Depressionen
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Depressionen

Ein Erfahrungsbuch zu Diagnostik, Verlauf, Therapie und Prävention

  1. 228 Seiten
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Ein Erfahrungsbuch zu Diagnostik, Verlauf, Therapie und Prävention

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Über dieses Buch

Depression remained a manageable group of diseases for a considerable period, but today the diagnosis represents an endemic condition and encompasses a whole range of depressive-affective disorders. Due to the high demand for care, a variety of outpatient services, as well as special depression wards in many hospitals, have been developed at the authors= initiative to allow disorder-specific treatment of patients with severe depression. Against the background of the authors= decades of experience concentrating on patients with depression, this book shows the diversity of this clinical picture and of treatments for it & beyond the boundaries of ICD stereotypes & in a professional and scientific manner and with personal points of view, including social aspects and contemporary attitudes.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783170306493

1 Depression, Melancholie: Historische Aspekte

Warum ist es sinnvoll, sich mit »Psychiatrie-Geschichte« zu beschäftigen, hier mit der Geschichte des Depressionsbegriffes bzw. der »Melancholie«, wie er früher genannt wurde? Zum einen erklärt das Wissen um die Entstehung des eigenen Faches, des Berufsstandes und der verwendeten Krankheitsbegriffe den heutigen Status in der gesundheitspolitischen und medizinischen Versorgung von Menschen und natürlich auch das Problem mit dem heute überbordenden Begriff der »depressiven Episode«. Die spezifischen naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, kulturspezifischen und im engeren Sinne medizinischen Fragen der Psychiatrie und hier bzgl. des Krankheitsbegriffes Melancholie/Depression, von der Symptombenennung über den Norm- und Krankheitsbegriff bis hin zur Psychodynamik, zu Ätiopathogenesekonzepten und zu psychosozialen und sozialpsychiatrischen Themen sind nur aus der Historie zu verstehen. »Depression« einfach als »depressive Episode« operationalisiert zu definieren und damit verstehen zu wollen, führt nicht zu einem vertieften Verständnis depressiv kranker Menschen, sondern bleibt an einer dünnen Oberfläche. Nur der Blick zurück führt zum Verständnis der Gegenwart und zu Perspektiven für eine Zukunft – die für Depressive besonders wichtig ist. Was bei jeder Befunderhebung für eine biografische Anamnese gilt, trifft auch auf das Verständnis von Psychiatrie und hier von Depression/Melancholie zu.
Versucht man eine – zugegebenermaßen ausgesprochen grobe – Gliederung der Geschichte der Psychiatrie zu erstellen, dann kann man drei große Zeiträume unterscheiden. Einen ersten Zeitraum, der vom Altertum bis ca. Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts reicht und den man mit »Geschichte des Wahnsinns« überschreiben könnte. Hier ging es um Fragen des »Raptus melancholicus«, um Wahn und Genie, um Tollheit u. ä. Die Psychiatriegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist im engeren Sinne eine Geschichte der sich entwickelnden Krankenhauspsychiatrie, in der nun der krankhafte Aspekt psychischen Andersseins erkannt und akzeptiert wird und die Herausnahme aus der Gesellschaft (»Verwahrung«) und die Pathologie im Vordergrund stehen. Ein dritter Zeitabschnitt beginnt im 20. Jahrhundert und reicht bis in die Gegenwart und sicher weiterhin, der die »Geschichte der Psychiatrie als medizinisches Fach, als Behandlungsauftrag und als Forschungsgegenstand« versteht und in dem wir mit unserer heutigen Problematik um den Begriff »Depression« bzw. die Geschichte der Melancholie angesiedelt sind. Gaebel und Müller-Spahn (2002) haben Psychiatrie bezeichnet als eine »medizinische Disziplin, die sich mit der mehrdimensionalen Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Prävention psychischer Störungen in einem vernetzten System spezialisierter Behandlungseinrichtungen befasst […] und Gegenstand der Psychiatrie sind psychische Störungen«.
Viele Beiträge zur Psychiatriegeschichte beginnen mit dem klassischen Satz, welcher der Schule von Hippokrates von Kos (ca. 460 bis 370 vor Christus) (Mora 1990) zugeschrieben wird: »Man sollte wissen, dass nur im Gehirn, sonst nirgendwo, Freude, Entzücken, Lachen und Spielen entsteht ebenso Trauer, Sorge, Verzagtheit und Klage. Ebenso werden durch das Gehirn auf bestimmte Weise Vorstellungen und Wissen gestaltet, mit seiner Hilfe hören und sehen wir. Durch das gleiche Organ werden wir wahnsinnig und verwirrt, Ängste und Schrecken treten an uns heran, am Tag oder bei Nacht […] und all dies wiederfährt uns durch unser Gehirn, wenn es nicht gesund ist« (Mora 1990).
Bei Hellmut Flashar findet sich eine Zusammenfassung der medizinischen Theorien zur Melancholie und Melancholikern in der Antike.
Hippokrates: »Wenn Furcht und Mißmut lange anhalten, so ist das melancholisch«.
In der Abhandlung »Problemata« von Aristoteles (wahrscheinlich von Theophrast) findet sich eine der ersten Betrachtungen zur Melancholie. Er sieht das »Zuviel an schwarzer Galle« positiv und spekuliert, warum »alle außergewöhnlichen Männer Melancholiker« seien.
Frühchristlich wird krankhafte Traurigkeit als Erscheinung der Acedia, der »Sünde der Trägheit« verstanden. Luther zitiert den damals weit verbreiteten Satz »Caput melancholicum est balneum diabolicum« – der melancholische Kopf ist ein Bad des Teufels, die Kranken wurden zu Sündern.
Der englische Lyriker Samuel Taylor Coleridge stellte im 18. Jahrhundert fest, dass man in der Natur keine Melancholie finde.
Als Bild einer Künstler-Melancholie gilt das berühmte Bild »Melencolia I« von Albrecht Dürer 1514, im Sinne einer Allegorie von Melancholie bzw. Depression. Die dargestellte Figur blickt ins Unbestimmte, ihr Buch ist zugeklappt, Werkzeug liegt unbeachtet auf dem Boden.
1818 benutzte Heinroth, Lehrstuhlinhaber für Seelenheilkunde in Leipzig, als einer der ersten den Begriff »Depression« in Deutschland. Er schrieb »ein böser Geist wohnt in den Seelengestörten, sie sind die wahrhaft besessenen«.
Aretaios von Kappadokien (ca. 80 bis um 130 nach Christus) gilt als Erstbeschreiber des Alternierens der Gestimmtheit bei heute sog. bipolaren affektiven Erkrankungen: »Es scheint mir aber die Melancholie Anfang und Teil der Manie zu sein« (Arenz 2003, S. 34). Grundlage seiner Überlegungen war immer die Vier-Säfte-Lehre von Hippokrates und später Galen, die sich durch das gesamte Mittelalter zog: Blut (Sanguiniker), gelbe Galle (Choleriker), schwarze Galle (Melancholiker), Schleim (Phlegmatiker), entsprechend den vier Elementen Feuer, Luft, Erde, Wasser sowie den vier Himmelsrichtungen und den Qualitäten heiß, kalt, trocken und feucht.
Die Äbtissin und Mystikerin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) schrieb in ihrem Buch »Causae et curae« wohl als Erste über Geschlechtsunterschiede in der Depression bei melancholischen Männern und Frauen. Melancholische Männer hätten »eine düstere Gesichtsfarbe, auch sind ihre Augen ziemlich feurig und denen der Vipern ähnlich. Sie haben harte und starke Gefäße, die schwarzes und dickes Blut in sich enthalten, […] und hartes Fleisch und grobe Knochen, die nur wenig Mark enthalten.« Allerdings werden depressive Frauen als noch beklagenswerter geschildert: »Sie haben mageres Fleisch, dicke Gefäße und mäßig starke Knochen. Ihr Blut ist mehr schleimig wie blutig, ihre Gesichtsfarbe ist wie mit einem blaugrauen und schwarzen Ton gemischt. Solche Frauen sind windig und unstet in ihren Gedanken, auch übler Laune, wenn sie durch eine Beschwerde dahinsiechen. Sie haben ein wenig widerstandsfähiges Naturell und leiden deswegen manchmal an Schwermut. […] Auch das Kopfleiden, das von der Schwarzgalle verursacht wird, werden sie bekommen wie auch Rücken- und Nierenschmerzen.« Bzgl. der Entstehung der »schwarzen Galle« im menschlichen Körper weist sie eindeutig dem biblischen Sündenfall Adams Schuld zu: »Als Adam das Gebot übertreten hatte, wurde der Glanz der Unschuld in ihm verdunkelt, seine Augen, die vorher das Himmlische sahen, wurden ausgelöscht, die Galle in Bitterkalt verkehrt, die Schwarzgalle in die Finsternis der Gottlosigkeit und er selbst völlig in eine andere Art umgewandelt. Da befiehl Traurigkeit seine Seele und diese suchte bald nach einer Entschuldigung dafür im Zorn. Denn aus der Traurigkeit wird der Zorn geboren, woher auch die Menschen von ihrem Stammvater her die Traurigkeit, den Zorn und was ihnen sonst noch Schaden bringt, übernommen haben (zit. nach Liebig 1992, S. 11–18)«. Die Vier-Säfte-Lehre in einen mittelalterlichen christlichen Kontext gestellt. Allerdings, übersetzt in das heutige Verständnis und die heutige Sprache, beschreibt Hildegard von Bingen hier die »Männerdepression«, wie wir sie von depressiven Männern kennen, die Reizbarkeit, den Zorn, die Selbstschädigung z. B. im Abwehrversuch von Depressivität durch extremen Sport, durch übermäßige Arbeit, durch eigentherapeutischen schädlichen Gebrauch von Alkohol, Medikamenten oder Drogen. Denn die »depressive Episode«, wie sie die ICD-10 beschreibt, ist ja eine »weibliche« Depression.
Das Buch von Robert Burton (1. Auflage Oxford 1621) »Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten« gilt als der Klassiker der Melancholie-Literatur. Man muss es gelesen haben und begreift dann den Unterschied zwischen Melancholie als Krankheit des Individuums und als Gestimmtheit und Temperamentslage der Gesellschaft. Eingangs steht ein Gedicht des Autors zur »Melancholie«, wobei er Melancholie einmal als süßeste Lust, dann als schmerzvollste Last, als sauerste Last, dann wieder als süßeste Lust, als verdammte Last, als bitterste Last, als drückendste Last und als verfluchte Last bezeichnet und die letzten Zeilen lauten: »Mein Los, das tausch ich auf gut Glück mit jedem Mistkerl, Galgenstrick, wie Höllenfeuer brennt die Qual, ich muss heraus, hab’ keine Wahl, und das Leben ist mir hassenswert, wer leiht ein Messer, wer hält das Schwert? Anders Leid – Gold gegen die verfluchte Last: Melancholie«. Zwei Hauptthemen ziehen sich durch das vor allem in der ersten Hälfte sehr locker und lebendig erzählende Buch, nämlich die Melancholie als eine Weltsicht, und er zitiert den Prediger Salomo, dass die Menschen überlaunig, schwermütig, verrückt, wirrköpfig sind, der schreibt: »Da wandte ich mich zu sehen die Weisheit und die Tollheit und Torheit« und weiter: »Denn all seine Lebtage hat er Schmerzen mit Grämen und Leid, dass auch sein Herz des Nachts nicht ruht. So kann man unter Melancholie vieles verstehen und sie begreifen als Schwermut im eigentlichen oder uneigentlichen Sinn, als Anlage oder Gewohnheit, als Auslöser von Schmerz- oder Lustempfindungen, als Schwachsinn, Missmut, Furcht, Kummer, Verrücktheit, sie das alles oder nur einen Teil davon umfassen lassen, buchstäblich oder metaphorisch von ihr reden – es ist jeweils Aspekt derselben Sache.« Im zweiten Teil, dem sog. »Hauptteil« setzt Robert Burton sich dann mit der Melancholie als Erkrankung auseinander. Dabei schreibt er: »Melancholie, der Gegenstand dieser Untersuchung, tritt entweder als Stimmung oder als Naturell auf. Als Stimmung bezeichnet sie jene vorübergehende Niedergeschlagenheit, die noch die unbedeutendsten Anlässe von Kummer, Mangel, Krankheit, Ärger, Furcht, Trauer, geistiger Unruhe, Missmut und Sorge begleitet. Sie kommt und geht, löst Bedrücktheit, Stumpfheit, Verdruss aus, macht das Herz schwer, ist folglich dem Vergnügen, Frohsinn, der Freude und dem Genuss in jeder Weise entgegengesetzt und erzeugt in uns Widerspenstigkeit und Abneigung. […] Und von diesen melancholischen Anwandlungen ist keine lebende Seele frei.« (Burton 1651, dtsch. Übers. Hartmann 1988, S. 41 ff und S. 309 ff). Wenige Zeilen später schreibt Burton dann »aber weil so wenige diesen guten Rat annehmen oder ihn richtig in die Tat umsetzen, weil sie vielmehr wie die wilden Tiere den Leidenschaften ihren Lauf lassen, sich ihnen unterwerfen und so in ein auswegloses Labyrinth von Sorgen, Kümmernissen und Nöten geraten, also ihre Seele ausliefern und sich nicht in der Geduld üben, die ihnen anstünde, deshalb geschieht es sehr häufig, dass die Anwandlungen und Stimmungen sich zu habitueller Schwermut verfestigen. Eine vorübergehende Erkältung löst […] nur Husten aus; wird sie aber chronisch, dann ist Schwindsucht die Folge. Ähnlich verhält es sich auch mit den melancholischen Reizen und je nachdem, ob die schwarze Galle auf einen empfänglichen oder einen widerstandsfähigen Organismus stößt, kommt es nur zu geringfügigen oder durchschlagenden Wirkungen […] Vielmehr gibt er bei dem geringsten Anlass, sei es eine eingebildete Kränkung, Kummer, Schande, seien es Verluste, Gaunereien, Gerüchte, seinen Gefühlen nachkommen, dass sich sein Aussehen verändert, seine Verdauung gestört wird, keinen Schlaf mehr findet, seine Lebensgeister schwinden, das Herz schwer und der Leib hart wird. Er laboriert an Blähungen und verdorbenem Magen, und Melancholie überwältigt ihn. […] Im Handumdrehen und wie durch eine geöffnete Tür überfallen ihn alle möglichen anderen quälenden Gedanken, und wie ein hinkender Hund oder flügellahme Gans siecht er dahin und fällt schließlich der habituellen Schwermut und krankhaften Melancholie zum Opfer.« Später definiert er »Melancholie« als »eine Art fieberfreier Verrücktheit, die normalerweise von grundloser Angst und Trübsinn. […] Nur gestört ist der Melancholiker im Gegensatz zum Irren und Wahnsinnigen, bei dem die Hirnfunktionen nicht in Unordnung, sondern ganz ausgefallen sind«. Angst und Sorge grenze sie von gewöhnlichem Irrsinn ab, Angst und Sorge seien die wahren Kennzeichen und unzertrennlichen Weggefährten der meisten Schwermütigen. Er diskutiert, welche Organe hauptsächlich befallen würden, entscheidet sich dann für das Hirn, denn als Geistesstörung müsse die Melancholie dieses Organ in Mitleidenschaft ziehen. Das sei die Position des Hippokrates, des Galen, der arabischen Medizin und der meisten modernen Heilkundigen. Später diskutiert er dann »das Dreierschema« und beschreibt als Ersterkrankungsform die Kopfmelancholie, die allein vom Gehirn ausgelöst werde, die Zweite betreffe den ganzen Körper, in dem die schwarze Galle aus dem Gleichgewicht geraten sei, die Dritte rühre her von Eingeweiden, der Leber, Milz oder dem Gekröse und werde hypochondrische oder blähende Melancholie genannt, wobei die Liebesmelancholie im Allgemeinen zur Kopfmelancholie gerechnet werde. Als Ursachen melancholischer Erkrankungen werden Gott, die Sterne, das Alter, die Vererbung, die Ernährungsgewohnheiten, Betrübnis und Kummer, Scham und Schande, Furcht, Verdruss, Sorgen und Not, aber auch Rivalität, Hass, Rachedurst oder auch Eigenliebe, Aufgeblasenheit, grenzenloser Beifall, Stolz und übermäßige Freude sowie der Verlust der Freiheit, Knechtung und Gefangenschaft diskutiert. Später schreibt er »keine körperliche Qual kommt der Melancholie gleich, keine Folterwippe, keine heißen Eisen und glühenden Ochsen des Phalaris, und selbst die sizilianischen Tyrannen haben keine schlimmere Tortur erdacht. Alle Ängste, Kümmernisse, Unzufriedenheiten, aller Argwohn, alles Ungute und auch alle Unannehmlichkeiten münden und verlieren sich wie Bächlein in diesen Euripus, dieser Irische See, dieser Ozean des Elends, diesen Zusammenfluss allen Grams, […].« (S. 327). Zum Thema Suizid schreibt er: »Selten endet die Melancholie tödlich, außer in den Fällen – und das ist das größte und schmerzlichste Unglück, das äußerste Unheil –, in denen ihre Opfer Selbstmord begehen, was häufig geschieht. So haben schon Hippokrates und Galen feststellen müssen: Wenngleich sie den Tod fürchten, legen sie doch meistens Hand an sich, und das wird aller ärztlichen Kunst zum Verhängnis […]. Ihr äußerstes Elend peinigt und quält diese Menschen derart, dass sie keine Freude mehr am Leben finden und sich gleichsam gezwungen sehen, sich den Kelch abzutun, um ihr unerträgliches Leid abzuschütteln. So begehen […] einige in einem Anfall von Raserei, die meisten aber aus Verzweiflung, Sorge, Angst und Seelenpein Selbstmord, denn ihre Existenz ist unglücklich und jammervoll« (S. 325). Robert Burton (1577–1640) war Theologe, Mönch und Gelehrter am Chris Church College der Universität Oxford. Er schrieb das Buch »Anatomie der Melancholie« als Selbstbetroffener, es kostete ihn seine gesamte Schaffenskraft, so dass nur wenig Sonstiges von ihm erhalten ist.
Romano Guardini (1928–1983) meinte in »Vom Sinn der Schwermut«: »Die Schwermut ist etwas zu schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften [Romano Guardini 1949]. Wir glauben, es geht um etwas, was mit den Tiefen unseres Menschtums zusammenhängt.« Romano Guardini spricht damit etwas an, was sich durch die gesamte Literatur und das Denken zur Melancholie und Depression zieht, nämlich die Unschärfe der Trennung der Krankheit Depression von der »melancholischen Gestimmtheit« und er meint damit ein menschliches Phänomen, das per se keine Krankheit ist, aber zu einer werden kann. Romano Guardini war selbst depressiv erkrankt.
Schott und Tölle (2006, S. 402 ff.) schreiben, die Melancholie gelte in der abendländischen Medizingeschichte als eine Hauptkrankheit, die nach der antiken Humoralpathologie (Vier-Säfte-Lehre) von der (hypothetischen) schwarzen Galle herrühre. Die schwarze Galle solle vor allem mit der Milz in Beziehung stehen und vom Hypochondrium bzw. der Kardia (Magenmund) aus auch andere Körperregionen infizieren. Dabei habe die aus dem Bauch in den Kopf aufsteigende Melancholie (Melancholia hypochondriaca) in der allgemeinen Krankheitslehre bis ins 19. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle gespielt. Unzählige Vorstellungen seien im Zusammenhang mit der Melancholie seit der »Schwarzgalligkeit« der griechischen Medizin vorgelegt worden. »Im Begriff der Melancholie spiegelt sich wie in keinem anderen die gesamte abendländische Medizingeschichte wider«. Das sei gerade bezüglich des Leib-Seele-Verhältnisses, der medizinischen Anthropologie und der psychiatrischen Therapeutik höchst aufschlussreich. Dies erinnert erneut stark an die Aussage von Romano Guardine, die Melancholie nicht nur den Psychiatern überlassen zu können.
Nach Schott und Tölle (2006) (S. 406) neigen Psychiatriehistoriker dazu, der mittelalterlichen Heilkunde generell eine »dämonologische Interpretation der Geisteskrankheiten« zu unterstellen, um sie somit von den rationalen Krankheitsmodellen der Antike und den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten der Neuzeit abzugrenzen. Für Schott und Tölle ist dies eine Variante der Legende vom finsteren Mittelalter. Hole und Wolfersdorf (1986, S. 440) haben gezeigt, dass die Verallgemeinerung, dass im Mittelalter die somatische Grundlage der Melancholie zugunsten einer »dämonologischen Interpretation« aufgegeben worden sei, falsch ist. Die Medizin des Mittelalters stand durchaus in der Tradition der antiken Lehre, die keineswegs zugunsten der Dämonologie aufgegeben wurde, wenngleich religiöse und teilweise auch dämonologische Anschauungen integriert wurden. Nach Hildegard von Bingen schien etwa bei der viel zitierten »Mönchskrankheit« (Acedia) die schwarze Galle als Ausdruck der Sünde (der mönchischen Nachlässigkeit) eine Melancholie zu erzeugen, wie sie es schon in Adams Körper in Folge des Sündenfalls getan habe. Melancholie schwäche in dieser Sicht die Abwehrkräfte gegen Dämonen und disponiere somit zur Besessenheit.
Johann Baptist van Helmont (1579–1644), ein bedeutender Mediziner des 17. Jahrhunderts und Wegbereiter der chemischen Medizin aus dem Geiste der Alchemie, hat den Zusammenhang von Melancholie und Imagination beschrieben. Er lehnte die Vier-Säfte-Lehre der schwarzen Galle ab, zumal er sie nicht gefunden habe, sondern spricht von einem »Fehler des Lebens-Geistes«, wobei die Einbildungskraft (Imaginatio), welche die krankmachenden Bilder (Ideae morbosae) eine entscheidende Rolle spielten. Damit sind wir beim Saturn als Stern der Melancholiker angelangt. Van Helmont hält an der astrologischen Lehre fest, dass der Saturn als »Irrstern« über die Milz seinen üblen Einfluss ausübe, es entstünden dort durch Einbildung und Fantasie krankmachende Bilder, die quasi als Krankheitssamen den Lebensgeist im Magen so stark beeindruckten, dass eine Krankheit entstehe.
Neben den biologischen (Vier-Säfte-Lehre) und astrologischen (Saturn) sowie theologisch ergänzten (Vier-Säfte-Überlegungen, Hildegard von Bingen) gibt es auch psychologische und tiefenpsychologische Überlegungen zur Entstehung der Melancholie. Der französische Psychiater Pinel (1800, S. 66) soll als Ursache der Melancholie »Traurigkeit, Schrecken, anhaltendes Studieren, die Unterbrechung eines thätigen Lebens, heftige Liebe, das Uebermass in den Vergnügungen, Missbrauch betäubender und narkotischer Mittel, vorübergehende Krankheiten, die unrichtig behandelt wurden, die Unterdrückung des Hämorrhoidalflusses« gesehen haben. Esquirol (1816 S. 30 ff.) bezeichnete die Melancholie als »Lypémanie« (griechisch Lype ist gleich Betrübnis, Ärger, Schwermut) und schreibt: »Das Delirium bezieht sich nur auf einen oder eine kleine Anzahl von Gegenständen mit einer vorherrschenden traurigen oder niederdrückenden Leidenschaft«. Außerhalb der Psychiatrie wird der Begriff Melancholie häufig in Literatur, Kunst und Sonstigem in einem anderen Sinne verwendet. Dabei wird ein Zusammenhang zwischen der Melancholie und der künstlerischen Kreativität hergestellt, also zwischen »Krankheit und Genie«.
In einem eigenen Kapitel (S. 411 ff.) differenzieren Schott und Tölle zwischen »Melancholie und Depression«. Melancholie sei der ältere Begriff, mit einer mehr als 2.000-jährigen Verwendung, allerdings nur im Hinblick auf das Erscheinun...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. 1 Depression, Melancholie: Historische Aspekte
  7. 2 Epidemiologische und gesundheitsökonomische Anmerkungen
  8. 3 Klinisches Bild
  9. 4 Ätiopathogenese
  10. 5 Diagnostik, Diagnosekriterien/operationalisierte Diagnosen, Klassifikationen, Psychometrie und Differenzialdiagnosen
  11. 6 Therapie
  12. 7 Selbsthilfe – Selfmanagement; Angehörige
  13. 8 Verlauf, Prognose, Prädiktoren und Prävention
  14. 9 Suizidalität und Depression
  15. 10 Versorgungsfragen: Wer versorgt depressiv kranke Menschen?
  16. 11 Abschließende Bemerkungen
  17. 12 Danksagung
  18. Literatur
  19. Sachwortregister