sondern versehen das Bestatten mit Bildern, âdie den Angehörigen wohltuend erscheinen, sei es das dunkle Laub der WĂ€lder, der unendliche Horizont am Meer, die grenzenlose Freiheit ĂŒber der Erde oder das Einssein mit einem Wassertropfen auf dem Weg zum groĂen Ozeanâ (Sörries, 37). Der Bezug zur Natur lĂ€sst sich, durch die Coronakrise in gewisser Weise intensiviert, als Gegenbewegung zur RationalitĂ€t des Friedhofs lesen: â[D]ie gefĂŒhlte Landschaft versöhnt mit Sterben und Todâ (Helmers, 17) und gibt âSpielraum fĂŒr eine nicht normierte SpiritualitĂ€tâ (Happe 2015, 267).
âąMit der Individualisierung verĂ€ndern sich auch die Rituale und Sitten des Bestattens und Trauerns. Die kirchlichen Bestattungen in Deutschland sind stark rĂŒcklĂ€ufig, ihr Anteil am Gesamt der Bestattungen ist von 67,5 Prozent (2006) auf 56,5 Prozent (2016) gefallen. Eine Ursache kann darin gesehen werden, dass Kirchen, dem Friedhof Ă€hnlich, als unmodern gelten und eher mit Fremdbestimmung als Selbstbestimmung in der Bestattungspraxis verbunden werden. Persönliches Mitgestalten ist nur ansatzweise vorgesehen (vgl. Thieme, 332).
âąTraditionelle Riten wie der Grabgang am Totensonntag treten zurĂŒck, die Formen der Trauer individualisieren und privatisieren sich. Die mancherorts tristen oder viel zu groĂen Friedhofskapellen verlieren ihre Funktion, Orte des öffentlichen Abschieds zu sein. Kleine, atmosphĂ€risch ansprechende RĂ€ume wie sie von Bestattungsinstituten angeboten werden, kommen hingegen dem TrauerbedĂŒrfnis entgegen.
âąAuch die ökonomischen Faktoren mĂŒssen berĂŒcksichtigt werden. Sie haben starken Einfluss auf die Bestattungskultur und befördern Entwicklungen, die die WĂŒrde der Verstorbenen antasten, so besonders im Fall von âordnungsbehördlichenâ Bestattungen, also Bestattungen von Toten, die keine Angehörigen hinterlassen. Der finanzielle Druck auf die Friedhöfe ist enorm.
VISION ODER: ĂBER WAS WIR STAUNEN WERDEN
Wie wird der Friedhof von morgen aussehen? Ich löse mich von seinen Problemen und versuche mir vorzustellen, wie sich die Zukunft des Friedhofs denken lĂ€sst, wenn neue Ideen zugelassen werden. So kommen seine StĂ€rken und Potenziale in den Blick. Es handelt sich nicht einfach um ein freies Phantasieren, sondern ich verarbeite Impulse und Initiativen, die jetzt schon dem Friedhof ein neues, menschenfreundliches Gesicht zu geben versuchen. Nicht die Klage ĂŒber Defizite, sondern Entdeckerlust lenkt meinen Blick auf das Morgen des Friedhofs mit seinen Ressourcen. Davon erhoffe ich mir Anregungen und Orientierungen fĂŒr die Gegenwart.
Angenommen, wir befĂ€nden uns im Jahr 2030 in einem TrauercafĂ© in unmittelbarer NĂ€he zum âGarten der Lichterâ eines stĂ€dtischen Friedhofs. WorĂŒber werden wir staunen, wenn wir auf die Zeit seit Beginn der Corona-Pandemie im FrĂŒhjahr 2020 zurĂŒckblicken?
Wir werden staunen ĂŒber das glĂ€serne BĂŒro der Friedhofsverwaltung, das entstand. Es ist offen und einladend. So wie die Website des Friedhofs. Auf ihr lassen sich die verschiedenen Formen des Bestattens erleben. Ein virtueller Erkundungsgang bereitet auf die verschiedenen Themenwelten des Friedhofs vor. Musik und Bilder stimmen auf sie ein. Oder der Spaziergang ist ein virtueller Trauerbesuch. Ich setze mich auf eine Bank des Friedhofs. Jemand setzt sich neben mich. Wir chatten. Ich gehe weiter zum Grab und auf dem Weg schalten sich die Facebook-Bilder der Vergangenheit hinzu. Aus meiner Lebenschronik. Video- und Tonaufnahmen. Die Sinne werden digitalisiert angesprochen und machen nicht nur Erinnerung, sondern VergegenwĂ€rtigung möglich: âMenschen leben weiter in unseren Herzen.â Auch die Welt des analogen Friedhofs hat sich verĂ€ndert: âHörwabenâ sind zu sehen, Strandkörben nicht unĂ€hnlich, die zum Verweilen einladen. In einer der Hörwaben ist ein Ă€lterer Mann in das GesprĂ€ch mit einer Pastorin vertieft, die am Projekt âMobile Seelsorge auf dem Friedhofâ teilnimmt. Am Nachbartisch unseres CafĂ©s sitzen zwei Frauen, die sich ĂŒber das Onlineportal TrostHelden kennenlernten und das BedĂŒrfnis hatten, sich jeweils auf âihrenâ Friedhöfen zu treffen. Am Ausgang steht ein Modell der neuen Multimedia-Kapelle, das wechselnd in den Farben leuchtet, die spĂ€ter den Innenraum ausleuchten sollen. Man spöttelt ĂŒber die Zeiten, in denen es Grabstein-RĂŒttelordnungen gab, um die Ruhe der Toten zu sichern. Es sei wohl mehr um das SicherheitsbedĂŒrfnis der Verwaltung gegangen als um die Anliegen der Hinterbliebenen.
Wir werden staunen, wie lernfĂ€hig der Friedhof war. Man sollte meinen, dass Trauern und Abschiednehmen seine Themen sind. Aber es fiel ihm schwer, das loszulassen, was ihm bisher so lieb war: Einzel-, Reihen- und FamiliengrĂ€ber. Generationen von Menschen erinnern Friedhöfe als Orte, die Ruhe und Frieden durch Ordnung stiften. Diese Zeit ist vorbei. Vertrautes löst sich auf, eine neue Epoche beginnt. Als der âGarten der Lichterâ kurz nach der Pandemie entstand, war er noch etwas Besonderes. Ein âFriedhof im Friedhofâ im Stil eines japanischen Gartens, attraktiv fĂŒr Menschen, die sich den Ort ihrer letzten Ruhe so vorstellen: Ein Garten, der an den Garten Eden erinnern mag, exotisch und offen fĂŒr mystische SpiritualitĂ€t. Dann kamen weitere GĂ€rten und Landschaften hinzu, ein âMemoriam-Gartenâ, ein âFrauengartenâ und âAuengartenâ, dessen GrĂ€ber sich in eine Landschaft zu verstreuen scheinen. In Planung ist ein âGarten der Weltâ fĂŒr alle Kinder, die wir nie sterben sehen, im Meer, auf der Flucht, im Elend des Hungers. Der Frieden des Friedhofs kommt nicht ohne Mahnung und Gedenken aus. Inzwischen ist ein âMosaik von Miniaturlandschaftenâ (Fischer) entstanden, das beeindruckend ist. Irgendwie erinnert das an die Themenwelten moderner Zoos. Und ist das nicht verstĂ€ndlich? Bei allem, was wir wissen, suchen Menschen, wenn sie sich bestatten lassen, einen Ort, der fĂŒr sie, wie ihre Lieblingsmusik, âpassendâ und âschönâ ist.
Wir werden staunen ĂŒber die wissenschaftlichen Studien, die in Auftrag gegeben wurden. Wie gut, dass die Online-Initiative Trauer Now frĂŒhzeitig den Impuls gab, sich auch wissenschaftlich mit der Sicht der Betroffenen zu befassen: âEs ist Zeit, dass wir uns den tieferliegenden BedĂŒrfnissen einer gelungenen Trauerarbeit stellen. DafĂŒr brauchen wir die Diskussion in Deutschland sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die Angehörige und ihre Trauer enttabuisiert: Nicht die Toten trauern, den Angehörigen gehört die Trauer. So können die Bestattung und der Friedhof an sich wieder eine wichtige gesellschaftliche Funktion erhalten. Der Friedhof kann dadurch so wirkungsstark sein, dass er zu einem âKraftortâ wird, aus dem Menschen Energie ziehen können. Damit hat er auch fĂŒr das Gemeinwohl einer ganzen Kommune eine wertvolle, positive Wirkungâ (Trauer Now).
Wir werden staunen ĂŒber die âKraftâ, die der Friedhof entwickelte. Es gab Momente, da hatten wir ihn schon aufgegeben. Dann aber kam die Initiative mit den Sternenkindern. Und uns wurde klar, wie lebendig unser Friedhof sein kann. Dankbar sehen wir auf das neue GrĂ€berfeld fĂŒr die Sternenkinder mit Spielplatz fĂŒr deren Geschwisterkinder, ein Kooperationsprojekt zwischen Friedhof, Kirchen, Krankenhaus und Kinderhospizverein. Wie Bausteine stapeln sich die Granitblöcke ĂŒbereinander, gestaltet als ein offenes Tor oder eine BrĂŒcke ĂŒber ein Flussbett, das ausgetrocknet wirkt, aber in dem ein Boot unterwegs ist. Wer, wenn nicht der Friedhof, kann diesen Kindern mit ihren Familien öffentlich Anerkennung geben? Und sprechen die Bilder nicht die Sprache unserer Zeit? Offen in der Deutung, aber klar in der Richtung der Hoffnung? Die Andacht, die hier am Tag der Sternenkinder im letzten Oktober begangen wurde, war berĂŒhrend, auch fĂŒr die, die gar nicht zur Kirche gehören, aber zur Wirklichkeit Gottes, von der sie erzĂ€hlt: âVielleicht weil es gut ist, zu spĂŒren: Mein Kind ist nicht nur ein Fall in einer Krankenakte. Mein Kind hat einen Namen und wir haben eine Geschichte, die man erzĂ€hlen kann. Auch wenn sie nur ganz kurz war. Vielleicht auch, weil es wichtig ist, einen Ort zu haben, an dem die Trauer aufgehoben wird. So aufgehoben, dass man weiterleben kann. Einen Ort, an dem man den Schmerz ablegen und ...