Teil III
Der dritte Schritt
Konzentration auf das Wesentliche
Die ersten beiden Schritte, die wir in diesem Buch behandelten, bilden die Grundlage für ein gelingendes Gespräch: Wenn wir mit Präsenz beginnen, wird alles möglich; eine innere Haltung von wohlwollendem Interesse weist uns die Richtung und leitet uns während des Gesprächs. Der dritte Schritt, die Konzentration auf das Wesentliche, bestimmt, wohin wir tatsächlich gehen.
In diesem dritten Schritt geht es darum, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Ein Gespräch besteht aus vielen Elementen. Wie unterscheiden wir das, was relevant ist, von dem, was nicht relevant ist? Wie entscheiden wir, was wir zuerst ansprechen? Die Schulung unserer Aufmerksamkeit ist eine unschätzbare Ressource im Umgang mit dieser Komplexität.
Ich möchte Sie zu einem kurzen Experiment einladen. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit als Erstes in Ihre Hände, und nehmen Sie die Empfindungen darin wahr: warm oder kühl, schwer oder leicht, trocken oder feucht? Bringen Sie nun Ihre Aufmerksamkeit in Ihre Füße, und nehmen Sie die Empfindungen darin wahr: Temperatur, Gewicht, Textur.
Wenn wir die Aufmerksamkeit von den Händen in die Füße verlagern, nutzen wir eine grundlegende Fähigkeit unseres Geistes: Wir können bewusst wählen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Da wir unsere Hände und Füße den ganzen Tag lang benutzen, bietet es sich an, dass wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder willentlich dorthin lenken. Diese Schulung unserer Aufmerksamkeit bildet die Grundlage für den dritten Schritt zu einem gelingenden Gespräch.
Marshall Rosenberg benennt vier Schlüsselaspekte des Erlebens, die, wenn wir sie klar erkennen, uns helfen, mit unserer Menschlichkeit verbunden zu bleiben und Kooperation zu fördern. Anstatt uns durch Schuldzuweisungen, reaktive Urteile und engstirnige Interpretationen einzuschränken, lernen wir aufzugliedern, welche tatsächlichen Beobachtungen für eine Situation am relevantesten sind, welche Gefühle mit diesen Ereignissen verbunden sind, aus welchen tieferen Anliegen und Bedürfnissen diese Gefühle entstehen und welche spezifischen Bitten ein Gespräch voranbringen könnten. Mit anderen Worten: Was ist geschehen? Wie fühlen Sie sich in Bezug darauf? Warum fühlen Sie sich so? Und wie soll es weitergehen?
Im dritten Teil werden wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, diese vier Komponenten zu unterscheiden und zusammenzuweben – Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten. Wenn wir mit diesen Aspekten einer Erfahrung vertrauter sind, merken wir, dass sie zusammenpassen wie die einzelnen Schritte eines Tanzes. Wir können sie nutzen, um uns klarer auszudrücken und einander leichter zu hören.
Der dritte Schritt zu einem gelingenden Gespräch ist äußerst vielseitig. Die Konzentration auf das Wesentliche kann bedeuten, dass wir eine größere Perspektive einnehmen oder aber uns mit einem speziellen Aspekt auseinandersetzen. Wir schulen unsere Aufmerksamkeit, sodass wir erkennen, was in der jeweiligen Situation am wichtigsten ist. Indem wir Irrelevantes beiseitelegen und für das Wesentliche Platz schaffen, entsteht große Freiheit und Flexibilität in unserer Kommunikation. Wenn wir uns auf das Wichtigste konzentrieren, können wir sagen, was wir meinen, und Schritt für Schritt ein gelingendes Gespräch führen.
7
Sich auf das Wesentliche konzentrieren
»Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
Antoine de Saint-Exupéry
Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Sie, egal was jemand sagt oder tut, in der Lage wären, die tieferen Anliegen hinter den Worten und Taten zu hören. Wie wäre es, in das Herz Ihres Gegenübers zu sehen und zu spüren, wonach es sich wirklich sehnt? Wie wäre es, ganz natürlich Empathie für diesen Menschen zu empfinden? Oder intuitiv zu wissen, was Ihnen in einer bestimmten Situation am wichtigsten ist?
Das ist möglich. Es ist die Folge davon, dass wir unsere Aufmerksamkeit schulen, menschliche Bedürfnisse und Werte zu erkennen. Es ist eine Praxis, die wirkungsvoll, transformativ und befreiend ist. Es mag Zeit und eine gewisse Disziplin der Aufmerksamkeit erfordern, auf diese Weise sehen zu lernen, aber es ist uns durchaus möglich, und die Auswirkungen sind tiefgreifend.
In Kapitel 5 haben wir eine der grundlegenden Annahmen der Gewaltfreien Kommunikation erkundet: Alles, was wir tun, tun wir, um ein Bedürfnis zu erfüllen. Das ist so zentral, dass ich tiefer auf die Implikationen dieser Perspektive und die erforderliche Schulung der Aufmerksamkeit eingehen möchte. Um die transformative Kraft dieser Sichtweise zu verstehen, müssen wir etwas über Bedürfnisse und Werte lernen. Bedürfnisse erkennen und weise auf sie eingehen zu können bringt uns mehr Einsichtsfähigkeit, Freiheit und Wahlmöglichkeiten, sodass wir uns auch in den schwierigsten Beziehungen zurechtfinden können.
Als ich mit Anfang zwanzig auf einem Kommunikationsworkshop zum ersten Mal von dem Konzept der Bedürfnisse hörte, war ich verblüfft. Ich hatte damals eine harte Zeit: Ich fühlte mich einsam und war im Konflikt mit Kollegen und meiner Familie. Zu erfahren, dass es echte Gründe für meine Gefühle gab, war eine Offenbarung und eine Erleichterung gleichermaßen. Ich hatte einen neuen Ansatz zum Verständnis von Verhaltensweisen gefunden, den ich intuitiv sinnvoll fand: Wir alle tun einfach unser Bestes, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen.
In der Gewaltfreien Kommunikation und in Bereichen der Psychologie und Sozialtheorie bezeichnet der Begriff »Bedürfnis« etwas sehr Spezifisches und unterscheidet sich vom gewöhnlichen Sprachgebrauch. Umgangssprachlich sagen wir vielleicht: »Ich habe das Bedürfnis, dass du mir zuhörst.« Oder: »Ich möchte, dass du pünktlich bist.« Dies sind jedoch Strategien – Vorstellungen darüber, wie unsere Bedürfnissen erfüllt werden können. Bedürfnisse sind das, was hinter unseren Strategien steht. Es handelt sich um grundlegende Werte, die unser Handeln bestimmen. Wenn ich will, dass Sie mir zuhören, habe ich womöglich das Bedürfnis nach Verständnis. Bei dem Wunsch nach mehr Pünktlichkeit könnte es um Werte wie Respekt, Zusammenarbeit oder Effizienz gehen.
Bedürfnisse sind die zentralen Werte, die unser Handeln motivieren. Sie sind das, worum es uns im Wesentlichen geht, die Hauptgründe dafür, dass wir wollen, was wir wollen.
Wir können Bedürfnisse als Facetten unserer Menschlichkeit betrachten. Es sind universelle, positive Eigenschaften, die uns mit Leben erfüllen und unsere Entwicklung vorantreiben. Wir alle teilen die gleichen Bedürfnisse, obwohl wir sie mit unterschiedlicher Intensität empfinden und unterschiedliche Strategien haben, sie zu erfüllen. Alles, was an eine bestimmte Person, einen Ort, eine Zeit, ein Objekt oder eine Handlung gebunden ist, ist eine Strategie. Manche Strategien sind erfolgreich, andere nicht. Einige sind klug, andere unklug. Jede Handlung kann als ein Versuch verstanden werden, bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen. So machen wir zum Beispiel einen Spaziergang für unsere Gesundheit, zur Entspannung oder um den Kopf freizubekommen. Umgekehrt gibt es viele Strategien, um ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen: Wir können uns entspannen, indem wir mit einem Freund sprechen, ausgehen oder Yoga machen.
Eine Konstellation von Bedürfnissen
Das moderne Konzept der menschlichen Bedürfnisse wurde maßgeblich von...