Grenzen setzen, Grenzen achten
eBook - ePub

Grenzen setzen, Grenzen achten

Wege zu einem glücklichen Miteinander

  1. 160 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Grenzen setzen, Grenzen achten

Wege zu einem glücklichen Miteinander

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Neinsagen ist nicht leicht. Oft haben wir Angst vor den Konsequenzen oder ein schlechtes Gewissen. Doch wer nicht Nein sagen kann, wer immer allen Erwartungen nachkommen will, der wird seine Grenzen bald schmerzhaft spüren und vielleicht sogar krank werden. Nur wer seine eigene Mitte hat, kann über seine Grenzen hinauswachsen. Und wer seine Grenze kennt, kann auf den anderen zugehen und ihm wirklich begegnen. Egal ob in der Partnerschaft, im Beruf oder in der Erziehung, es braucht einen guten Ausgleich von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben damit Begegnung gelingt. Ein klares und inspirierendes Buch, voller spiritueller und psychologischer Impulse. Damit Leben– und Zusammenleben– gelingt.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Grenzen setzen, Grenzen achten von Anselm Grün, Ramona Robben im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Desarrollo personal & Superación personal. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2021
ISBN
9783451826207

1. Grenzen verhindern Streit

Von der Balance zwischen Nähe und Distanz

Interessenkonflikte

Abgrenzung ist ein altes Menschheitsthema. Auch in der Bibel finden wir es an zentraler Stelle. In der Geschichte Israels reflektiert sich Menschheitsgeschichte, und die Geschichte Israels beginnt mit Abraham. Abraham hört den Ruf Gottes, auszuziehen aus seiner Heimat und seinem Vaterhaus in das Land, das Er ihm zeigen wollte. Die Grenzen seines Vaterlandes sind ihm zu eng geworden. Gott befiehlt ihm, auszubrechen aus dem begrenzten Raum, in dem er bisher gelebt hat. Abraham gehorcht diesem Ruf und nimmt seine Frau und seinen Neffen Lot mit sowie die ganze Habe, die sie erworben hatten. Das Land im Negeb, in dem Abraham und Lot mit ihrem Vieh hin- und herzogen, war zu klein für beide. Weil es ständig Streit zwischen den Hirten Abrahams und den Hirten Lots gab, sagte Abraham zu Lot: „Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links“ (Gen 13,8f). Lot zieht nun nach Osten und Abraham nach Westen. Er lässt sich in Kanaan nieder. Nachdem Abraham die bisherigen Grenzen hinter sich gelassen hat, muss er neue Grenzen ziehen, damit er und sein Neffe Lot in Frieden leben können.
Es ist eine Situation, die wir alle kennen. Abraham und Lot sind miteinander verwandt. Aber trotzdem gibt es Interessenkonflikte. Weil für die Herden von beiden nicht genügend Weidefläche da ist, kommt es zum Streit. Die Geschichte spielt sich auch heute noch ab: Da gibt es Brüder, die miteinander ein Geschäft führen. Doch für beide ist es zu klein. Statt sich ständig zu streiten, trennen sie sich und einigen sich, wie sie das bisher Gemeinsame verteilen. Wenn sie in angemessenem und geklärtem Abstand zueinander leben und arbeiten, können sie in Frieden miteinander sein. Wenn sie zu eng beisammen sind, gibt es nur Streit.
In jeder Familie kann sich ähnliches ereignen. Das Gesagte gilt nicht nur für das Verhältnis unter Geschwistern, sondern auch für die Beziehung zu den Eltern. Auf unserem Lebensweg brauchen wir zuerst die Nähe der Eltern und der Familie. Doch irgendwann wird es zu eng. Dann ist es besser, sich gütlich zu trennen. Ich muss mir auf meinem Weg ins Leben meinen eigenen Bereich erobern und in das Land ziehen, das Gott mir zugedacht hat. Das Verhältnis von Nähe und Distanz muss dann neu geregelt werden, damit wir auf Dauer gut auskommen.

Entfaltungsräume

Auch aus dem Umfeld meines eigenen Ordens kenne ich solche Geschichten: Unter den Missionaren, die seit 1888 aus St. Ottilien nach Ostafrika auszogen, waren richtige Haudegen – Männer, die geprägt waren von großer Abenteuerlust und ungeheurem Tatendrang. Doch sie hatten Probleme miteinander. Wenn solche Haudegen gemeinsam ein Werk vollbringen sollten, gab es nach kurzer Zeit regelmäßig Streit. So zog der eine nach Osten, der andere nach Norden. Auf diese Weise verbreiterten sie das Missionsgebiet – und hatten dort, wo sie jeweils wirkten, auch großen Erfolg. Es war auch bei ihnen wie in der Geschichte von Abraham und Lot: Weil sie die Gebiete aufteilten, konnte jeder in seinem Gebiet die eigenen Ideen verwirklichen. So entstand ein positiver Wetteifer in ihrem Tun. Wenn sie im gleichen Gebiet geblieben wären, hätten sie sich bekämpft und blockiert. Ihr starker Unabhängigkeitsdrang und das Aufteilen der Gebiete wurde zum Segen für alle.
Wichtig ist die Balance zwischen Nähe und Distanz. Die Begründung, die Abraham für die Trennung von seinem Neffen Lot angibt, ist interessant: „Wir sind doch Brüder.“ Gerade weil sie eine so enge Beziehung haben, müssen sie sich voneinander abgrenzen und trennen, damit jeder innerhalb seiner Grenzen gut leben kann. Zuviel Nähe schafft sogar zwischen Brüdern Streit. Auch wenn sie sich noch so gut verstehen, wird es zu Konflikten kommen, wenn sie näher zusammen wohnen, als ihnen gut tut. In der biblischen Geschichte wird damit argumentiert, dass das Land für beide Herden nicht groß genug war. Das ist ein Bild dafür, dass jeder Mensch seinen Entfaltungsraum braucht. Er braucht seine Freiheit, um das leben zu können, was ihm wichtig ist. Wenn er dabei dem anderen ständig in die Quere kommt, gibt es Konflikte, auch wenn man sich persönlich noch so gut versteht. In Familien ist das nicht anders als in anderen Gemeinschaften, in denen die Menschen zu eng aufeinander sitzen. Die Konsequenz, ob im privaten oder beruflichen Umfeld: Sie kontrollieren sich gegenseitig und beschneiden einander in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Damit die Mitglieder einer Gemeinschaft gut miteinander auskommen, braucht es immer eine klare Grenzziehung. Die Arbeitsbereiche sollten klar voneinander getrennt sein, damit jeder seine Fähigkeiten in seinem Bereich entfalten kann. Zugleich braucht es aber ein gutes Miteinander in der Arbeit, die Bereitschaft, sich etwa durch Terminabsprachen Grenzen zu setzen und die eigenen Grenzen und die der anderen Arbeitsbereiche zu wahren. Die ausgewogene Balance von Nähe und Distanz im Miteinander geht bis in ganz praktische räumliche Fragen. Es braucht die Rückzugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände. Wenn ein Haus zu hellhörig ist, wenn die Zimmer nicht gut isoliert sind und man das Husten des Nachbarn ständig hört, wird solche Nähe schnell Aggressivität erzeugen. Nur wenn man sich zurückziehen kann, kommt man auch gerne zusammen. Es braucht also immer beides: Nähe und Distanz, Sich-reiben und Sich-zurückziehen, Verbindlichkeit und Freiraum, Einsamkeit und Gemeinschaft.

Jenseits des Paradieses

In Gesprächen mit Menschen, die unter dem Problem der richtigen Grenzziehung leiden, hört man manchmal: „Wir verstehen uns doch so gut.“ Wenn jemand zu sehr auf das gegenseitige Verständnis baut, übersieht er allerdings oft die Grenzen, die er braucht, um sich mit dem anderen gut zu verstehen. Wenn man immer zusammen ist, dann gibt es Probleme. Das gilt auch für jede Ehe. Auch da braucht jeder und jede, Mann und Frau, den eigenen Raum, in dem er für sich selbst sein kann. Frauen erzählen oft, dass es zu Problemen kam, als der Mann pensioniert worden ist. Er sitzt nun immer zu Hause. Vorher haben sie sich gut verstanden. Da war das Miteinander auf den Morgen, den Abend und das Wochenende beschränkt. In diesen Grenzen war Harmonie. Aber jetzt, da der Mann ständig um die Frau herum ist, ist ihr die Nähe auf einmal zuviel. Sie wird aggressiv. Die Aggressionen sind ein Zeichen dafür, dass sie mehr Distanz braucht. Die Frau spürt, dass es auch für den Mann nicht gut ist, immer im Haus zu bleiben. Er braucht auch nach der Pensionierung seinen eigenen Raum, in dem er sich engagieren oder seinen Hobbys nachgehen kann. Ein pensionierter Schulleiter erzählte, wie die erste Zeit nach der Pensionierung für ihn und seine Frau zum Horror wurde. Er selber musste erst damit fertig werden, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stand und nicht mehr in einem vorgegebenen Rahmen gebraucht wurde. Er wollte es jedoch nicht wahrhaben, dass ihm das Loslassen schwer fiel. So projizierte er seine Probleme auf seine Frau und kritisierte an allem herum. Sie merkten schließlich beide, dass es so nicht weitergehen könne. Ihre Lösung: Sie einigten sich auf eine gesunde Tagesstruktur, in der sie für jeden genügend Freiraum vorsahen. Und siehe da: Auf einmal konnten sie wieder gut miteinander auskommen.
Der Paartherapeut Hans Jellouschek sieht als Ursache vieler Eheprobleme die zu große Nähe der Ehepartner, die meinen, sie müssten in der Liebe immer verschmelzen. Doch Partner, die so leben wollen, finden nie zu ihrem eigenen Selbst. Und die Konsequenz: Irgendwann leiden sie an ihrer zu großen Nähe. Sie können ihre Sexualität nicht mehr genießen. Sie entwickeln psychosomatische Symptome und streiten ständig miteinander. Eine Ehe gelingt nur, wenn sie ein ausgeglichenes Miteinander von Nähe und Distanz wird. Viele Ehepaare, die über ständige Konflikte in der Beziehung klagen, verstehen nicht, wenn der Therapeut ihnen sagt: „Ihr seid viel zu nah zusammen!“ Sie meinen oft gerade, dass ihr ständiges Streiten eher Ausdruck einer zu großen Distanz sei. Doch für Jellouschek steht fest, „dass der Streit gerade eine Form des Klammerns aneinander ist“. Er rät daher den Paaren, dass sie sich genügend Freiräume schaffen, etwa einen eigenen Raum in der Wohnung oder einen „freien“ Tag in der Woche, den sie für sich selber gestalten. Manche bekommen bei einem solchen Rat Angst und meinen, das sei ein erster Schritt zur Trennung. Doch nur wenn sie sich die eigenen Grenzen sichern, werden sie auf Dauer friedlich zusammenbleiben. Eine Dauerverschmelzung gibt es nicht. Biblisch gesprochen: Der Engel verwehrt uns endgültig den Zutritt zum Paradies. Es gibt in unserem Leben kein Zurück in das Paradies des ununterbrochenen Einsseins. Wir leben im Hin und Her zwischen Nähe und Distanz, zwischen Einheit und Trennung. Das Paradies endgültiger Einheit erwartet uns erst, wenn wir im Tod eins werden mit Gott und mit uns selbst und miteinander.

Äußere und innere Abgrenzung

Junge Ehepaare, die noch im Haus der Eltern wohnen, leiden oft unter der zu großen Nähe der Eltern. Die Frau hat dann oft den Eindruck, dass der Mann ständig zur Mutter geht und sich von ihr trösten lässt, wenn es Konflikte zwischen den Ehepartnern gibt. Oft sind die Wohnräume nicht genügend voneinander getrennt. Nicht selten ein Auslöser für Schwierigkeiten: Die Schwiegermutter erscheint unangemeldet in der Wohnung, als ob es ihre eigene wäre. Es ist zwar bequem, wenn die Schwiegermutter auf die Kinder aufpasst und die jungen Eltern dadurch Freiräume haben. Doch wenn sie den Erziehungsstil ständig kritisiert, dann ist ein Dauerkonflikt vorprogrammiert. Abweichende Vorstellungen davon, was gut ist für die Kinder, gehören zu diesen problematischen Bereichen. Schwierig werden kann es, wenn sich die Schwiegertochter zwar darüber ärgert, dass die Oma den Kindern Süßigkeiten zusteckt, ihr aber keine klaren Grenzen setzen und der Schwiegermutter nicht unmissverständlich klar machen kann, dass sie als Mutter ihre Erziehungsverantwortung selber wahrnehmen will. Das Klima wird in solchen Fällen immer mehr vergiftet. Da sind dann nicht nur äußere Trennungen nötig, sondern auch eine klare innere Abgrenzung. Sonst kann sich die Familie nie entfalten. Diese Schwiegertochter braucht dann eben ihr eigenes Gebiet wie Abraham und Lot, damit die junge Familie zusammenwachsen und ihre Konflikte selber lösen kann.
Die innere Abgrenzung ist oft schwerer als die äußere. Da kreist etwa ein junges Ehepaar immer wieder darum, was die Eltern oder Schwiegereltern über sie und ihre Kinder gesagt haben oder was sie darüber denken. Und wenn sie die Eltern besuchen, fühlen sie sich sofort kontrolliert, beobachtet und zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt. In einer solchen Konstellation ist es wichtig, sich innerlich abzugrenzen. Die Mutter und der Vater dürfen denken, was sie denken. Sie dürfen ihre Wünsche äußern und natürlich auch ihre Meinung haben. Ich muss mich darüber nicht aufregen. Ich kann es bei ihnen lassen. Wenn ich die Grenze zwischen mir und den Eltern klar ziehe, kann ich mit ihnen gut auskommen. Ich fühle mich nicht ständig in meiner Freiheit beschnitten. Ich entscheide, wann ich ihre Wünsche erfüllen möchte und wann nicht. Und ich stehe nicht unter Druck, sie von der Richtigkeit meiner Meinung überzeugen zu müssen. Ich habe mich abgegrenzt und respektiere die Begrenztheit ihrer Weise, die Welt zu betrachten und zu deuten.
Wenn man viel Zeit miteinander verbringt und alles gemeinsam tun möchte, dann erzeugt das oft ein aggressives Klima wie bei den Hirten Abrahams und Lots. Aber wenn man – wie etwa in einer klösterlichen Gemeinschaft – das christliche Gemeinschaftsideal hoch hängt, übersieht man nicht selten, dass die Aggressivität menschlich und normal ist und dass gerade die problematische Enge danach schreit, mehr Freiraum zu schaffen. Und anstatt eine gesunde Distanz zu ermöglichen, appelliert man an die Nächstenliebe: Man solle sich doch vertragen und einander achten. Doch die moralischen Appelle fruchten nicht, wenn die äußeren Bedingungen nicht ernst genommen werden, unter denen ein gutes Miteinander möglich wird. Im Gegenteil, die ständige Ermahnung, einander mehr zu lieben und zu verstehen, erzeugt neue Aggressivität oder inneren Rückzug. Da wäre eine nüchterne Analyse, warum das Miteinander so schwierig ist, viel fruchtbarer. Eine solche Analyse würde sicher ergeben, dass das Miteinander von Nähe und Distanz nicht ausgewogen ist.

2. Grenzverletzungen

Von Übergriffen und Vereinnahmungen

Das Andere respektieren

Die alte Geschichte von Lot und Abraham ist auch in ihrer Fortsetzung und in einem weiteren Aspekt lehrreich für uns heutige: Lot hatte sich in Sodom niedergelassen. Sodom und Gomorra sind Städte, in denen ein böser Geist herrscht. Zwei Engel des Herrn besuchen Lot in der Stadt Sodom, um nachzusehen, ob die Menschen dort wirklich so böse sind. Lot nimmt sie freundlich in sein Haus auf. „Sie waren noch nicht schlafen gegangen, da umstellten die Einwohner der Stadt das Haus, die Männer von Sodom, jung und alt, alles Volk von weit und breit. Sie riefen nach Lot und fragten ihn, wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkehren!“ (Gen 19,4f). Lot versucht, die Männer von diesem Verbrechen abzuhalten. Aber sie überrumpeln ihn und machen sich daran, die Türe aufzubrechen. Doch die beiden Engel schlagen die Männer mit Blindheit, so dass sie den Eingang nicht finden.
Hier verletzen die Männer von Sodom ganz klar die Grenze anderer Menschen. Sie möchten mit den fremden Männern sexuellen Kontakt haben und verletzen so das Gastrecht, das in der Antike bei Juden und Griechen gleichermaßen heilig war. Sie achten nicht die Grenzen, die das Gastrecht um jeden Fremden gezogen hat. Der Fremde war unantastbar. Im Fremden kam etwas Numinoses, etwas Göttliches, zu einem. In unserer Erzählung sind es Engel, die in den beiden Männern zu Lot kommen. Doch die Männer von Sodom wollen sie für sich benutzen. Sie haben kein Gespür für den Fremden, der ihrem Zugriff entzogen ist. Sie möchten ihre Gier an ihnen befriedigen. Hier geht es um eine extreme Grenzverletzung. Häufig geschieht solche Ausbeutung subtiler. Da werden die Fremden einfach vereinnahmt. Nur wenn sie sich so gebärden wie wir, werden sie akzeptiert. Aber das Fremde, das Unerklärliche, das Numinose, das sich uns entzieht, wird nicht respektiert. Im „Dritten Reich“ war die „Verkameradschaftung“ eine raffinierte Weise, Menschen zu vereinnahmen und ihnen ihre Individualität zu rauben.
In den Medien lesen wir heute ständig von ähnlichen Grenzverletzern. Da gibt es Menschen, die achten die Würde des Kindes nicht, sondern beuten es für sich sexuell aus. Ihre Gier macht sie blind gegenüber der Würde des Kindes. Auch der Mann, der eine Frau vergewaltigt, hat jedes Gespür für die Grenze verloren. Doch es gibt ja nicht nur die Extremfälle von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Es gibt viele sublimere Weisen der Grenzverletzung. Da kommt einem jemand im Gespräch zu nahe. Jeder hat ein Gespür für seine Grenze. Doch der Grenzverletzer überschreitet sie. Er geht nur von sich und seinem Bedürfnis aus. Er ist unfähig, sich in das Bedürfnis des anderen hinein zu spüren. Es gibt Männer, die jede Frau betätscheln müssen, und, zur Rede gestellt, sagen, dass sie einfach nicht so prüde seien, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist und dass sie doch nur herzlich sein und uneigennützig Nähe schenken möchten. Doch hinter solchen Begründungen verstecken sie nur egoistische Absichten und nicht eingestandene eigene Bedürfnisse.
Im therapeutischen oder seelsorglichen Gespräch erleben wir, wie einleitend schon angedeutet, manchmal auch, wie die Klienten ihre Grenzen in dieser ganz besonderen Situation überschreiten. Nachdem sie von sich erzählt haben, wechseln sie plötzlich ihre Rolle und spielen sich selbst zum Therapeuten auf. Sie konstatieren dann auf einmal voll Mitgefühl, der Therapeut sehe heute so schlecht aus und fragen ihn nach seinen Sorgen. Er braucht die therapeutische Distanz, um dem Klienten helfen zu können. Doch mancher Klient möchte diese Grenze nicht wahrhaben.

Unter dem Deckmantel des Helfers

Die Gefahr der Grenzverletzung durch die Therapeutin oder den Seelsorger gibt es selbstverständlich auch. Sie ist immer dann gegeben, wenn sie sich mit einem archetypischen Bild identifizieren. C.G. Jung nennt diese Identifikation mit dem Archetyp Inflation. Man bläht sich auf und wird dabei blind für die Grenzen des anderen. Wenn z. B. in der Beratung eine Frau darüber klagt, dass sie niemanden hat, der sie umarmt, dann wäre es fatal, wenn der Seelsorger sich mit dem Archetyp des Helfers identifizieren würde. Er würde unter dem Deckmantel des Helfers die Frau umarmen – und gar nicht merken, wie er dabei sein eigenes Bedürfnis nach zärtlicher Nähe ausagiert. Das heißt nicht, dass wir nicht Nähe zeigen sollen, wenn es angebracht ist. Aber es braucht ein feines Gespür dafür, was dem anderen gut tut. Wer sich mit dem Bild des Helfers identifiziert, verliert das Gespür für den anderen. Er wird von seinem inneren Bild gedrängt, den anderen mit seiner Nähe zu überschütten. Er ist sich seiner eigenen Bedürfnisse nicht bewusst. Er meint, er würde den andern umarmen, weil der es brauche. In Wirklichkeit braucht er es selbst. Doch er gesteht sich seine eigenen Bedürfnisse nicht ein. Jeder Therapeut und jede Seelsorgerin hat Bedürfnisse nach Nähe. Die Kunst und die Disziplin der Begleitung besteht darin, sich diese Bedürfnisse bewusst zu machen und sich zugleich davon zu distanzieren.
Genauso gefährlich ist in der Begleitung der Archetyp des Heilers. Von der Begleitung soll Heilung ausgehen, und oft genug geschieht auch wirkliche Heilung. Doch wenn sich der Begleiter mit dem Archetyp des Heilers identifiziert, dann übernimmt er sich. Er leugnet die eigenen Grenzen. Er zieht kranke Menschen an und schreibt das seiner heilenden Ausstrahlung zu. Eine Frau erzählte, ein Priester habe ihr gesagt, er könne sie von der Wunde des sexuellen Missbrauchs heilen. Sie solle alle vier Wochen zum Beichtgespräch kommen. Das sah dann so aus, dass er sie während des Beichtgesprächs eine Stunde lang fest umarmte. Die Frau war verwirrt. Aber sie meinte, der Priester meine es doch gut. Er sei ja ein bekannter und beliebter Priester. Vielleicht sei sie selbst nur etwas verklemmt. Beim Erzählen, zwanzig Jahre später, kam ihr wieder der eklige Geruch seines Schweißes in die Nase. Erst sehr viel später ging ihr auf, dass der Priester sein eigenes Bedürfnis nach Nähe an ihr ausgelebt hat.
Es gibt immer wieder Seelsorger, die vor allem depressive Menschen anziehen. Wenn sie hören, dass etwa eine Frau schon lange i...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. 1. Grenzen verhindern Streit: Von der Balance zwischen Nähe und Distanz
  7. 2. Grenzverletzungen: Von Übergriffen und Vereinnahmungen
  8. 3. Die Grenze ist heilig: Vom respektierten und geschützten Raum
  9. 4. Wir leben in festgesetzten Grenzen: Von Hybris und Demut
  10. 5. Grenzen muss man kennen lernen: Von klaren Regeln und notwendiger Reibung
  11. 6. Abgrenzung kann heilsam sein: Von gesunder Aggression und Distanz
  12. 7. Die eigenen Grenzen nicht verletzen lassen: Von äußerem Druck und der eigenen Mitte
  13. 8. Grenzenlose Menschen: Vom Umgang mit Emotionsbrei
  14. 9. Die eigene Grenze nicht mehr spüren: Von Sucht und seelischer Krankheit
  15. 10. Die eigenen Grenzen eingestehen: Von Verdrängung und Ehrlichkeit
  16. 11. Wenn alles zu viel wird: Von Schuldgefühlen und unnötigem Ärger
  17. 12. Strategien der Abgrenzung: Vom notwendigen Selbstschutz
  18. 13. Grenzen schaffen Beziehung: Von der Angst vor Liebesverlust und von gelingender Liebe
  19. 14. Grenzen überschreiten: Von Herausforderungen und vom Mut
  20. 15. Er verschafft deinen Grenzen Frieden: Von Voraussetzungen für ein gedeihliches Miteinander
  21. 16. Ihre Grenze bedachte sie nicht: Von Mitteln gegen Erschöpfung und Ausbrennen
  22. 17. Die Weisungen übertreten: Vom Doppelgesicht der Gebotsverletzung
  23. 17. Grenzenloser Friede: Von der großen Sehnsucht und Grabenkämpfen im eigenen Herzen
  24. 18. Du hast die Tage meines Lebens begrenzt: Von der wahren Weisheit des Alters
  25. 19. Die Grenze des Todes: Von der Gelassenheit im Endlichen
  26. 20. Vom Tod zum Leben übergehen: Von einem Leben in Fülle
  27. Schluss
  28. Literatur