1 Wie alles begann âŠ
Abb. 1.1: AuĂenansicht Klinik Diakonissen Linz
Warum ergriffen Sie einen Beruf im Gesundheits- und Krankenpflegebereich, als Arzt oder Ărztin, im Sozialbereich fĂŒr Altenarbeit, in der Pflegeassistenz in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung? Vermutlich waren unter den vielen BeweggrĂŒnden auch Motive wie »um Menschen zu helfen« oder »um die Welt heller zu machen« dabei. Der Pflegealltag sieht aber in der RealitĂ€t anders aus.
Mich bewegte in den AnfĂ€ngen meiner TĂ€tigkeit im Krankenhaus das Schicksal einer FĂŒhrungskraft eines öffentlichen Pflegeheims. Mit unertrĂ€glichen Schmerzen und einem völligen Burnout suchte sie Hilfe in unserem Krankenhaus. Nach einigen sehr bewegenden GesprĂ€chen gestand sie mir: »Ich weiĂ nicht, ob ich in meinem Beruf jemals wieder zurĂŒckkehren kann. Ich ertrage es nicht mehr, dass wir den Bewohnern nicht die Pflege angedeihen lassen können, die sie eigentlich brauchen.«
Ich bin davon ĂŒberzeugt, dass vielen von uns diese Not bewusst ist. Hohe Cold out- und Suizidraten im medizinischen, pflegerischen Bereich â ĂŒber all diese PhĂ€nomene gibt es bereits viele Studien. EindrĂŒcklich beschreibt dies unter anderem Rainer Wettreck im Rahmen der Pflegefallen in seinem Buch »Am Bett ist alles anders« (Wettreck 2020). Dieser fachlich fundierte Hintergrund begrĂŒndet vermutlich seine Begeisterung fĂŒr die Umsetzung von Spiritual Care in der Klinik Diakonissen Linz.
Die Implementierung von Spiritual Care kann diesen Entwicklungen in manchem entgegenwirken. Mitarbeitende berichten, dass sie dadurch in einer Weise arbeiten und Erfahrungen machen können, wie sie es am Anfang ihrer Berufswahl erhofft haben. In der Folge lassen sich in der Klinik Diakonissen Linz VerĂ€nderungen in Richtung einer höheren Personalbindung beobachten. DarĂŒber hinaus dĂŒrfen wir uns immer wieder ĂŒber Blindbewerbungen freuen.
Die Identifikation und das Mitarbeiterengagement sind gestiegen. Ebenso sind eine höhere Motivation und LeistungsfĂ€higkeit, mehr FlexibilitĂ€t der Mitarbeitenden wahrnehmbar. Die Offenheit gegenĂŒber Innovationen ist spĂŒrbar gröĂer. Auch hat sich einiges im Bereich Resilienz positiv verĂ€ndert, was an einem wahrnehmbaren RĂŒckgang der Krankenstandzahlen zu bemerken ist. Mehr Vertrauen und eine angstfreiere Dialogkultur sind im Haus vorherrschend. Dieses authentische Zusammenspiel bewirkt eine ebenso steigende Patientenzufriedenheit.
Nach aussagefĂ€higen Forschungsergebnissen sind ca. 30 % des GeschĂ€ftserfolgs auf Wirkungen der Unternehmenskultur zurĂŒckzufĂŒhren (Hauser et al. 2008).
1.1 Ausgangslage und HintergrĂŒnde zur Klinik
Betten: 120 (aktuell)
4 OP-SĂ€le
Radiologie
Endoskopie
Augenzentrum
Rund 6.000 zu behandelnden Personen/Jahr
Rund 260 Mitarbeitende
40 BelegÀrztinnen und -Àrzte
Um die Umsetzung von Spiritual Care in der Klinik Diakonissen Linz (
Abb. 1.1) besser nachvollziehen zu können, lade ich Sie ein, einem Blick in die jĂŒngere Geschichte zu wagen.
»Denken Sie völlig frei.« Mit dieser Aufforderung beauftragte mich 2014 kurz nach meinem Dienstantritt der Ă€rztliche GeschĂ€ftsfĂŒhrer mit der Entwicklung eines Konzeptes, um die Klinik auf eine spirituellere Basis zu stellen. Als katholische Seelsorgerin war mir dies in einem evangelisch geprĂ€gten Haus insofern sehr gut möglich, da ich keine »Grauen Eminenzen« in meinem RĂŒcken spĂŒrte, die einen unbeeinflussten Blick erschwerten. Im RĂŒckblick war dies ein entscheidender Faktor, der mir neue Wege öffnete.
1.1.1 Die Klinik Diakonissen Linz
1906 wurde das Krankenhaus in Linz als evangelisches Kranken- und Pflegeasyl von den Diakonissen gegrĂŒndet. TrĂ€ger der Klinik Diakonissen Linz ist das Evangelische Diakoniewerk Gallneukirchen.2
Die Persönlichkeiten an der Spitze dieser Linzer Privatklinik sorgen mit Weitblick und persönlichem Einsatz fĂŒr eine erfolgreiche Positionierung und stetige Weiterentwicklung des Hauses. Die Klinik Diakonissen Linz verfĂŒgt auch ĂŒber ein privates FachĂ€rztezentrum »medz«, das in direkter Anbindung zur Klinik steht.
Integriert war lange auch eine Gesundheits- und Krankenpflegeschule, welche einen wesentlichen Beitrag fĂŒr die optimale Ausbildung des Pflegepersonals leistete. Hier wurden von mir bereits in allen drei JahrgĂ€ngen (im AusmaĂ von je 16, 14 und 18 Einheiten) Inhalte von Spiritual Care vermittelt.3 Im Moment ist die Schule aufgrund fehlender Fördermittel vonseiten des Landes Oberösterreich (OĂ) ruhend gestellt. 2020 entschied sich die ehemalige Direktorin dieser AusbildungsstĂ€tte ebenfalls den Masterstudiengang Spiritual Care in Basel zu machen.
Laut Klinikleitbild versteht sich das Krankenhaus als fĂŒhrende Expertenklinik im Bereich der Privatmedizin.4 Dieses zeichnet sich auch im Pflegemodell und Pflegeleitbild ab. Das Pflegemodell beruht auf den pflegewissenschaftlich anerkannten Theorien von Dorothea Orem (Schwerpunkte SelbstfĂŒrsorge, Gesundheitsförderung und ressourcenerhaltende Begleitung), Hilde Peplau (Kommunikation und Interaktion) und Roper-Logan-Tierney (LebensaktivitĂ€ten). Deren Pflegemodell und -leitbild stammen aus dem Jahr 2011.
Es gehört zum PflegeverstĂ€ndnis des Hauses, individuelle BedĂŒrfnisse der zu behandelnden Personen zu erkennen, zu berĂŒcksichtigen und zu akzeptieren. D. h. es gibt fĂŒr jeden Patienten einen individuellen Pflegeplan, der sich an den PatientenbedĂŒrfnissen orientiert mit laufender Evaluierung und Anpassung des formulierten Pflegeziels. Die Pflege erfolgt in Gruppen. Ein bis zwei Pflegepersonen, die sich die einzelnen Pflegeaufgaben selbst aufteilen, sind fĂŒr eine Gruppe von Patienten zustĂ€ndig. Sie verstehen sich als Teil eines multiprofessionellen Gesundheitsteams. Die Kategorisierung der PflegetĂ€tigkeiten in Minuten, wie dies in den OĂ LandesspitĂ€lern ĂŒblich ist, wird in der Linzer Privatklinik seit mehreren Jahren so nicht mehr praktiziert.
Das Klinikleitbild aus dem Jahr 2013 bildet eine wichtige Basis fĂŒr das VerstĂ€ndnis der konzeptionellen Arbeit im Bereich Spiritual Care. Dieses elf Seiten starke Heft erhĂ€lt jeder Mitarbeitende. Besonders wichtig sind als Fundament drei Handlungsprinzipien und die daraus resultierenden LeitsĂ€tze fĂŒr Mitarbeitende, FĂŒhrungskrĂ€fte und medizinische Expertenschaft. Das diakonische Leitbild geht auf das bio-psycho-sozio-spirituelle Modell aus der Medizin ein unter Einbeziehung des christlichen Menschenbildes evangelischer PrĂ€gung. Von der Diagnose bis zur Behandlung hat der Patient der Klinik Diakonissen nur einen fachĂ€rztlichen Ansprechpartner, so beschrieben im Persönlichkeitsprinzip. Unter dem Dual-Service Prinzip versteht man, dass alle Berufsgruppen der Klinik Diakonissen mit den FachĂ€rzten in gegenseitiger WertschĂ€tzung eine »Serviceeinheit« bilden. In den LeitsĂ€tzen werden Empathie, Kommunikation in der interprofessionellen Teamarbeit und das wirtschaftliche Handeln betont.
In der Zusammenschau dieser LeitsĂ€tze und Handlungsprinzipien wird deutlich, dass die Klinik Diakonissen fĂŒr die EinfĂŒhrung von Spiritual Care bestens geeignet ist. Kompetenzen wie Empathie, Kommunikation, Dienst, Zusammenarbeit und gegenseitige WertschĂ€tzung werden eindeutig von allen Klinik-Mitarbeitenden eingefordert. Doch die Praxis zeigt, dass Vision und RealitĂ€t nicht immer ganz beieinanderliegen. Ausdruck fand dies in der Mitarbeiterbefragung 2014. DefizitĂ€re Brennpunkte wurden mitunter im Bereich der WertschĂ€tzung, der Kommunikation, des Vertrauens und der Entlastung festgestellt.
In der GeschĂ€ftsleitung entstand, wie einleitend erwĂ€hnt, der Wunsch, die Klinik auf eine spirituellere Basis zu stellen. So entwickelte ich auch als Leiterin der damaligen Stabstelle Seelsorge aus dem Klinikleitbild, der Mitarbeiterbefragung und dem ganzheitlichen Körper-Geist-Seele-Modell ein Konzept, das mithilfe eines sogenannten Denkkreises weitergefĂŒhrt wurde. Ziel dieses Denkkreises und spĂ€teren Arbeitskreises SpiritualitĂ€t war es, den Aufbau eines spirituelleren Fundamentes fĂŒr die Klinik Diakonissen voranzutreiben. Dennoch war es fĂŒr die Klinik-GeschĂ€ftsleitung trotz Bekenntnis zu einer spirituellen Ausrichtung zunĂ€chst nicht einfach, sich auf einen möglichen Implementierungsprozess fĂŒr Spiritual Care einzulassen. Unsicherheiten bzgl. Inhalte und Finanzierung machten es anfĂ€nglich schwierig, die Spitze fĂŒr diesen Weg zu begeistern. Doch mit schrittweiser Ăberzeugungsarbeit und einer gewissen grundsĂ€tzlichen Offenheit vonseiten der GeschĂ€ftsfĂŒhrung gelang es, zunĂ€chst einzelne Projekte wie z. B. die Fokus Tage voranzutreiben. Nach den ersten beiden erfolgreichen Fokus Tagen wurde sogar ein dritter fĂŒr April 2017 fixiert sowie ein Arbeitsschwerpunkt in Spiritual Care fĂŒr das gesamte Krankenhaus festgelegt.
Im Jahr 2015 startete der erste Masterlehrgang Spiritual Care in Basel. Aufgrund der Anregung und UnterstĂŒtzung meines evangelischen Kollegen beschloss ich teilzunehmen und das erst entstandene Konzept, welches bei der Studienleitung auf groĂes Interesse stieĂ, professionell und wissenschaftlich reflektiert weiter zu entwickeln. In dieser Zeit ermunterte mich mein damaliger Kollege und spĂ€terer Chef und Leiter der Abteilung diakonische IdentitĂ€tsentwicklung enorm, den finanziellen Rahmen abzustecken und diese Idee gemeinsam bei der GeschĂ€ftsfĂŒhrung der Klinik Diakonissen zu lancieren. Er war von der ersten Stunde an von Spiritual Care begeistert. Nach den ersten geglĂŒckten Versuchen der Implementierung von Spiritual Care gelang es meinem damaligen Kollegen den Gedanken von Spiritual Care in das Diakoniewerk zu tragen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Idee von Spiritual Care auch an EntscheidungstrĂ€ger des Diakoniewerkes immer wieder herangetragen wurde. Schon bevor sich dieser Weg abzeichnete, war der Leiter der Abteilung Diakonische IdentitĂ€tsentwicklung jener, der als erster Visionen in Richtung eines Spiritual Care Zentrums im Diakoniewerk entwickelte.
RĂŒckblickend bin ich froh den Schritt nach Basel gewagt zu haben, obwohl die Entscheidung sich als sehr fordernd herausstellte. Nicht nur zeitliche und finanzielle HĂŒrden waren zu nehmen. Es brauchte auch viel Ăberzeugungsarbeit bei meinen Ansprechpartnern und Dienstvorgesetzen. Spiritual Care kam damals allmĂ€hlich in Diskussion, aber was man darunter verstehen konnte, war nicht klar und erzeugte daher unter manchen Kollegen sogar Angst und Ressentiments.
Key Messages
Hilfreich fĂŒr die Implementierung sind:
âą Institution mit ĂŒberschaubaren Strukturen
âą Orientierung am Klinikleitbild
âą Individueller Pflegeplan
⹠»Denken Sie völlig frei« â Mut zur Frage: Was braucht es heute wirklich?
1.1.2 Doch was ist eigentlich Spiritual Care?
Schnell kamen wir in unserem Studiengang zu der Erkenntnis, dass Spiritual Care eine sehr junge Disziplin ist. Der damalige Studienplan versuchte selbstverstÀndlich auf alle relevanten Teildisziplinen und Fachexpertisen einzugehen. Dennoch entfachte dieser Suchprozess in unserem Studiengang immer wieder lebendige und leidenschaftliche Diskussionen, die eine innere KlÀrung bei jedem einzelnen vorantrieben. Schon in den ersten Monaten kristallisierte sich der Forschungsschwerpunkt meiner Masterarbeit heraus:
Welche Kompetenzen brauchen Mitarbeitende, um spirituelle BedĂŒrfnisse der Patientinnen und Patienten wahrnehmen und darauf heilsam eingehen zu können? Wie lassen sich diese Kompetenzen im Kontext einer Klinik schulen?
ZunĂ€chst braucht es die AbklĂ€rung, was unter spirituellen BedĂŒrfnissen zu verstehen ist. Unter dem Begriff BedĂŒrfnis findet sich im Brockhaus 1997 die ErklĂ€rung: »GefĂŒhl eines Mangels und der Wunsch diesem abzuhelfen« Im Duden steht: »Wunsch, Verlangen nach etwas; GefĂŒhl, jemandes, einer Sache zu bedĂŒrfen; jemanden, etwas nötig zu haben«
Anders verhĂ€lt es sich mit dem Begriff SpiritualitĂ€t. Hier stöĂt man auf viele und differenziertere Definitionen, wie nachfolgende AusfĂŒhrungen verdeutlichen. Dabei zeigt sich, wie unterschiedlich das VerstĂ€ndnis dieses Begriffs ist, gerade auch im Blick auf sich daraus ergebende notwendige Kompetenzen. Am Anfang meines Buches möchte ich darum dessen spirituelle Wurzeln verdeutlichen und einer möglichen KlĂ€rung besondere Aufmerksamkeit schenken.
1.2 SpiritualitĂ€t â eine BegriffsklĂ€rung
Was ist eigentlich SpiritualitĂ€t? Diese Frage löst oft heftige Diskussionen aus. Vielen ist der Begriff zu schwammig oder er wird als eine Art Modewort mit esoterischem Touch gesehen. Daher möchte ich dazu ermutige, einen intensiveren Blick darauf zu wagen, um leichter verstĂ€ndlich zu machen, warum gerade jĂŒngere Generationen sich eher mit SpiritualitĂ€t identifizieren als mit Religion.
Die Frage nach dem allgemeinen Sprachgebrauch fĂŒhrt zunĂ€chst bei ersten Recherchen zu verschiedenen Lexika.
Der unterschiedliche Umgang mit diesem Begriff wird in der EnzyklopĂ€die Brockhaus sichtbar. So findet man bereits 1993 eine relativ umfangreiche und differenzierte Darstellung: »SpiritualitĂ€t, heute gleichbedeutend mit Frömmigkeit, âŠ...