Entmenschlicht
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Sklaverei im 21. Jahrhundert

  1. 240 Seiten
  2. German
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Sklaverei im 21. Jahrhundert

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Über dieses Buch

Die Sklaverei wird weltweit in vielen internationalen Abkommen und nationalen Gesetzen geächtet. Das hat nichts daran geändert, dass sie weiterhin existiert. Über vierzig Millionen Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, sind moderne Sklaven, überall auf der Welt. Sie leben im Schatten, auch unter uns. Sie sind ebenso Opfer traditioneller Sklaverei wie neuer Formen von Ausbeutung und Gewalt. Die Produkte ihrer erzwungenen Arbeit finden sich in Verkaufsregalen und Computerprogrammen, sie schuften in Haushalten und Bordellen, auf Plantagen, in Nähereien, am Bildschirm, sie ziehen als Kindersoldaten in den Krieg und werden von diktatorischen Staaten in die Arbeit gezwungen.Die Autoren, seit drei Jahrzehnten im freien Journalismus tätig, zeigen auf, wie die moderne Sklaverei unseren Alltag durchdringt und in die globalen Wertschöpfungsketten verstrickt ist. Ihre Recherchen führen uns in chinesische Arbeitslager für Uiguren, auf brasilianische Großfarmen und hinter die Fassaden vermeintlicher Familienidyllen bei uns. Sie blicken in die Vergangenheit auf der Suche nach Motiven und Erklärungen für diese anthropologische Konstante der Gewalt, erzählen von Würde und Widerstand der Ausgebeuteten, offenbaren Gleichgültigkeit und Wegsehen – und sie suchen nach Wegen aus der modernen Sklaverei.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783858699541
Die Gesichter der modernen Sklaverei

Einführung

Die moderne Sklaverei, eine Geißel der Menschheit
Die in eineinhalb Jahrhunderten zäher Überzeugungsarbeit 1926 beschlossene Abschaffung von Sklaverei und Sklavenhandel ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Durch über 75 internationale Abkommen ist dieses Verbot in allen Staaten der Welt heute gültig. Doch in Wirklichkeit hat die Sklaverei nie aufgehört zu existieren, denn die Abkommen sind mangels Sanktionsmöglichkeiten zahnlos geblieben. In den meisten Ländern mangelt es an Durchsetzungskraft, um die Sklavenhalterinnen und Sklavenhalter von heute zu verfolgen und zu bestrafen. Sie betreiben ihr Geschäft im Untergrund bis vor unsere Haustüren. Kaum jemand schaut hin. Das mag auch damit zu tun haben, dass in vielen Köpfen Sklaverei mit der Plantagensklaverei verbunden ist, mit der Europäer und später Amerikaner am meisten Schuld auf sich geladen haben. Diese Sklaverei ist tatsächlich überwunden, auch wenn die historische Schuld noch nicht einmal in Ansätzen getilgt ist, weder materiell noch moralisch. Die ausbeuterischen Verhältnisse in südspanischen oder apulischen Treibhausplantagen sind, wie wir berichten, als Form der modernen Sklaverei eine Fortsetzung einer unseligen Geschichte. Auch das Wegsehen hat Tradition.
Diese unangenehme Wahrheit verschwand mit der Dekolonisierung Mitte des 20. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein und mit ihr der kollektive Wille, die Sklaverei nicht nur de jure, sondern auch de facto abzuschaffen. Es brauchte eine neue abolutionistische Bewegung, die sich in den neunziger Jahren zu formieren begann. Und es brauchte den Mut und die Hartnäckigkeit von Journalisten wie Lydia Cacho und Benjamin Skinner, des Soziologen Kevin Bales oder des Aktivisten Siddharth Kara, die in die schmutzigen Ecken blickten und Erschreckendes zutage förderten. Skinner, dem auf Haiti Mädchen für ein Taschengeld zum Kauf angeboten wurden, Cacho, die aufzeigt, wie korrupte Polizisten wegschauen, wenn Frauen in die Prostitution gezwungen werden, Bales, der im rohstoffreichen Kongo dokumentierte, wie im anarchischen Chaos eines failed state versklavte Kinder in den Minen schuften, aus denen Metalle gefördert werden, die unabdingbar für unsere Mobiltelefone sind, und Kara, der wie kein anderer die moderne Sklaverei analytisch durchleuchtet – sie und viele Aktivistinnen und Aktivisten von humanitären Organisationen wie Anti-Slavery International, Walk Free Foundation oder Free the Slaves haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Welt den Spiegel vorgehalten. Sie haben dazu beigetragen, dass nun auf internationalen und nationalen Parketten die »moderne Sklaverei« thematisiert wird. So wurde die zeitgenössische Version des Sklavenhandels unter dem Begriff »Menschenhandel« 2000 in das »Palermo-Protokoll« der Vereinten Nationen »zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« aufgenommen. »Der Ausdruck ›Menschenhandel‹ [bezeichnet] die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.« Diese Sätze fassen das komplexe juristische Geflecht, das ersonnen wurde, um der modernen Sklaverei Paroli zu bieten, zusammen. Das Abkommen verpflichtet die teilnehmenden Staaten zur internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Menschenhandel und zum Erlass von nationalen Gesetzen. 189 Staaten haben es ratifiziert. Die Selbstverpflichtung ist allerdings unverbindlich, und in manchen nationalen Gesetzen sind nicht alle Punkte berücksichtigt. Die Europäische Union und der Europarat haben ähnliche Richtlinien beziehungsweise Übereinkommen verabschiedet. Verschiedene Staaten, Großbritannien etwa mit dem »Modern Slavery Act«, verpflichten international tätige Unternehmen, in ihren Wertschöpfungsketten moderne Sklaverei zu eliminieren. Viel mehr als eine regelmäßige Berichterstattung wird dabei aber nicht verlangt. Es braucht angesichts dieser völlig unzureichenden Maßnahmen vor allem eine kritische Öffentlichkeit, um Wirtschaft und Politik so auszurichten, dass die Sklaverei auch in der Wirklichkeit endgültig im Mülleimer der Geschichte landet.
Dem Begriff »moderne Sklaverei« mangelt es an einer allgemein anerkannten klaren Definition. Im britischen Modern Slavery Act ist allgemein von Sklaverei, Knechtschaft, Menschenhandel und Ausbeutung die Rede, die alle unter moderne Sklaverei fallen. Das entspricht den internationalen Abkommen. Im Konkreten gelten Einschränkungen, die, wie etwa im Falle der Ausbeutung, den Begriff schon fast konterkarieren. Die unklaren Begrifflichkeiten werden von Experten und Aktivistinnen noch ergänzt, die moderne Sklaverei mal eng umschreiben wie der Soziologe Oscar Patterson, der von der »dauernden, gewalttätigen Herrschaft über entwurzelte und ihrer Würde beraubte Personen« spricht, oder ihn so weit fassen, dass er zu einem Füllbecken aller Formen von Ausbeutung wird und damit kaum mehr greifbar ist. Kara umschreibt die »Essenz« der modernen Sklaverei: »Sklaverei ist ein System zur Entehrung und Herabwürdigung von arbeitenden Menschen durch Zwang und Gewalt unter Bedingungen, die diese entmenschlichen.« Menschenhandel sei deshalb, wie einst der Sklavenhandel, nicht als Sklaverei an sich, sondern als Prozess zu betrachten, der einen Menschen in die Sklaverei führen könne.
Im Kern hat sich an der Sklaverei nicht allzu viel verändert. So ist die uralte Form der Schuldknechtschaft bis heute am weitesten verbreitet, mit der Menschen gezwungen werden, vermeintliche oder echte Schulden durch Zwangsarbeit abzutragen. Was die geknechteten Bauern im antiken Griechenland zum Kampf für Freiheit und Demokratie bewog, war auch in den Feudalgesellschaften des europäischen Mittelalters, in den Mogulherrschaften Indiens oder in der japanischen Edo-Zeit vom 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe und findet sich heute auf allen Kontinenten. Die Sklaverei scheint nach allem, was man heute weiß, eine anthropologische Konstante zu sein. Sklaverei und Gewalt gehören untrennbar zusammen. Auch die moderne Sklaverei ist von Gewalt geprägt.
Die Schätzungen zur Anzahl der weltweit Versklavten schwanken zwischen zwanzig Millionen Menschen (Internationale Arbeitsorganisation, 2012) und über vierzig Millionen (Walk Free Foundation, 2016). Die folgenden Angaben beziehen sich auf die Walk Free Foundation, die in ihrem jährlich erscheinenden »Global Slavery Index« von einem Frauenanteil von 71 Prozent spricht. Rund zehn Millionen Versklavte sind minderjährig. 15,4 Millionen Menschen, vorwiegend Frauen, leben in erzwungenen Ehen, mehr als ein Drittel von ihnen sind bei ihrer Verheiratung noch Kinder. Knapp 25 Millionen arbeiten unter Zwang, auf Baustellen, in geheimen Fabriken, auf Bauernhöfen, Fischerbooten oder in Bordellen. Ihre Ausbeuter sind sowohl Private als auch Staaten. Manchmal leben sie in Schuldknechtschaft, manchmal leiden sie unter einer Strafmaßnahme eines diktatorischen Staates, manchmal unter den Gegebenheiten einer Klassengesellschaft. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter produzieren Lebensmittel, die wir essen, und Güter, die wir konsumieren. Sein widerwärtigstes Gesicht zeigt der Menschenhandel in der Prostitution, doch auch etwa junge Fußballtalente aus Afrika, Flüchtlinge, Hausangestellte oder Bauarbeiter sind betroffen. Die Sklaverei beschränkt sich längst nicht auf Staaten, die wir gerne als »rückständig« betrachten. In Europa leben vier von tausend Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen, in Afrika sind es knapp doppelt so viele, im weltweiten Durchschnitt 5,4. Zwangsarbeit ist in Europa mit einem Wert von 3,6 von tausend weiter verbreitet als in Afrika mit 2,8.
Gier ist die Motivation von Sklavenhaltern. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt den Profit durch Sklaverei weltweit auf hundertfünfzig Milliarden Dollar. Das hat auch mit den radikal veränderten Rahmenbedingungen zu tun. Kara zeigt, dass die Voraussetzungen, mit Sklaven richtig viel Geld zu verdienen, heute viel besser sind als zu Zeiten des transatlantischen Sklavenhandels. So lassen sich Sklavinnen und Sklaven mit modernen Verkehrsmitteln wesentlich günstiger – und sicherer – transportieren, und die Möglichkeiten, ihre Arbeitskraft auszubeuten, sind vielfältiger geworden. Die hohen Investitionskosten von damals hatten mit der lebenslangen Sklavenhaltung zu tun, während die meisten Sklavinnen und Sklaven heute in Zeiträumen von Monaten bis Jahren ausgebeutet und dann ihrem Schicksal überlassen werden. Ging es einst vor allem um die Plantagenlandwirtschaft, die Hausarbeit und den Bausektor, so werden Sklavinnen und Sklaven heute in Dutzenden Industrien und vielfältigen Wertschöpfungsketten ausgebeutet. Das senkt die Kosten im Vergleich zu früher auf ein Zehntel, während der Gewinn sich bis zum Fünffachen vervielfacht hat. Für einen investierten Dollar kann man pro Jahr bis zu tausend verdienen. Noch nie war die Sklaverei so profitabel wie heute. Hinzu kommt, dass das Risiko, bei diesem weltweit verbotenen Tun erwischt zu werden, »alarmierend gering« ist, wie Kara schreibt. Überall nimmt eine schweigende Mehrheit die Sklaverei als gegeben hin und schaut weg.
Die Vereinten Nationen haben 2015 ihre nachhaltigen Entwicklungsziele für 2030 neu definiert. Unter Punkt 8.7 heißt es: »Sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um Zwangsarbeit abzuschaffen, moderne Sklaverei und Menschenhandel zu beenden und das Verbot und die Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, einschließlich der Einziehung und des Einsatzes von Kindersoldaten, sicherstellen und bis 2025 jeder Form von Kinderarbeit ein Ende setzen.« Längst steht zu befürchten, dass dieses Ziel weit verfehlt werden wird. Das liegt unter anderem daran, dass die Staaten noch nicht einmal dazu verpflichtet sind, sich regelmäßig zu ihrem Stand zu äußern. Die Berichterstattung ist freiwillig. Minimale Fortschritte attestiert der Global Slavery Index 2019, von vier auf fünf Punkte; zehn sind erstrebenswert. Erst 31 Staaten haben das 2014 von 183 Ländern unterzeichnete Protokoll der Internationalen Arbeitsorganisation zur Abschaffung der Zwangsarbeit ratifiziert. In 96 Ländern ist diese in der Privatwirtschaft nach wie vor nicht strafbar – bei 16 Millionen Betroffenen. In 133 Staaten sind Zwangsehen legal. Von den über vierzig Millionen Sklavinnen und Sklaven weltweit ist nur ein kleiner Bruchteil überhaupt identifiziert. Die große Mehrheit lebt in einer Schattenwelt, ungeschützt von überforderten, korrupten Behörden, die ihrerseits viel zu wenig Rückhalt in Politik und Gesellschaft haben.
Wir beleuchten in den folgenden Kapiteln die moderne Sklaverei in ihren Formen, wie sie von der britischen Nichtregierungsorganisation Anti-Slavery definiert werden: Menschenhandel und Sklaverei im Haushalt, Schuldknechtschaft, Kindersklaverei, Zwangsehen, Kasten- oder Klassensklaverei, Zwangsarbeit und Sklaverei in Wertschöpfungsketten. Und zwar, um zu zeigen, dass moderne Sklaverei uns alle angeht, um jenen eine Stimme zu geben, die kaum gehört werden, um zu beschreiben, was manchmal kaum zu beschreiben ist, und um über die Betroffenheit hinaus zu analysieren, warum dies geschieht. Doch wir möchten auch Perspektiven zur Überwindung der Sklaverei aufzeigen. Die beiden letzten Kapitel widmen sich der Frage nach einem Weg aus der modernen Sklaverei.

Sklaverei im Haushalt und Menschenhandel

»Das ist die Sklaverei des 21. Jahrhunderts«
»Alle schluckten Medikamente gegen Depressionen. Und das mit Grund«, erklärt Elisabeth Buder. Sie wohnt dreißig Kilometer außerhalb Berlins. Seit 2006 arbeitet sie periodisch in der Schweiz, zuerst in Hotels, seit 2013 als Seniorenbetreuerin. Wegen Corona musste sie mehrere Wochen am Stück arbeiten, weil die Frau, die sie ablösen sollte, nicht einreisen konnte. Das war für sie eine Ausnahme. Für andere Frauen aus Rumänien, Polen, der Slowakei oder einem anderen osteuropäischen Land ist es das nicht. Diese betreuen manchmal Seniorinnen und Senioren drei Monate am Stück, und sie haben in der Zeit kaum einen freien Tag. »24 Stunden live in«-Betreuung wird diese Dienstleistung für betagte Menschen, die ihren Haushalt nicht mehr selbst führen können, genannt. Die Betreuerinnen, es sind fast ausschließlich Frauen, wohnen bei den Betreuten und sind rund um die Uhr verfügbar. Buder fährt fort: »Es entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, was sehr schön sein kann. Aber man belastet uns auch mit Familienstreitigkeiten. Wir bekommen schreckliche Geschichten mit, nicht selten auch häusliche Gewalt. Manchmal lassen unsere Kunden, wie wir sagen, ihre Frustrationen und die Wut über ihre Hilflosigkeit an uns aus.« Etwas empfindet sie als besonders demütigend. »Ich habe mehrfach erlebt, dass Kunden mit ihren Millionen prahlten, die sie auf dem Konto haben, und sich dann über die angeblich zu hohen Betreuungskosten beklagten. Dann kam der Vorwurf, wir seien doch nur des Geldes wegen hier.« 7400 Franken, die sie pro Monat der Agentur zahlen müssen, seien ihnen zu viel – und das für einen Rundumdienst inklusive Hintern putzen und der menschlichen Klagemauer. »Manchmal ist auch Sterbehilfe dabei.« Von den 7400 Franken sehen die Betreuerinnen das Wenigste. Das Ausmaß der Ausbeutung sei beschämend. Buder arbeitete für eine Personalverleihfirma in der Ostschweiz. Als sie von einem Klienten wiederholt sexuell belästigt wurde und deshalb die Stelle wechseln wollte, wurde sie entlassen. Für drei Wochen Arbeit erhielt sie 1700 Franken; auf einen Monat gerechnet sind das nicht einmal 2500 Franken. Verrechnet werden im Stundenlohn pro Tag 5,4 Stunden Arbeit sowie drei Stunden Bereitschaft. Solche Gehälter sind in der Branche nichts Ungewöhnliches. Eine andere Agentur, die »faire Löhne« verspricht, offeriert ihren Kunden auf ihrer Webseite volle Transparenz mit einem Lohnrechner. Die Seniorenbetreuerin dürfe für die 24-Stunden-Betreuung mit 2800 Franken monatlich rechnen.
Seit 2016 gibt es für die Angestellten der rund fünfzig Schweizer Betreuungsagenturen, die über eine Bewilligung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) verfügen müssen, mit dem »Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih« ein mit der Gewerkschaft Unia ausgehandeltes Regelwerk. Es bestimmt die maximale Arbeitszeit, 42 Stunden pro Woche, eine Überzeitregelung mit 25 Prozent Zuschlag an Werktagen und 50 Prozent an Sonntagen, einen freien Tag pro Woche, einen 13. Monatslohn und bezahlte Ferien sowie für Ungelernte einen Mindestlohn von 3550 Franken pro Monat oder 19,48 Schweizer Franken pro Stunde. Für Kost und Logis, wobei die Mahlzeiten in der Regel von den Seniorenbetreuerinnen selbst zubereitet werden, werden 999 Franken abgezogen. Die Gehaltsangaben von Elisabeth Buder entsprechen demnach, wenn man die Sozialabgaben berücksichtigt, durchaus den Vorgaben des Gesamtarbeitsvertrages. Doch nach unten ist die Lohnskala weit, weit offen. Barbara Lienhard, Projektleiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, weiß von Agenturen, die eine Rundumbetreuung schon ab 1999 Franken im Monat anbieten. »Das ist nicht nur extrem ausbeuterisch, sondern auch schlicht illegal.«
Doch selbst wenn die Löhne dem Buchstaben des Gesamtarbeitsvertrages entsprechen mögen, legitim ist die Arbeit der Seniorenbetreuerinnen damit noch lange nicht. »Ist es nicht fantastisch, eine Frau 24 Stunden am Tag zur Verfügung zu haben und sie nur sieben Stunden dafür zu bezahlen?«, schreibt eine anonym bleiben wollende 57-jährige polnische Seniorenbetreuerin in einer E-Mail. »Natürlich formalisiert die Schweiz alles schön. Doch in diesem Arrangement gibt es keine Chance für Privatsphäre, kein soziales Leben, kein persönliches Leben. In einem fremden Land fühle ich mich erniedrigt als Multitasking-Dienstmädchen. Das ist die Sklaverei des 21. Jahrhunderts.«
In Buders Arbeitsbeschreibung steht: »Keine bezahlte Arbeitszeit sind das gemeinsame Essen, das gemeinsamen Fernsehen oder gewisse Haushaltaufgaben.« Es ist aber fast unmöglich, einer hilfsbedürftigen Person, mit der man über Wochen unter einem gemeinsamen Dach lebt, Bitten auszuschlagen und zu sagen, die Arbeitszeit sei abgelaufen. Zu Buders Kundinnen gehörte eine Frau, die künstlich ernährt werden musste. Das dauerte pro Mahlzeit drei Stunden, bei zwei Mahlzeiten also alleine sechs Stunden, die eine ständige Anwesenheit verlangten, wegen der Gefahr von Verstopfungen oder des Erbrechens. »Dann muss das Haus geputzt, die Windeln müssen gewechselt, Medikamente verabreicht und Einkäufe getätigt werden. Arztbesuche sind dabei und vieles mehr.« Sie hat Kunden mit Parkinson, Alkoholkranke, Demente, Diabetiker, psychisch Kranke und andere mit akuten gesundheitlichen Problemen betreut. Fatime Zekiri von der Gewerkschaft Unia in St. Gallen bestätigt Buders Angaben. Die Agentur sei kein Einzelfall. Viele Agenturen, die eine 24-Stunden-Betreuung anbieten, würden Versprechen machen, die gar nicht erfüllbar seien und oft die Kompetenzen des Personals überstiegen. Wo kein Kläger, da keine Klage. Laut Zekiri rekrutierten Scouts ihre Angestellten oft in osteuropäischen Ländern. »Einerseits sind diese Frauen auf das Geld angewiesen, anderseits haben sie von ihren Rechten oft keine Ahnung. Also lassen sie sich zu viel bieten.« Wenn sich doch jemand wehrt, bleibe dies meist ein Einzelfall, weil die Angestellten einer Agentur keinen Kontakt untereinander hätten.
Der Gesamtarbeitsvertrag setzt die Grenzen der Betreuungsarbeit. Diese gilt für »einfache Handreichungen bei der Körperpflege«. Alles, was darüber hinaus geht, ist entweder »Grundpflege«, worunter das Anlegen von Stützstrümpfen fällt, oder »Gesundheitspflege«, von der Verabreichung von Medikamenten bis zur Wundversorgung. Diese beiden Aufgaben müssen zwingend von ausgebildetem Personal mit einer Berufsbewilligung erbracht werden. In der Praxis verschwimmen, wie das Beispiel von Buder zeigt, diese Grenzen bis zur Unkenntlichkeit. Die Kompetenzen eignete sich Buder nach und nach in Kursen an, die sie ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Historischer Abriss zur Sklaverei
  7. Die Gesichter der modernen Sklaverei
  8. Wege zur Überwindung der modernen Ausbeutung und Sklaverei
  9. Schluss
  10. Literatur
  11. Dank
  12. Über den Autor