1 Vorüberlegungen
Wie in der Einleitung zum vorliegenden Band erwähnt, nimmt der Begriff des Barbarischen in Nietzsches Kulturkritik eine wichtige Stellung ein: Eine Recherche in Nietzsche-Source führt auf mehr als 300 Belegen für das Lexem barbar-.1 Sie sind auf das Gesamtwerk verteilt und finden sich in den publizierten Schriften ebenso wie in den nachgelassenen Fragmenten. Die Stellung des Begriffs entspricht somit derjenigen des Dekadenz-Begriffs (208 Belegstellen), zu dem er eine komplexe semantische Beziehung hat. Dennoch wurde dem Begriff des Barbarischen in der Nietzsche-Forschung nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit zuteil wie dem Begriff der Dekadenz und dem damit verwandten Begriff des Nihilismus (175 Belegstellen). Die Weimarer Nietzsche-Bibliographie führt 11 Artikel an, die unterschiedliche Aspekte von Nietzsches Begriff des Barbarischen behandeln; erschienen sind sie zwischen 2003 und 2018.2 Zu seinem Begriff der Dekadenz liegen hingegen um die 200 Forschungsarbeiten vor, die vom Beginn der Nietzsche-Forschung (1893) bis zur Gegenwart (2021) reichen.
Die Gründe für diese frappierende Diskrepanz sind vermutlich denen analog, die für das Fehlen einer umfassenden Begriffsgeschichte des Barbarischen geltend gemacht werden können.3 Zu nennen ist hier vor allem der problematische Status des Begriffs „barbarisch“, der darin besteht, dass seine Extension und seine Intension divergieren und dass er zugleich an das Lexem barbar-, das in allen europäischen Sprachen vorhanden ist, gebunden bleibt. Ein weiterer Grund ist in dem weitverbreiteten Eindruck zu suchen, dass der Begriff dennoch unentbehrlich ist, aber nicht für wissenschaftliche Aussagen, sondern für die politische Rhetorik: Dort dient er dazu, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu kennzeichnen und den für solche Verbrechen Verantwortlichen die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen. Zum besseren Verständnis von Nietzsches Stellung in der Geschichte des Barbarenbegriffs seien beide Punkte zunächst kurz erläutert.
Die lange Geschichte des Begriffs „barbarisch“, die mit Homer beginnt, führt vor Augen, dass seine Extension, d. h. die Referenz des Begriffs, durch große Variabilität gekennzeichnet ist: Als ‚asymmetrischer Gegenbegriff‘ (Koselleck 1989) oder ‚Feindbegriff‘ (Koselleck 2006) wurde und wird das Lexem barbar- auf die unterschiedlichsten Ethnien, Bevölkerungsgruppen, Religionsgemeinschaften und Nationen angewandt. Die Intension des Begriffs hingegen, d. h. die Menge seiner Bedeutungsmerkmale (‚ausländisch‘‚ ‚unverständlich‘, ‚ungebildet‘, ‚unzivilisiert‘ ‚unmenschlich‘‚ ‚grausam‘ etc.), blieb konstant und löste sich nie vom Lexem barbar-; es diente immer als Instrument der Ausschließung. Die begriffsgeschichtliche Grundregel, der zufolge „[…] the persistence of […] expressions tells us nothing reliable at all about the persistence of the […] questions which the expressions may have been used to answer“ (Skinner 1969, S. 39), trifft auf den Begriff „barbarisch“ also nicht zu.4
Um diesen „erstaunlichen Befund“ (Koselleck 2006, S. 277) zu verstehen, muss man die Etymologie des Lexems bedenken:5 Das griechische Nomen und Adjektiv βάρβαρος (bárbaros) ist eine onomatopoetische Reduplikationsbildung, die unverständliches fremdes Gestammel oder tierähnliche Laute und dann den Fremden, dessen Sprache man nicht versteht, imitiert oder fingiert. Onomatopoetische Wörter sind bis zu einem gewissen Grade motivierte, daher aber auch opake (intransparente) Zeichen: Signifikant und Signifikat sind nicht klar zu trennen; es dominiert die Ausdrucksfunktion und Affektbezogenheit des jeweiligen Wortes (vgl. Bredin 1996, S. 557). Daraus ist zweierlei zu folgern: (1) Die Untrennbarkeit von Wort- und Begriffsgeschichte des Barbarischen geht auf die onomatopoetische Herkunft des Lexems barbar- zurück. (2) Wegen dieser Herkunft des Lexems barbar- kann der daran haftende Begriff nur scheinbar der Organisation und Vermittlung von Wissen dienen; das gilt auch für den von der aufklärerischen bis zur evolutionistischen Anthropologie reichenden Versuch, durch Verzeitlichung den asymmetrischen Gegenbegriff in einem wissenschaftlichen Begriff für ein Stadium der Menschheitsentwicklung, nämlich das zwischen Wildheit und Zivilisation vermittelnde, aufgehen zu lassen (vgl. dazu Moser 2018). Letztlich dominiert bis heute das semantische Merkmal des Unverständlichen, Tierähnlichen, Sub-Humanen und der damit verbundene Affekt der Ablehnung, der freilich in kulturellen Krisenzeiten in Faszination umschlagen kann. Die angsterfüllte Hoffnung auf das von Grund auf Neue konkretisiert sich dann in der Figur des ‚Wartens auf die Barbaren‘ (vgl. Boletsi 2013 und 2018).
„Barbarisch“ erweist sich also als ein Pseudo-Begriff, der nicht zum Instrument der Vermittlung von Wissen taugt und sich deshalb traditioneller begriffsgeschichtlicher Erforschung entzieht (vgl. Winkler 2018a, S. 1 – 4 und 23 – 32). Zugleich aber war und ist er als europäisches „Schlüsselwort“, „das andere Menschen schlagen und verletzen will“ (Borst 1988, S. 19), in der politischen Rhetorik erstaunlich präsent. Seine Effizienz scheint die Legitimität, ja Selbstverständlichkeit seiner Verwendung zu verbürgen (vgl. Winkler 2018a, S. 19 – 23). Das ist vermutlich einer der Gründe dafür, dass vereinzelte Ansätze zu seiner De-Legitimierung – einer dieser Ansätze findet sich bei Nietzsche, wie im Folgenden zu zeigen ist – bislang ohne nachhaltige Wirkung blieben. Festzuhalten ist jedenfalls, dass sich die rhetorische Effizienz des Schlagworts (nicht Begriffs) der traditionellen begriffsgeschichtlichen Forschung ebenso entzieht wie seine onomatopoetische Struktur. Beide sind miteinander verbunden: Zur Effizienz des Schlagworts trägt die Onomatopöie, die, wie dargelegt, ausdrucks- und affektbezogen ist, nicht wissensbezogen, wesentlich bei.
Es verwundert also nicht, dass die Forschung Nietzsches Verwendung des Barbarenbegriffs bislang weitgehend gemieden hat. Und es verwundert ebenfalls nicht, dass Nietzsche als Rhetoriker auf den Begriff – insbesondere auf seine Opposition zu „Bildung“, „Kultur“ etc. – nicht verzichtet, obwohl er, wie sich zeigen wird, als klassischer Philologe weiß, dass es sich in Wahrheit um ein gefährliches Schlagwort handelt.
Im Folgenden sollen zunächst einige aussagekräftige Variationen über die Opposition von Barbarei und Bildung (Kultur) in Nietzsches Schriften der frühen und mittleren Schaffenszeit analysiert werden. Dabei kommen strukturbezogene Aspekte ebenso zur Sprache wie begriffsgeschichtliche. Ein besonderer Akzent liegt auf Stellen, an denen Nietzsche, wenngleich zögerlich, jene Opposition in Frage stellt. Denn diese Stellen weisen vor...