IX – Mervyn Kaplansky, Autor und Allesverwerter
Mervyn Kaplansky trat an einem trüben Samstagnachmittag im August aus dem Regen, um wegen unseres hinteren Schlafzimmers nachzufragen.
»Es kostet zwölf Dollar die Woche«, sagte mein Vater, »zahlbar im Voraus.«
Mervyn legte achtundvierzig Dollar auf den Tisch. Verdutzt wich mein Vater einen Schritt zurück. »Wozu die Eile? Schauen Sie sich doch erst einmal um. Vielleicht gefällt es Ihnen bei uns nicht.«
»Glauben Sie an Elektrizität?«
Nirgendwo im Haus brannte Licht. »Wir sind nicht von der knickrigen Sorte«, sagte mein Vater. »Aber wir leben hier rechtgläubig. Heute ist shabus.«
»Nein, nein, nein. Ich meine, zwischen Menschen.«
»Was sind denn Sie für einer? Ein Neunmalkluger?«
»Ich glaube dran. Gleich beim Eintreten habe ich die richtigen Schwingungen gespürt. Hi, Kleiner.« Mervyn lächelte mich unbekümmert an, doch die Hand, mit der er meine Haare verstrubbelte, zitterte. »Mir wird es hier prima gefallen.«
Mein Vater sah befremdet drein, doch er war zu perplex, um zu protestieren, als Mervyn sich aufs Bett setzte und ein wenig auf und nieder hopste, um die Matratze zu testen. »Hol sofort deine Mutter«, sagte mein Vater zu mir.
Glücklicherweise war sie gerade ins Zimmer getreten. So verpasste ich nichts.
»Darf ich Ihnen Ihren neuen Mieter vorstellen?«, sagte Mervyn und federte hoch.
»Immer langsam mit den jungen Pferden.« Mein Vater verhakte seine Daumen hinter den Hosenträgern. »Was machen Sie beruflich?«, fragte er.
»Ich schreibe.«
»In welcher Firma?«
»Nein, nein, nein. Ich schreibe für mich. Ich bin freischaffender Künstler.«
Mein Vater registrierte gleich, dass meine Mutter hingerissen war, weshalb er sich bereits mit der nächsten Niederlage abfand und fragte: »Haben Sie keine – äh – Sachen dabei?«
»Als Oscar Wilde den Boden der Vereinigten Staaten betrat und gefragt wurde, ob er etwas zu deklarieren hätte, sagte er: ›Nur mein Genie‹.«
Mein Vater verzog säuerlich das Gesicht.
»Meine Sachen sind am Bahnhof«, sagte Mervyn und holte tief Luft. »Kann ich sie herbringen?«
»Tun Sie das.«
Mervyn kam ungefähr eine Stunde später mit einer Kiste, mehreren Koffern und einem Sortiment von Kuriositäten zurück, darunter ein Trumm Treibholz, eine zu einem Lampenhalter umgebaute Weinflasche, eine Sammlung von Kieselsteinen, eine dreißig Zentimeter große Nachbildung von Rodins Denker, ein Stierkampfplakat, ein George Bernard Shaw-Foto von Yousuf Karsh, unzählige Notizbücher, ein Kugelschreiber mit eingebauter Taschenlampe und ein eingerahmter Scheck über vierzehn Dollar und fünfundachtzig Cent vom Family Herald & Weekly Star.
»Sie können sich gern eines unserer Bücher ausleihen«, sagte meine Mutter.
»Oh, danke. Aber ich versuche, nicht allzu viel zu lesen, nun, da ich selbst unter die Wortschmiede gegangen bin. Ich möchte mich ungern beeinflussen lassen, verstehen Sie?«
Mervyn war ein kleiner dicker Kerl mit schwarzem Kräuselhaar, warmen feuchten Augen und einem einnehmenden Lächeln. Sein Hemd spannte über seinem Oberkörper, sodass ich zwischen den Knöpfen seine Unterwäsche sehen konnte. Der letzte Knopf war offenbar abgesprungen. Mervyn, schätzte ich, musste mindestens dreiundzwanzig gewesen sein, sah aber viel jünger aus.
»Woher, sagten Sie, kommen Sie?«, fragte mein Vater.
»Hab ich nicht gesagt.«
Die Daumen hinter den Hosenträgern verhakt und auf den Absätzen wippend, wartete mein Vater auf eine Antwort.
»Aus Toronto«, sagte Mervyn gallig. »Aus der Hauptstadt der Moral. Mein Vater ist eine große Nummer in der Versicherungsbranche, und meine Brüder machen in Damenmoden. Tagaus, tagein im Hamsterrad. Der eine wie der andere.«
»Sie werden feststellen, dass wir in diesem Haus nicht materialistisch eingestellt sind«, sprach meine Mutter.
Mervyn schlief sich regelmäßig bis Mittag aus beziehungsweise »stockte sein Unbewusstes auf«, wie er es nannte. Er tippte den ganzen Nachmittag hindurch und schlief dann erschöpft eine weitere Runde, um wieder bis tief in die Nacht zu tippen. Er war der erste Schriftsteller, der mir je begegnet war, und ich betete ihn an. Meine Mutter auch.
»Hast du dir schon mal seine Hände angesehen?«, fragte sie, und ich erwartete einen Vortrag über abgekaute Fingernägel. Stattdessen sagte sie: »Das sind die Hände eines Künstlers. Dein Großvater hatte solche Hände.« Wenn eine Nachbarin auf eine Tasse Tee vorbeischaute, pflegte meine Mutter zu flüstern: »Wir müssen leise sprechen«, und mit Hinweis auf das Klack-Klack der Schreibmaschine aus dem hinteren Schlafzimmer fügte sie hinzu: »Da drin ist Mervyn am Dichten.« Für ihn kochte meine Mutter spezielle Gerichte. Suppe war ihrer Ansicht nach besonders nahrhaft. Fisch sei beste Nahrung fürs Gehirn. Von Schokolade und Nüssen riet sie wegen Mervyns Teint ab, doch brachte sie ihm in einem fort Kaffee, und sobald ein Tag ohne Geräusche aus dem hinteren Zimmer verstrich, wurde meine Mutter ganz aufgeregt. Irgendwann klopfte sie dann zaghaft an Mervyns Tür und fragte: »Kann ich Ihnen etwas bringen?«
»Das ist zwecklos. Heute läuft es einfach nicht. Manchmal habe ich solche Phasen.«
Mervyn schrieb an einem Roman, seinem ersten, der vom mühseligen Leben unseres Volkes inmitten einer judenfeindlichen Umgebung handelte. Der Titel war zunächst ein Geheimnis zwischen Mervyn und meiner Mutter. Hin und wieder las er ihr Auszüge vor. Sie schlug nur eine einzige Korrektur vor. »Ich würde nicht ›Hure‹ schreiben«, sagte sie. »Klingt doch nicht nett, oder? Wie wär’s mit ›Dame des leichten Gewerbes‹?« Die beiden fingen an, literarische Diskussionen zu führen. »Shakespeare«, sagte meine Mutter beispielsweise, »Shakespeare kannte und konnte alles.« Worauf Mervyn dann nickte und erwiderte: »Aber alle seine Plots hat er gestohlen. Er war ein Plagiator.« Meine Mutter erzählte Mervyn von ihrem Vater, dem Rabbi, und den Büchern, die er auf Jiddisch geschrieben hatte. »Bei seiner Beerdigung«, sagte meine Mutter, »brauchten sie sechs Motorradpolizisten, um die Menge in Schach zu halten.« Mehr als einmal kam mein Vater von der Arbeit nach Hause, fand die beiden noch immer am Küchentisch sitzend vor, und sein Abendessen war nicht fertig oder bestand nur aus einer kalten Platte. Errötend und eine Entschuldigung stotternd floh Mervyn dann in sein Zimmer. Er war, denke ich, der einzige Mensch, der je Angst vor meinem Vater hatte, was meinem Vater erheblich zu Kopfe stieg. Er bediente sich in Mervyns Gegenwart einer groben, ja gotteslästerlichen Sprache, und hinter dessen Rücken nannte er ihn »Moitle«. Doch letzten Endes lief es nur darauf hinaus, dass alles, was meinen Vater an Mervyn störte, damit zu tun hatte, dass meine Mutter keinen Kartoffelkugelauflauf mehr buk. (Stärke sei schlecht für Mervyn.) Mein Vater begann, immer mehr Zeit beim Kartenspiel in Tansky’s Cigar & Soda zu verbringen, und als Mervyn mit der Miete in Verzug war, drohte er, Maßnahmen zu ergreifen.
»Aber du kannst ihm doch jetzt keine Schwierigkeiten machen«, ...