1. Kapitel
Katholisch-Sein
in der geistigen Situation der Zeit
Pandemische Sinnkrisen und das rettende Serum
Unter den fast acht Milliarden Erdenbewohnern im Jahre 2021 sind 18 % katholischen Glaubens. Geistig verwandt sind den Katholiken die Christen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften im Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes und Retter der Welt1. Diese – laut päpstlichem Jahrbuch 20182 – weltweit präsente und global agierende Gemeinschaft von 1,3 Milliarden Menschen, die im römischen Bischof und Nachfolger des Apostels Petrus den höchsten Repräsentanten ihrer Einheit erkennt3, nennt sich selbst:
die katholische Kirche.
Sie ist eine Gemeinschaft der »Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit« (Joh 4, 23), durch die der gütige und barmherzige Gott in Zeit und Geschichte das Kommen seines ewigen Reiches vorbereitet.
Ein einzigartiges Nahe-Verhältnis besteht zwischen Christen und Juden, weil sie innerlich verbunden sind im Glauben an denselben, einzigen und wahren Gott, der Israel als sein Volk erwählt und mit ihm einen Bund geschlossen hat. Juden und Christen sind eins im Glauben an den transzendenten und geschichtsmächtigen Gott, der den Unterdrückten und Armen zu ihrem Recht verhilft. Sie teilen den Glauben an die messianisch-eschatologische Verheißung einer Vollendung der Welt in der Zukunft Gottes, der jede zyklisch-mythische und materialistisch-nihilistische Sicht von Geschichte oder eine utilitaristische Ethik »des größten Glücks für die höchste Zahl« ausschließt. Denn Gott ist Ursprung und Ziel der Schöpfung und jedes individuellen Menschen in und nach der Geschichte – und nicht des Abstraktums unter dem Begriff »die Menschheit«.4 Die Kirche hat den gesamten Psalter und andere alttestamentliche Hymnen in ihren Gebetsschatz aufgenommen und betet voller Vertrauen zu Gott dem Vater durch Seinen Sohn und unseren Bruder Jesus Christus im Heiligen Geist, »durch den Gottes Liebe ausgegossen ist in unsere Herzen« (Röm 5, 5).5
In Gebet und Liturgie zeigt sich, dass der Glaube nicht eine Theorie über Gott ist, sondern dass der Beter sein ganzes Dasein in allen seinen Höhen und Tiefen, Freuden und Leiden in Gott dankend, lobend, bittend, klagend, frohlockend hinein aussprechen, ja sogar schreien kann – in der letzten Gewissheit, dass sein Schöpfer und Erlöser ihn hört und erhört. Am Kreuz rief Jesus mit lauter Stimme zu seinem Vater: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15, 34; Ps 22, 2) Er sprach seine Verlassenheit aus mit den Worten des Psalms, dessen Beter fortfährt: »Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie … Denn dem Herrn gehört das Königtum … Er herrscht über die Nationen. Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird.« (Ps 22, 25.29.32)
Katholische Christen fühlen eine tiefe Verbundenheit mit allen Menschen auf dieser Welt, die an den einen personalen Gott glauben (Röm 1, 20)6 oder die eine mystische Ehrfurcht haben vor dem Leben oder die wenigstens die Wahrheit suchen und eine Verantwortung spüren, die über die eigenen Interessen hinausgeht (Apg 14, 15; 17, 23).7 Möglich und geboten ist – trotz aller Differenzen in Glaubensfragen – eine Zusammenarbeit aller Menschen für das Gemeinwohl in den einzelnen Staaten und in der Weltgesellschaft – bei der »Suche nach einer besseren Welt« jenseits von Krieg und Hass und ohne das Elend der Armut und all der schreienden Ungerechtigkeiten.8
Im Hinblick auf die Nicht-Glaubenden steht der Katholik auf dem Standpunkt: Ein widerspruchsfrei durchgeführter Atheismus ist nicht möglich9, weil »jeder Mensch sich selbst vorläufig eine ungelöste Frage bleibt, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutendsten Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen. Auf diese Frage kann nur Gott die volle und sichere Antwort geben: Gott, der den Menschen zu tieferem Nachdenken und demütigerem Suchen aufruft.«10
Zu keinem Kompromiss sind die Katholiken allerdings bereit bei der Leugnung und Missachtung der Würde der menschlichen Person in ihren unveräußerlichen Rechten: vorgeburtliche Kindstötung, Euthanasie an Kranken, Alten und Lebensmüden, Rassismus, Versklavung und Menschenhandel, unmenschlicher Strafvollzug, individuelle und staatliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegstreiberei und Völkermord. So widerstreiten sie auch jeder Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit in totalitären Ideologien und in den von Einheitsparteien geknebelten Überwachungs-Staaten und in der Gegenwart der den Familien und Kindern feindseligen Propaganda.
Denn statt sich zu beschränken auf die Gewährleistung der Infrastruktur des gesellschaftlichen Lebens (d. h. dem »zeitlichen Wohl)« definieren die ideologischen Vertreter des totalitären Staates den Menschen als einen Roboter oder als ein biologisches Triebbündel und behandeln die »Massen des einfachen Volkes« als Menschenmaterial. Jeder individuelle Mensch ist hingegen immer Zweck und Sinn an sich. Niemals und unter keinen Umständen darf er zum Mittel für wissenschaftliche oder ökonomische Zwecke degradiert und der Würde seines Person-Seins beraubt werden. Das ist der Grund der absoluten Unvereinbarkeit des katholischen Glaubens mit jeder totalitären Ideologie.
Trotz des ökumenischen, interreligiösen und wissenschaftlich- interdisziplinären Dialogs und der damit verbundenen Kultur der Versöhnung und Toleranz hat der Anti-Katholizismus seit den religionsfeindlichen Zirkeln der Popular-Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts, in den politisch-totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts überlebt.11 Im Neoatheismus mit dem »Hass auf alles Katholische« feiert heute er »fröhliche Urstände« in den internationalen Abtreibungs- und Genderlobbies, im Agenda-Journalismus und in katholikenfeindlichen »christlichen Sekten«, die in der hatespeech des 16. Jahrhunderts stecken geblieben sind und dem Gebet Jesus um die Einheit seiner Jünger (Joh 17, 21) Hohn sprechen.
Der verstorbene Antitheist Christopher Hitchens (1949–2011), dessen Seele dennoch Gott empfohlen sei, formulierte verbittert und aggressiv: »Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet«12, während sein Gesinnungsgenosse Richard Dawkins (* 1941) in seinem Buch »Der Gotteswahn«13 den Glauben auf einen genetischen Defekt oder eine Störung der Gehirnfunktionen zurückführen will. Auf ideologisch verkürzter darwinistischer Grundlage bietet er eine innerweltliche Heilslehre an unter dem Titel: »Atheismus für Anfänger. Warum wir Gott für ein sinnerfülltes Leben nicht brauchen.«14 Ihm sekundiert der französische Privat-Philosoph Michel Onfray mit seinen in deutscher Übersetzung noch provozierender aufgemachten Titeln »Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss«15 oder »Die Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird.«16
Es ist der Dauer-Brenner vom »Ende des Christentums«, das Friedrich Nietzsche (1844–1900) auf den Begriff vom »Tod Gottes« brachte, dem er in seiner Schrift »Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum«17 den Laufpass gab. In bebendem Zorn forderte er die Umwertung aller christlichen Werte in ihr Gegenteil. Er erlässt ein »Gesetz wider das Christentum«, das unter anderen die Bestimmung enthält: »Man soll die ›heilige‹ Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte ›Gott‹, ›Heiland‹, ›Erlöser‹, ›Heiliger‹ zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen machen.«18 Und er unterschreibt mit »Der Antichrist.«
Erschütternd ist aus christlicher Sicht nicht allein die Blindheit für die symbolische und transzendentale Dimension des Daseins, sondern vielmehr noch der intellektuelle Sinkflug, der den literarisch und politisch gewaltbereiten Antiklerikalismus so lange beflügelte, bis er schließlich seine Bruchlandung mit einer »Erdung« des Menschen ohne Gott im Bodenlosen verwechselte. »Für die Tatsache, dass im 18. Jahrhundert ein Geschlecht von Menschen geboren wurde und sich dann fortpflanzte, das als geistige Nahrung nur den Antiklerikalismus hatte und diesen zu seinem einzigen Programm machte; ein Geschlecht, das glaubte, dass der Antiklerikalismus genüge, die Regierungen umzuschmelzen, die Gesellschaft vollkommen zu machen und zum Glück zu führen: für diese Tatsache sind viele verantwortlich, und nicht alle standen im Lager der Enzyklopädisten. Aber keiner ist dafür in dem Maße verantwortlich wie Voltaire.«19
Der Marquis René Louis d’Argenson (1694–1757), ein großer Freund Voltaires, beschreibt – wie im Vorgriff auf die westliche Welt heute – schon im Jahr 1753 scharfsichtig die Wirkung der anti-kirchlichen Propaganda: »Der Priesterhass ist hoch gestiegen. Die Geistlichen dürfen sich kaum auf den Straßen zeigen, wenn sie nicht ausgepfiffen werden wollen. Da unsere Nation in unserem Jahrhundert weit aufgeklärter ist als zur Zeit Luthers, wird sie auch weiter gehen und alle Priester, Offenbarungen und Mysterien abschütteln … Man wagt es in guter Gesellschaft nicht mehr, für den Klerus einzutreten; wer es dennoch tut, wird verhöhnt und für einen Vertrauten der Inquisition gehalten … Das Jesuitenkollegium wird leer … Auf den Pariser Maskenbällen erscheinen mehr Bischofs-, Abbé-, Mönchs- und Nonnenkostüme als je.«20
Friedrich Nietzsche (1844–1900) wollte pünktlich zum 100. Todestag Voltaires am 30. Mai 1878 dem »größten Befreier des Geistes«21 ein Denkmal setzten mit einer noch radikaleren Christentums-Kritik. Es bleibt nur das Rätsel ungelöst, warum die von ihren beiden mausetoten Abgöttern erweckten »freien Denker« jede historisch-kritische Rückfrage nach der Konsistenz ihrer Kritik von Bibel und Kirche als eine Art Gotteslästerung verdammen. Welcher Christ – sei er ein Gelehrter oder der einfache Pilger auf der Straße des Lebens –, der das Evangelium Christi existentiell erfasst hat, könnte in dem von Voltaire und Nietzsche fabrizierten Zerrbild den Glauben erkennen, auf den er sein Leben aufbaut? Das glauben (!) nur die, welche den Hass für das bessere Erkenntnisvermögen halten als die Liebe. Mag die Liebe zeitweise blind machen, so macht der Hass doch das Herz für immer blöd.
Anzuerkennen ist – in einer differenzierten historischen Betrachtung – Voltaires Kampf gegen Aberglauben und religiöses Schwärmertum22, gegen die brutalen Methoden der Justiz seiner Zeit, denen er entgegentrat in seinem Traité sur la Tolerance (1763) im Verlauf der Affäre um den unschuldig verurteilten und entsetzlich zu Tode gequälten Jean Calas (1698–1762). Aber das zeichnet die »Aufklärung« nicht allein aus. Widerspruch zum Hexenwahn und zur menschenverachtenden Folter als Verhör- und Hinrichtungsmethode23 oder zum fanatischen Antijudaismus gab es schon vorher aus christlichen und humanitären Gründen bei den deswegen auch angefeindeten Jesuiten Adam Tanner (1572–1632), Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) oder bei Richard Simon (1638–1712), des ersten Vertreters der historisch-kritischen Bibelauslegung.24 Der Absolutismus Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. im damals politisch und kulturell dominierenden Frankreich und die den Jansenisten freundliche Politik der Parlements (= Gerichte) war den Päpsten und der Kirche selten von Nutzen und meist von schwerstem Schaden (Gallikanismus als Staatsdoktrin 1682; Verbot der Jesuiten in Frankreich 1764; Jansenisten-Streit).25
Die Kirche ist auf kein Staatsmodell und keine Regierungsform festgelegt, die sie sich im Laufe der Jahrhunderte und bei den vielerlei Gesellschaftsformen, in denen sie präsent ist, ohnehin nicht aussuchen kann. Aber, wo sie kann, muss sie sich prinzipiell für einen Staat auf der Grundlage der Menschenrechte einsetzen und unter den konkreten Bedingungen die relativ beste Regierungsform unterstützen.26
Die nicht von der Willkür der Machthaber abhängige Würde und Freiheit aber ist die philosophisch und religionsgeschichtlich unterscheidende Erfahrung der Christen schon seit der Befreiung Israels aus der Sklaverei des Pharao und der Errettung des Gerechten aus aller Bedrängnis, dass in Jesus Christus das Reich Gottes in die Welt gekommen ist. Jesus offenbart sich durch die Wunder des nahe gekommenen Gottesreiches als die erlösende Gnade, die Leib und Seele heilt und die zerstrittene Menschheit mit Gott versöhnt. Darum ereignet sich das Heil schon in diesem Leben und nicht geistig in einem platonischen Ideenhimmel und erst später in einem religiös erträumten Jenseits. Wer die Menschwerdung Gottes ernst nimmt, der kann nicht das Christentum mit einer Jenseitsreligion verwechseln. Auch die in Christus Verstorbenen sind mit uns im neuen Leben verbunden, das am Ende in seiner ganzen Fülle offenbar werden wird. Sie dämmern nicht dahin im Schattenreich des Hades und sind keineswegs darauf angewiesen, im vergesslichen Gedächtnis ihrer Nachfahren dahinzuvegetieren. »Habt ihr nicht gelesen, was Gott über die Auferstehung der Toten mit den Worten gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist nicht der Gott der Toten, sondern von Lebenden.« (Mt 22, 31f.)
Alles drängt sich in die kurze Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod. Ganz realistisch stellt der Psalmist fest: »Des Menschen währt siebzig Jahr, wenn es hochkommt achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin« (Ps 90, 10). Um der Würde des Menschen aber bleibt auf der Tagesordnung des aktuellen Geisteslebens: »Der Glaube an Gott im säkularen Zeitalter.«27
Angesichts der ideologischen Spaltung vieler vormals christlicher Gesellschaften seit der Französischen Revolution in Girondisten und Jakobiner, »Rechte« und »Linke«, »Konservative« und »Liberale« – sei es in gemäßigter oder radikaler Form – ist es die Aufgabe der katholischen Kirche, die Menschen zusammenzuführen auf der Grundlage der Anerkennung der Menschenwürde und des natürlichen Sittengesetzes als Basis ...