Teil II
Praxis: Verschwörungsmythen in Schule und Gesellschaft begegnen
Wenn – wie im ersten Teil beschrieben – Verschwörungsmythen und Verschwörungsglaube das demokratische Zusammenleben einer Gesellschaft gefährden, stellt sich die Frage, inwieweit diese Gesellschaft bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Frage stellt sich für alle Bereiche, insbesondere für den Bereich Bildung und Erziehung. Deshalb werden im Teil II Möglichkeiten der Prävention und Intervention im Rahmen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit sowie im privaten Bereich vorgestellt. Darüber hinaus wird abschließend auf aktuelle Debatten in den Bereichen Politik, Justiz, Internet, Medien und Zivilgesellschaft eingegangen.
Wer die Generation von morgen ausbilden will, sollte in einer zunehmend digitalen Welt auch Medien- und Demokratiekompetenz als Teil seines professionellen Selbstverständnisses ansehen. Schule spiegelt die Gesellschaft im Kleinen wider. Verschwörungsglaube ist folglich auch ein Schulproblem. Nun werden an Schule immer mehr Forderungen nach Inklusion, Integration, Prävention aller Art etc. gerichtet – bei gleichzeitigem Mangel an pädagogischem Personal, hohem bürokratischen Aufwand, mangelhafter digitaler Ausstattung und überfrachteten Lehrplänen. Hinzu kommt die Erwartung, auch in Krisensituationen zu funktionieren. Gleiches gilt für Lernende. Je öfter aber von Seiten der Politik und der Gesellschaft auf das Bildungssystem verwiesen wird, beispielsweise auch mit der Aufforderung, mehr Demokratie zu lehren, ist es durchaus angebracht, zurück auf Politik und die Gesellschaft zu verweisen und sie aufzufordern, selbst mehr Demokratie vorzuleben.
Den seit langem geführten Debatten um Bildungsreformen und Forderungen nach mehr Medienkompetenz oder Demokratiebildung sind bisher kaum konkrete Umsetzungen gefolgt. Auch viele gut gemeinte Präventionskonzepte verpuffen. Stattdessen wird die Verantwortung an einige wenige (Neben)Fächer abgeschoben oder diese Themen werden im Rahmen von Projektwochen behandelt, nicht selten durch externe Expert:innen. Dies ist sicher ein sinnvoller Ansatz. Dennoch sollten diese Themen nicht einfach »outgesourced«, sondern – ebenso wie das Thema Klima – in jedes Schulfach integriert werden. Dass dies möglich ist, möchte das hier entwickelte Konzept verdeutlichen. Daher wählen wir für diesen Ansatz eine pragmatische, am realen Schulalltag orientierte Vorgehensweise, mit der wir einen Lösungsansatz für diese strukturellen Probleme aufzuzeigen versuchen.
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FakeLess – Eine Handreichung gegen Verschwörungsideologien
Es ist davon auszugehen, dass Lehrkräfte und Schüler:innen bereits auf verschiedensten Wegen mit Verschwörungsideologien konfrontiert wurden. Es ist aber auch anzunehmen, dass sich nur wenige ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen und es im Unterricht behandeln wollen und könnten. Nur wenige Lehrkräfte dürften über ausreichend Fachwissen zum Thema Verschwörungsmythen verfügen. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, wollen wir mittels
FakeLess (
Abb. 15) dazu inspirieren und motivieren, nach Bezügen des Themas Verschwörungserzählungen zum eigenen Unterrichtsfach zu suchen, um sich ihm über den Fachbezug zu nähern.
Abb. 15: Logo FakeLess
Da das Thema komplex und sensibel ist, sind kontroverse Diskussionen mit Lernenden und Kolleg:innen möglicherweise vorprogrammiert – Konflikte, für die es die notwendige Expertise und Energie braucht. Derzeit fehlt noch die Anerkennung des Themas als ernstzunehmende Gefahr für demokratische Systeme. Häufig wird auf die Lächerlichkeit und Absurdität von Verschwörungserzählungen verwiesen, doch genau diese Verharmlosung birgt die Gefahr einer ungehinderten Verbreitung von Verschwörungsideologien und Radikalisierungstendenzen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es auch unter Lehrkräften Verschwörungsgläubige gibt. Dann besteht logischerweise kein Interesse daran, das eigene, von der Verschwörungserzählung geprägte Weltbild kritisch zu hinterfragen. Stattdessen bestünde die Gefahr, dass verschwörungsgläubige Lehrkräfte ihre Verschwörungsideologie unter Schüler:innen weiterverbreiten. Ebenso besteht – natürlich unbeabsichtigt – das Risiko, bei Lernenden Verschwörungsgläubigkeit zu initiieren oder sie – sofern sie bereits daran glauben – darin zu bestärken.
Doch es bedarf sowohl der direkten Intervention in konkreten Situationen einerseits als auch der Integration des Themas in die eigene Unterrichtsplanung im Rahmen der Prävention andererseits. Ignorieren und Schweigen wäre in diesem Fall mit Zustimmung gleichzusetzen und dementsprechend gefährlich. Daher ist dieses Konzept als ein Angebot für interessierte Schulen und Lehrkräfte zu betrachten, die ihren Auftrag im Sinne der Demokratiebildung allgemein sowie dem Umgang mit Verschwörungsideologien im Besonderen ernstnehmen.
6.1 Ziele und Begründung
Ziel von FakeLess ist es, Lehrkräften kompaktes Handwerkszeug im Umgang mit Verschwörungsideologien an die Hand zu geben. Da es bisher keine eigenständigen Fächer für Demokratiebildung und Medienkompetenz gibt, muss das Potenzial der vorhandenen Fächer genutzt werden.
Der Schulalltag ist bekanntlich stressig, die zeitlichen und personellen Ressourcen sind knapp. Das ganze Schuljahr, jede einzelne Schulstunde sind eng getaktet und durchgeplant. Es bleibt meist nur wenig Spielraum für größer angelegte (fächerübergreifende) Projekte. Ein Umstand, den Lehrkräfte bedauern, da er weder ihren Ansprüchen noch denen der Schüler:innen gerecht wird. Ganz gleich, um welches Thema es geht, Lehrkräfte und Schüler:innen wünschen sich mehr Zeit und Flexibilität in der Unterrichtsvorbereitung und Durchführung. Oder anders formuliert: Oft liegt es nicht am »Nichtwollen«, sondern am »Nichtkönnen«, so der allgemeine Konsens unter engagierten Lehrkräften.
Um dennoch den Forderungen nach mehr Demokratiebildung und Medienkompetenz gerecht zu werden, eignet sich die thematische Eingrenzung auf das Thema Verschwörungsideologien in besonderer Weise: Wie bereits in Kapitel 1, 2 und 5 aufgezeigt, handelt es sich unter inhaltlichen Gesichtspunkten um mehrdimensionale Narrative, die mit Emotionen spielen, Stimmungen erzeugen und sogar eigene Welten bzw. Weltbilder jeglicher Couleur schaffen. Mit anderen Worten: Es ist für jede und jeden etwas dabei, der sich die Welt auf alternativen, unwissenschaftlichen Wegen zu erklären versucht. Aufgrund des breiten inhaltlichen Spektrums einzelner Verschwörungserzählungen – sei es Impfskeptik, Klimawandelleugnung oder Chemtrails –, aber ihrer immer gleichen Funktions- und Wirkungsweise und das daraus resultierende Gefahrenpotenzial für eine demokratische Gesellschaft, lassen sich im Rahmen anlassbezogener Prävention im Fachunterricht vielfältige Bezüge herstellen. Dadurch ist das Thema in jedes Unterrichtsfach integrierbar.
Hierzu gibt es zwei Möglichkeiten:
1. Die Lehrkraft reagiert spontan auf die Situation, wenn sie mitbekommt, dass im Rahmen ihres Unterrichts von Schüler:innen verschwörungsideologische Inhalte geäußert werden, die in keinem Fall unwidersprochen stehengelassen werden dürfen. Dann sollte die Sequenzplanung modifiziert und das Thema Verschwörungsmythen integriert werden, um zu intervenieren.
2. Die Lehrkraft berücksichtigt das Thema Verschwörungsmythen schon von vornherein bei der Sequenzplanung und führt einzelne oder mehrere Unterrichtsstunden als Präventionsmaßnahme gegen Verschwörungsglauben durch.
Dabei kommt es sowohl bei der Intervention als auch im Rahmen der Prävention nicht primär darauf an, direkten Bezug auf die vom Schüler bzw. von der Schülerin geäußerten Verschwörungserzählung zu nehmen, die unter Umständen nur geringfügig Anknüpfungspunkte an das Unterrichtsfach bietet. Es ist nur insofern darauf einzugehen, als dass diese Äußerung als Verschwörungserzählung erkannt und anhand dieser oder eines anderen Beispiels das Grundlagenwissen zu dem Thema zu vermittelt werden sollte. Letztlich geht es darum, Lehrkräften Basiskompetenzen an die Hand zu geben und die Furcht und Verunsicherung vor diesem Thema zu nehmen. Außerdem versucht es, dem »Druck« nach mehr Kompetenzforderung und -förderung gerecht zu werden, indem der niedrigschwellige, handlungsorientierte Ansatz zur Auseinandersetzung motivieren und nicht zusätzlich belasten soll. Damit werden wir sicher auch nicht alle Lehrkräfte und Lernenden erreichen, aber wenn schon ein Teil zugänglich ist, würde ein auf Fakten und Argumente gestützter demokratischer Diskurs gefördert werden. Somit verfolgt FakeLess perspektivisch drei Hauptziele: aus der (Wieder)Herstellung der Diskursfähigkeit in Kombination mit einer ausgeprägten Medienmündigkeit wird Demokratiekompetenz gefördert.
Inzwischen gibt es zahlreiche, für den Unterricht und darüber hinaus geeignete didaktische Konzepte. Zu verweisen ist hier unter anderem auf Projekte der Amadeu Antonio Stiftung, die sich auch schon vor der Corona-Pandemie mit dem Thema Verschwörungsmythen, insbesondere im Zusammenhang mit Rechtsextremismus und Antisemitismus, befasste (Amadeu Antonio Stiftun...