Der schwarze Meilenstein
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Der schwarze Meilenstein

  1. 220 Seiten
  2. German
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Der schwarze Meilenstein

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Über dieses Buch

Sechs rätselhafte Todesfälle in der Nähe eines Gutshofs beschäftigen Inspektor Perkins und den eleganten, aber undurchsichtigen Gentleman Alf Duncan. Aber beide können nicht verhindern, dass der Mörder am Schwarzen Meilenstein wieder zuschlägt. "Dan Kaye fühlte, wie ihm das Lenkrad plötzlich irgendwie aus der Hand geschlagen wurde, aber er vermochte nichts mehr dagegen zu tun. In der gleichen Sekunde schoss der Wagen schräg über die Straße und flog krachend und splitternd gegen die Stämme … Der Schwarze Meilenstein hatte sein siebentes Opfer gefordert." Mitten im Wald gleich hinter einer großen Biegung befindet sich dieser verhängnisvolle Stein. Die Verunglückten waren allesamt reiche und angesehene Leute. Die Unfälle ereigneten sich immer in der Nacht. Von einem Spuk, einem Fluch ist die Rede. Nun aber gerät die junge attraktive Amerikanerin Isabel Longden in Gefahr. Alf Duncan tritt auf den Plan. Was beabsichtigt er? Ist er ein Betrüger oder ein Heiratsschwindler?Stoff für Leser, denen vor dem schrecklichen Hund von Baskerville gruselt!

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Information

1

Auf der breiten Chaussee, die von London über Hampstead nach Nordwesten führt, lag das matte Mondlicht einer frischen Septembernacht. Aus den Wiesengründen zur Rechten und Linken stieg ein feiner silbriger Nebel, und die kleinen Waldgruppen reckten sich wie starre Kulissen gegen den Himmel.
Knapp am Rande eines der Gehölze bog ein schmälerer Fahrweg im spitzen Winkel ab, drinnen unter den hohen Kiefern aber glühten auf der großen Straße zwei rote Punkte.
Der Widerschein der beiden Stopplichter fiel auf einen Meilenstein, der die Zahl 39.5 trug.
Er sah genau so gewöhnlich und harmlos aus, wie jeder andere Meilenstein, aber der eine der beiden Männer, die hier Zwiesprache hielten, versetzte ihm plötzlich einen tückischen Fußtritt und spuckte ihn dann auch noch wütend an.
„Das ist heute die siebente Nacht, die mich diese verwünschte Geschichte kostet“, knurrte er ehrlich ergrimmt. „Und dabei weiß man nicht einmal, wozu man hier herumlungert. Seit zwei Monaten ist überhaupt nichts mehr passiert, und bei dem Früheren ist es sicher nicht anders zugegangen, als es sonst zuzugehen pflegt. Ich kenne das. Kaum sehen diese verrückten Meilenfresser ein Stückchen gerade Straße vor sich, legen sie sofort los und müssen dann bei der lächerlichsten Panne daran glauben.“
Auch der zweite Mann trug die Dreß und die Abzeichen eines Patrouillenfahrers des Royal Automobile Club, dachte aber über die Sache anders. Er konnte es auch tun, denn er hatte den unangenehmen Dienst eben für einige Tage hinter sich, und es war sogar möglich, daß an ihn überhaupt nicht mehr die Reihe kam.
„Das wäre wohl schon das Höchste, was der Zufall sich leisten könnte“, meinte er mit bedenklichem Gesicht, indem er sein Motorrad fahrbereit machte. „In ein paar Wochen sechs so schwere Unfälle und immer an derselben ganz ungefährlichen Stelle – das will mir nicht recht in den Kopf. Dabei hat es jedesmal so ausgesehen, als ob die Wagen plötzlich scheu geworden wären, da sie von der Mitte der Straße schnurgerade in die Bäume hineinrasten. – Daß sie so an die sechzig Meilen Geschwindigkeit gehabt haben müssen, ist allerdings richtig, denn es ist kein ganzes Stück von ihnen übrig geblieben. Und von den Fahrern auch nicht. – Eine ganz unheimliche Geschichte, kann ich dir sagen, und so oft ich mir den Platz anschaue, läuft es mir kalt über den Rücken.“
Auch der andere ließ unwillkürlich den Blick nach der Stelle etwas schräg gegenüber gehen. Am Rande des ziemlich dichten Stangenholzes klaffte eine breite Lücke, die mit ihren zersplitterten und angekohlten Strünken, den zerbeulten, rindenlosen Stämmen und der ausgedehnten Brandnarbe wirklich etwas Unheimliches hatte.
„Hol’s der Teufel“, murmelte er zwischen den Zähnen. „Wenn man lange fünf Stunden so mutterseelenallein hier herumsitzen muß, kann man es schon mit dem Gruseln zu tun bekommen. – Nur einmal, gleich in der allerersten Zeit, war etwas Spaß dabei. Da sind eine Menge Leute mit allen möglichen Instrumenten hier herumgewimmelt, und sogar welche mit Wünschelruten waren dabei. Ich habe etwas von Erdstrahlen und Magnetismus aufgeschnappt, aber gefunden scheint man nichts zu haben, denn sonst hätte man uns ja nicht weiter gebraucht. – Das heißt“, fügte er in seiner früheren galligen Laune hinzu, „gebraucht hat man uns nicht, sondern das Ganze ist für die Katz und nur eine Leuteschinderei. Wer schon unbedingt bei Nacht fahren muß, macht lieber einen kleinen Umweg, als daß er dem verhexten Schwarzen Meilenstein um diese Zeit in die Nähe käme. Bei meinem Dienst wenigstens hat sich noch nie ein Wagen blicken lassen. Die Zeitungen haben ja auch genug Lärm geschlagen.“
Der abgelöste Posten ließ den Motor an und setzte sich zurecht.
„Ich habe gehört, daß die Wache vielleicht schon morgen eingezogen wird“, sagte er, um seinem übel gelaunten Kameraden einen Trost zu hinterlassen. „John ist so gegen zehn hier durchgekommen und hat es …“
Er hielt inne und wandte gespannt den Kopf.
Draußen auf der Chaussee brauste es heran, und es mußte ein schwerer Wagen sein, denn schon im nächsten Augenblicke begann der Boden ganz merklich zu vibrieren.
Der neue Mann vom Dienst knipste vorschriftsgemäß sein Signallicht an und sprang in die Mitte der Fahrbahn, eben als vorne strahlende Helle in das Dunkel des Waldes brach.
Die rote Laterne kreiste gebieterisch, und die riesigen Scheinwerfer wurden jäh abgeblendet. Der nahende Wagen mäßigte sein wahnwitziges Tempo, und der Patrouillenfahrer machte sich bereit, seine Warnung vorzubringen …
Aber in der nächsten Sekunde wurden seine Augen von einem stechenden Lichtkegel geblendet, und der Luftdruck des großen Autos, das mit einem förmlichen Sprunge an ihm vorüberschoß, ließ ihn fast ins Wanken geraten.
„Verdammt noch einmal …“, zischte er, als er sich etwas gefaßt hatte. „Was war das? – Warum ist der Bursche so ausgerissen?“
„Das war kein Bursche, sondern eine Frau“, erklärte ihm der andere ebenso betroffen. „Und der Wagen ein Amerikaner – aber ohne Zeichen und Nummer …“
„Ein Frauenzimmer?“ Der ewig nörgelnde Mann spuckte wieder einmal kräftig aus. „Natürlich – das hätte ich mir eigentlich denken können. Die treiben es ja am tollsten. Wenn ich so etwas am Volant sehe, habe ich schon genug. – Wieviel, meinst du, hat die in ihrer Maschine gehabt? – Aber wenn man sie morgen früh irgendwo hier herum gefunden hätte, wäre natürlich wieder das alberne Gerede von dem Schwarzen Meilenstein losgegangen.“
Er nickte dem abfahrenden Kameraden mürrisch zu und zündete sich dann eine Pfeife an. Er mußte deren nun einige ausrauchen, bevor er von diesem totenstillen, unheimlichen Platze wieder wegkonnte.

2

Es war genau eine Stunde vor Mitternacht, als der nette Boy des vornehmen Hotels am Strand mit dem Anfluge eines vertraulichen Grinsens vor Mr. Alf Duncan die breite Flügeltür aufriß.
Die meisten Gäste hatten sich bereits zur Ruhe begeben oder saßen bei ihrem verspäteten Dinner, und die große Halle lag wie ausgestorben. Deshalb durfte sich sogar auch der würdevolle Mann in der Portierloge so etwas wie ein Lächeln gestatten.
Der Gentleman im Abendanzug trat an das Pult und schob den Hut etwas aus dem frischen, unternehmenden Gesicht.
„Nun?“ fragte er bloß, aber der gewiegte Mr. Brown verstand ihn und hob bedauernd die Schultern.
„Miß Longden ist vor etwa einer Stunde abgereist“, flüsterte er hastig, indem er die Hall vorsichtig im Auge behielt. „Ganz plötzlich …“
Der junge Mann nahm die überraschende Nachricht weit gefaßter auf, als Mr. Brown erwartet hatte. Er warf bloß einen raschen Blick auf die Uhr und neigte sich dann erwartungsvoll in die Loge.
„Das müssen Sie mir etwas ausführlicher erzählen“, sagte er mit seiner ruhigen, einschmeichelnden Stimme.
„Bitte …“ Mr. Brown nickte und wurde sehr geheimnisvoll. „Es ist mir selbst ein Bedürfnis, davon zu sprechen, denn ich habe Miß Longden sehr geschätzt und befürchte, daß ihr etwas Unangenehmes widerfahren ist. Wenigstens schließe ich dies aus … hm … verschiedenen Umständen, die … hm …“
Er suchte nach möglichst unverfänglichen Worten, aber Duncan kam ihm mit seiner gelassenen Sachlichkeit zu Hilfe.
„Fangen wir, bitte, von vorne an. – Also um halb drei hat Miß Longden wieder die gewisse Nummer in Bishopsgate angerufen, und kurz vor vier Uhr ist sie dann ausgefahren …“
„Jawohl. Mit ihrem Wagen, den sie, wie immer, selbst lenkte.“ Mr. Brown hatte nun den Faden und schickte sich an, ihn mit pedantischer Genauigkeit abzuwickeln. „Ich möchte bemerken, daß sie sehr gut gelaunt war, denn sie hat leise gepfiffen, wie sie es öfter zu tun pflegte.“
Der aufmerksam lauschende junge Mann spitzte die Lippen und schien das Gleiche tun zu wollen, aber dann drängte er sanft weiter.
„Und wann ist sie zurückgekehrt?“
„Einige Minuten nach neun. Ich hatte eben meinen Abenddienst angetreten, als sie plötzlich in die Hall und, ohne sich auch nur mit einem Blicke umzusehen, geradenwegs auf den Fahrstuhl zustürzte. – Und als der Boy wieder herunterkam“ – der würdevolle Mann ging in ein aufgeregtes Wispern über – „teilte er mir ganz verstört mit, Miß Longden habe schrecklich gezittert und sogar einige Male laut aufgeschluchzt. – Natürlich habe ich dem Jungen diese indiskrete Aufmerksamkeit verwiesen, denn in unserem Berufe darf man nur dann Augen und Ohren haben, wenn dies im Interesse des Gastes gelegen ist.“
Mr. Brown räusperte sich ernst, und der liebenswürdige Mr. Duncan räusperte sich ebenfalls.
„Ja“, pflichtete er dann gedankenvoll bei.
„Ja – und nach etwa einer Stunde ist Miß Longden dann wieder erschienen. Sie war in großer Eile, und in ihrem ganzen Benehmen lag etwas Furchtsames und Scheues. Ich konnte nun bemerken, daß sie wirklich geweint hatte, und ihre Stimme klang noch immer ganz verschleiert und unsicher. Sie hat auch nur wenige abgerissene Worte gestammelt: daß sie sofort abreisen müsse, ihr großes Gepäck aber und die eingehende Post zurückbehalten werden sollen, bis sie darüber bestimme, was vielleicht längere Zeit dauern werde. – Und dann hat sie mir, da sie nicht genügend englisches Geld hatte, zur Bestreitung der Auslagen zweihundert Dollars zurückgelassen.“
„Zweihundert Dollars …“, hauchte Mr. Duncan mit großen Augen.
„Gewiß, es war etwas viel“, gab Mr. Brown zu, „aber ich habe es zu spät bemerkt. Miß Longden flog ja förmlich aus der Hall und ließ auch schon ihren Wagen anlaufen.“
„Zweihundert Dollars …“, wiederholte der Herr in dem tadellosen Abendanzuge noch einmal, und der gewiegte Mann in der Portierloge glaubte ihn zu verstehen.
„Ja“, seufzte er, indem er unwillkürlich die dickleibige Brieftasche zog und die beiden Scheine hervorholte, „wer hätte das vor kurzem noch für möglich gehalten. Der Dollar! – Und dabei sieht dieses amerikanische Geld so solid aus.“
Duncan griff lässig nach den Noten und betrachtete sie von allen Seiten.
„Beschmiert sind sie auch“, sagte er so nebenbei, als er sie endlich wieder zurückgab.
„Bloß die eine. Ich habe es auch schon bemerkt, aber das hat nichts zu sagen. Auf amerikanischem Papiergeld findet man das häufig. – Vielleicht ist es eine Vormerkung, die sich Miß Longden in der Eile gemacht hat. Ich glaube, es heißt: ,Finchley–Edgware–Radlett–Blackfield’. – Es sind dies Orte, die an der Strecke nach Birmingham liegen“, fügte der pedantische Mann erklärend hinzu.
Der sonst immer so glänzend gelaunte Mr. Alf Duncan sah plötzlich derart hoffnungslos drein, daß Mr. Brown die Finger, die die Scheine eben wieder geborgen hatten, unschlüssig in der Brieftasche stecken ließ.
Der ehrenwerte Mann zauderte, weil er sich einem schweren Gewissenskonflikte gegenübersah. Einerseits legten ihm die ungeschriebenen Gesetze seines Standes eigentlich die Pflicht auf, zu schweigen, andererseits aber drängten sie ihn, zu sprechen. Dieser Mr. Duncan zählte ja zu den treuesten Lunch- und Dinnergästen des Hotels und durfte daher auf ein gewisses vertrauensvolles Entgegenkommen Anspruch erheben. Außerdem war es Mr. Brown nicht entgangen, welch lebhaftes Interesse der elegante Mann an der jungen, bildhübschen Amerikanerin vom ersten Tage an genommen hatte, und es mußte für ihn eine sehr arge Enttäuschung sein, daß sie nun aus seinem Gesichtskreise verschwunden war, bevor er sich ihr hatte nähern können. Mr. Brown hätte dem netten Gentleman, der einen so treuherzigen Blick hatte und eine so gewinnende Art, einem die Hand zu drücken, gerne mehr Erfolg gewünscht, und sein edles menschliches Mitgefühl siegte daher über die letzten beruflichen Bedenken.
„Hier habe ich noch etwas“, flüsterte er, indem er ein zusammengefaltetes Papier zum Vorschein brachte. „Ich habe bisher zu niemandem davon gesprochen, denn es handelt sich offenbar um eine sehr peinliche Privatangelegenheit der Miß Longden. Aber da ich annehme, daß Sie für die Dame … hm …“
Alf Duncan seufzte sehr hörbar, und Mr. Brown nickte teilnehmend.
„Ich habe das Blatt in ihrem Appartement gefunden, als ich mich nach dem zurückgelassenen Gepäck umsah“, fuhr er in seiner umständlichen Art fort. „Unser Personal ist zwar sehr zuverlässig, aber solche Dinge besorge ich lieber selbst. Glücklicherweise bin ich sofort hinaufgegangen, und dabei habe ich ganz gewohnheitsmäßig das Papier, das in einer Ecke lag, aufgehoben. – In unserem Betrieb muß man auf jede Kleinigkeit achten, denn die Gäste sind oft sehr zerstreut und nachlässig. Sie werden ja selbst sehen …“
Mr. Duncan warf einen raschen Blick auf den ihm mit so geheimnisvoller Wichtigkeit anvertrauten Fund. Es war einer der Briefbogen des Hotels, wie sie den Gästen zur Verfügung standen, aber er enthielt nur wenige Zeilen. Die Schrift wies unregelmäßige, verzerrte Buchstaben auf, die auf und nieder tanzten, als ob die Hand, die sie schrieb, heftig geschüttelt worden wäre, und die Tinte war durch Feuchtigkeit und das Zusammenknüllen fast völlig verwischt.
Trotzdem ließen sich die Worte ohne besondere Schwierigkeit entziffern:
„Liebste Mrs. Symington,
oh, warum habe ich nicht auf Ihre Warnungen gehört. – Welch furchtbare Strafe, welch schreckliches Ende. Ich vermag es nicht auszudenken: Ich habe …“
Hier brach der verzweifelte Aufschrei ab. Die Schreiberin hatte nicht mehr weiter gekonnt, oder sie hatte es sich anders überlegt.
Mr. Brown beobachtete den jungen Mann mit gespannter Erwartung, aber als Duncan endlich den Blick hob, hatte er gar nichts zu sagen. Er drehte nur gedankenvoll das Blatt zwischen den Fingern, und dabei wurde das Papier immer kleiner und kleiner, bis plötzlich überhaupt nichts mehr davon zu sehen war.
Der würdige Mann in der Portierloge verfolgte dieses Spiel mit einiger Unruhe, und sein Gewissen begann sich zu regen.
„Ich darf Sie wohl bitten, Sir …“ stammelte er besorgt, aber der vollendete Gentleman zog beschwichtigend zwei Finger aus der Westentasche, und Mr. Brown umklammerte sie schweigend und ehrerbietig.
Dann drückte Alf Duncan den Hut wieder korrekt ins Gesicht, nickte noch einmal leutselig und schritt, ein gefährlicher Konkurrent für jeden Filmhelden, aus der Hall.
Draußen vor dem Portal aber legte er seine guten Manieren ab und ließ einen leisen Fluch hören.
„Zum Teufel: – ,Ich habe …‘ – Was hat sie …?“
Er war auf diesen und jenen Zwischenfall und auf die eine oder die andere Überraschung vorbereitet gewesen, aber die Wendung, die nun eingetreten war, hatte ihn völlig überrumpelt. – Was hatte das zu bedeuten, und was war da zu tun?
Er brannte mißmutig eine Zigarette an und ließ sich die geheimnisvolle Sache angelegentlich durch den Kopf gehen.
Der knochige Mann, der plötzlich überrascht neben ihm halt machte, mußte ihn erst am Arme berühren, bevor er aus seiner tiefen Versunkenheit erwachte.
Duncan blickte sich um und zog dann sehr förmlich den Hut, aber der andere tat viel herzlicher und vertrauter.
„Sieh da“, sagte er und feixte dabei über das ganze kantige Gesicht, „Mr. Alf Duncan … In all seiner Pracht und Herrlichkeit. Einen Augenblick war ich nicht recht sicher, denn ich glaubte, Sie wären in Paris oder sonst irgendwo drüben.“
„Ich war in Paris und sonstwo drüben“, gab der junge Mann kühl zurück, „aber jetzt bin ich wieder hier, wie Sie sehen. – Wenn jedoch Scotland Yard die Absicht haben sollte, mir das Leben schwer zu machen …“
„Scotland Yard …“, gluckste Chefinspektor Perkins und schüttelte sich vor Heiterkeit. „Das kann ich mir denken, daß Ihnen das zu schaffen gibt. Aber Sie haben es ja nicht anders gewollt. – Was war doch gleich das Letzte, was Sie ausgefressen hatten?“
„Das Letzte, weshalb man mir Ungelegenheiten bereitet hat“, erklärte Duncan kühl und korrekt, „waren zarte Beziehungen, über die man unter Leuten von guter Erziehung mit diskretem Schweigen hinweggeht. Aber die Polizei hat eben über alles und jedes ihre eigenen Ansichten.“
Das Achselzucken, mit dem er diese Feststellung abtat, war noch beleidigender als die Worte, vermochte jedoch auch nicht Perkins aus seiner Laune zu bringen.
„Aha, Weibergeschichten – ich verstehe.“ Er zwinkerte mit den verschlagenen Augen und betrachtete den jungen Mann mit offenkundiger Bewunderung vom Scheitel bis zur Sohle. „Das liegt Ihnen aber auch, und dabei sollten Sie bleiben. – Oder haben Sie vielleicht für das nächste Mal etwas anderes vor?“
Alf Duncan nahm die Frage so ernst, daß er eine ganze Weile nachdachte.
„Für das nächste Mal habe ich etwas vor, bei dem es vielleicht um ,lebenslänglich‘ geht“, erklärte er dann unverfroren. „Hoffe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Inhalt
  4. Intro
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Kapitel 28
  33. Kapitel 29
  34. Kapitel 30
  35. Kapitel 31
  36. Kapitel 32
  37. Kapitel 33
  38. Kapitel 34
  39. Kapitel 35
  40. Kapitel 36
  41. Kapitel 37
  42. Kapitel 38
  43. Kapitel 39
  44. Kapitel 40
  45. Kapitel 41
  46. Kapitel 42
  47. Kapitel 43
  48. Kapitel 44
  49. Kapitel 45
  50. Kapitel 46
  51. Kapitel 47
  52. Kapitel 48
  53. Kapitel 49
  54. Kapitel 50
  55. Kapitel 51
  56. Kapitel 52
  57. Kapitel 53
  58. Zum Autor und seinen Krimis
  59. Leseprobe „Die chinesische Nelke“
  60. Impressum