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WAS IST LIEBE?
Du neigst so sehr zur Liebe wie die Sonne zum Strahlen; sie ist die beglückendste und natürlichste Tätigkeit der Seele.
— Thomas Traherne, Centuries of Meditations
Liebe ist zu schwer fassbar und zu individuell, um eine Definition zuzulassen. Doch wir können fragen: „Was kann Liebe sein?“ Dies ist keine Definition, sondern eine Aufforderung zu einer immer wieder erneuerten Einladung, etwas, das zu betreten wir immer wieder wagen, wie Alice, die im Wunderland von einem Abenteuer zum nächsten fortschreitet
Wir haben Liebe beschrieben, indem wir ihren wesentlichsten Bestandteil benannt haben: Verbindung. Das englische Wort für Verbindung, connection, basiert auf zwei lateinischen Wörtern: con, was „zusammen“ bedeutet, und nectere, das „binden“ oder „knüpfen“ bedeutet. Ursprünglich wurde das Wort anders geschrieben: connexion, um die Vergangenheitsform des Verbs nectere widerzuspiegeln, die nexus lautet. Liebe ist ein Nexus, eine Verknüpfung, die ein breites Spektrum abdecken kann. Sie kann vielfältige Formen annehmen, vom Verschicken eines freundlichen Briefes über sexuelle Intimität bis hin zur mystischer Einheit.
Wir sind soziale Wesen, deshalb ist Verbindung für unser Überleben wichtig. Wir stellen uns vor, dass Verbindung über unser physisches Leben hinausgehen kann, und daher findet sie sich auch in unserer Vorstellung von einem Leben nach dem Tode im Himmel wieder. Wir sehen den Himmel als einen Ort an, an dem wir mit den von uns Geliebten vereint sein werden. Das macht die Hölle zu einem Ort des Getrenntseins, des Ausschlusses und der Exkommunikation. Wir erinnern uns an die Worte des Starez Sossima in Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow: „Hölle ist das Leiden daran, dass man nicht mehr lieben kann.“ Dies macht uns die Metapher der Hölle verständlicher: Es geht mehr um eine Trauer um unseren Mangel an Liebe als um eine Bestrafung dafür, dass wir nicht liebevoll sind.
Liebe ist eine Verbindung, die fürsorglich ist, gute Absichten hegt, Freiheit respektiert und wirklich empfindsam für die Bedürfnisse anderer ist, diese sogar ebenso wichtig nimmt wie die eigenen. Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse anderer reduziert unser eigenes Gefühl der Wichtigkeit. Liebe hat wirklich unglaubliche Macht, uns zu helfen, das Ego loszulassen!
Wenn Liebe wechselseitig ist, dann begrüßen wir ein positives Entgegenkommen von anderen und weiten positive Verbindungen zu anderen aus. Eine Liebesbeziehung muss nicht unbedingt reziprok oder symmetrisch sein. Sie kann gleichwertig zwischen zwei Menschen sein oder intensiver bei dem einen als bei dem anderen. Die Bereitschaft, jemanden zu lieben, der einen nicht gleichermaßen wiederliebt, ist ein Beispiel für die Großzügigkeit der Liebe. Sie ist tatsächlich ein spirituelles Voranschreiten zu einer Verpflichtung, wie ich sie in den folgenden Zeilen als persönliche Affirmation formuliert habe:
Kann die Liebe zwischen uns nicht gleichgewichtig sein,
so sei die Position der größeren von beiden Lieben mein.
Das Lieben wird sich dann nicht wie ein Geben anfühlen, wie es in der Welt des Egos von quid pro quo [„dies für das“] der Fall ist. Ich bin dann mein wahres Ich, Liebe, die einfach nur ist.
Eine fürsorgliche Verbindung schließt Altruismus, Zuneigung zu einem Menschen, Interesse an dem, was ihm widerfährt, Wohlwollen, Verfügbarkeit für ihn in Zeiten der Not und das Gefühl und das Mitteilen von Herzensgüte ein. All dies erfordert eine Offenheit für die Möglichkeit, dass wir etwas von unserer eigenen Bequemlichkeit für das Wohlbefinden des anderen opfern.
Wir bitten unseren Partner oder einen anderen für uns bedeutsamen Menschen um vier Versprechen der Liebe. Die Antwort „Ja“ auf jede dieser Bitten gibt uns den Beweis für eine fürsorgliche Verbindung. Jedes Ja kann zu einer Verpflichtung zum Aufbau von wahrem Vertrauen und angstfreier Liebe werden:
Bist du für mich da und wie zeigt sich das?
Sorgst du dich um mich und wie zeigt sich das?
Bedeute ich dir etwas und wie zeigt sich das?
Interessierst du dich für mich und wie zeigt sich das?
Lieben bedeutet auch, uns in eine verletzliche Position zu begeben; wir zeigen unsere Liebe und hoffen, sie wird angenommen. Wir legen unser Herz bloß und hoffen darauf, dass es nicht misshandelt wird.
Wenn die Liebe sich ausweitet, konzentriert sie sich über unsere Beziehung hinaus auf Eintracht und Versöhnung. Unser Bestreben mag sich von dem Interesse an der Verbundenheit anderer mit uns zur Sorge für die harmonische Verbundenheit zwischen all unseren Freunden oder sogar der ganzen Menschheit ausweiten. Diese altruistische Anteilnahme kann uns ein Gefühl von Zufriedenheit schenken, wie wir es von Edward IV. in Shakespeares Richard III. ausgedrückt finden:
Die Seele scheidet friedlich nun zum Himmel,
Da ich den Freunden Frieden gab auf Erden.3
Weitet sich die Liebe in unserem Leben aus, so wird sie zudem zu einer Kraft des Wandels. Wenn wir von Liebe dazu angespornt werden, ein Ziel zu verfolgen, so ist es wahrscheinlicher, dass wir ein erfolgreiches Ergebnis erzielen. Das liegt daran, dass Situationen und Menschen am besten auf Liebe reagieren, eine sanfte, aber mächtige Energie. Wir sehen dies in unseren persönlichen Beziehungen. Geduldige und andauernde Liebe zu zeigen hilft jemandem mehr, sich zu ändern, als es Nörgeln und Forderungen jemals tun können.
Genau das Gleiche gilt in einem politischen Forum. Eine Antikriegsbewegung hat mehr Erfolg, wenn jene, die leidenschaftlich den Frieden vertreten, zeigen, dass sie von einer echten liebenden Sorge um die Menschheit motiviert sind und nicht einfach nur davon, gegen die Politik eines Staates zu protestieren. Dennoch verwenden wir weder in persönlichen Beziehungen noch in politischen Angelegenheiten Liebe als eine Strategie. Das wäre eine Form der Manipulation. Wir nehmen einfach zur Kenntnis, dass Liebe eine ihr eigene Kraft besitzt. Sie wirkt erlösend, weil sie vergibt und dadurch rehabilitiert. Sie transformiert die Herzen und die Art und Weise, wie die Welt funktioniert. Sie verändert die Dinge.
Liebe ist eine Kraft, aber manchmal wird sie als Gefühl bezeichnet. Wenn wir uns Liebe als ein Gefühl vorstellen, dann mögen wir enttäuscht sein, weil wir feststellen müssen, dass wir ein solches Gefühl nicht ständig aufrechterhalten können. Ein Gefühl ist eine intensive, unmittelbare, sinnlich-körperliche Erfahrung. Gefühle haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende; Liebe ist hingegen dauerhaft. Gefühle sind Reaktionen auf bestimmte Stimuli; Liebe ist gleichzeitig der Stimulus und die Reaktion. Liebe kann ein Seinszustand, eine zärtliche Empfindung, eine beständige Verbundenheit sein. All diese besitzen eine dauerhafte Qualität. Insofern schließt Liebe eher Gefühle mit ein und geschieht mit ihnen, als dass sie selbst eines ist, da sie über die Momente des Ausdrucks hinaus andauert.
Liebe kann auf viele Arten verstanden werden, doch sechs Begriffe ragen heraus: Liebe als natürliche Begabung, als Eigenschaft, als Verbindlichkeit, als Aufgabe, als Gnade und als Übung.
LIEBE ALS NATÜRLICHE BEGABUNG
Die natürliche Begabung zur Liebe ist unser Potenzial, Verbindungen zu knüpfen und uns ihnen zu verpflichten. Jeder von uns besitzt die Fähigkeit, vollkommen zu lieben, und kann jederzeit damit beginnen, insbesondere jetzt und heute. Wir verlieren niemals unsere Kraft und unsere Fähigkeit, Liebe in unser Leben hineinzulassen und uns liebevoll zu verhalten. Das Vermögen zu lieben kann nicht durch unsere Vergangenheit annulliert oder ausgelöscht werden, ganz gleich welchen Schaden unsere Erfahrungen angerichtet haben mögen. Was geschädigt werden kann, ist unsere Art und Weise, Liebe zu zeigen, und unsere Vorstellungen davon, wie sie aussehen sollte. Wie wenig wir bislang geliebt haben, ist nicht maßgebend dafür, wie viel wir heute oder in Zukunft lieben können.
LIEBE ALS EIGENSCHAFT
Als Eigenschaft ist Liebe eine Art und Weise, sich gegenüber anderen zu verhalten. Es ist kein Nennwort, das sich auf eine Einheit oder Abstraktion bezieht. Wir können Liebe oder eine andere Eigenschaft nicht vergegenständlichen. Es ist wie bei einem Adverb in der Grammatik. Es zeigt, wie etwas getan wird. So zeigt zum Beispiel „Ich habe sie liebevoll berührt“, wie ich sie berührt habe.
Die Qualität unserer Liebe nimmt zu, wenn wir sie in unserem Verhalten tiefer und großzügiger zeigen. Die Quantität oder das Ausmaß unserer Liebe wächst in dem Maße, in dem wir sie mehr Menschen gegenüber empfinden und zeigen – von Nahestehenden und Geliebten bis hin zu allen Wesen in der Welt.
Es gibt kein Mitgefühl, keine Liebe oder Frieden auf eine für sich allein stehende oder abstrakte Weise. Sie sind menschliche Eigenschaften, und wir sind wahrhaftig Menschen, wenn sie unsere natürliche Art und Weise sind, in dieser Welt zu sein. Unsere Menschlichkeit ist vollkommen, wenn wir Mitgefühl sind, Liebe sind, Frieden sind. Dann zeigen wir sie überall und gegenüber jedem. Der mystische Dichter William Blake fasst dies wunderbar zusammen:
Aus Menschenherz die Gnade fließt,
Mitleid zeigt menschliches Gesicht,
Den Menschen Liebe göttlich zeigt,
Und Frieden ist sein schönstes Kleid.4
LIEBE ALS VERBINDLICHKEIT
Als Verbindlichkeit ist Liebe wie ein Verb. Sie zeigt fortwährende Hingabe daran, in aufrichtiger Weise und in bester Absicht für das Wohl anderer zu handeln. Wir verpflichten uns, bedingungslos zu lieben. Infolgedessen wollen wir das Beste für andere, ungeachtet dessen, wie sie uns behandeln, wobei allerdings unsere Verpflichtung, uns selbst zu lieben, es nich...