Abstract
Based on previously unpublished archival sources, such as Riehl’s correspondence with Heinrich Rickert, Friedrich Jodl, Bartholomäus von Carneri, Hugo Münsterberg, Wilhelm Wundt, Eduard Spranger, Ernst Mach, and Hans Vaihinger, as well as the files of the universities of Graz, Vienna, Freiburg, Halle, Kiel, and Berlin, the present study reconstructs Riehl’s life, work, and impact. This reveals two things: Firstly, with the first edition of the Philosophical Criticism, published in the 1870s and 1880s, Alois Riehl became the founder and most important representative of realistic criticism, and rose to one of the leading figures in German-speaking philosophy at the turn of the century. Secondly, Riehl proves to be a thinker who was deeply influenced by humanistic ideals and an enlightened spirit, even if these took on an ambivalent form during the years of the First World War.
Einleitung
Alois Riehl war ein Denker, der Zeit seines Lebens realistische Positionen vertreten hat. Von diesen hat er im Zuge seiner philosophischen Entwicklung nur wenige aufgegeben, obwohl er beständig an den Grundfesten seines Realismus arbeitete. Sein akademischer Werdegang umfasst eine Spanne von mehr als 40 Jahren philosophischer Textproduktion, die sich ausgehend von seinen Wirkungsstätten in sechs Hauptphasen unterteilen lässt: Beginnend mit seiner Ausbildung, der frühen Grazer Phase, hin zu den Freiburger Jahren sowie der Kieler und Hallenser Zeit, bis zu den späten Jahren in Berlin. Die vielen Standortwechsel, der frühe Tod seiner ersten Frau und seiner Kinder sowie der 1914 beginnende Erste Weltkrieg haben viele der philosophischen Projekte Riehls verzögert und darin Spuren hinterlassen.
Riehl zählte gegen Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den führenden Denkern seiner Zeit. Aus diesem Grund haben bereits einige seiner Zeitgenossen in den 20er und 30er Jahren Riehls Werdegang und philosophisches Schaffen rekonstruiert. Diese Darstellungen zeichnen sich allerdings überwiegend durch den Versuch aus, Riehls Philosophie in einer bestimmten Weise zu kontextualisieren und ihn damit über die Gebühr als Empiristen bzw. Positivisten zu verstehen oder seine neukantische Prägung herauszustellen. Bis heute ist die Rezeptionsgeschichte von diesem Antagonismus geprägt, der allerdings den Blick auf den Philosophen und seine Errungenschaften eher verstellt, als zugänglich macht. Fast 100 Jahre nach seinem Tod, am 21. November 1924, ist es basierend auf der Auswertung bis dato unveröffentlichter historischer Quellen möglich, den Werdegang Riehls werkgeschichtlich und quellenbasiert neu aufzuarbeiten. Neben den veröffentlichten Schriften erlauben der Briefverkehr mit Heinrich Rickert, Friedrich Jodl, Bartholomäus von Carneri, Hugo Münsterberg, Wilhelm Wundt, Eduard Spranger, Ernst Mach und Hans Vaihinger sowie die Aktenmaterialien der Universitäten Graz, Wien, Freiburg, Halle, Kiel und Berlin ein tiefergehendes Verständnis der Zeit und der dadurch entstandenen Prägungen sowie Ausformungen von Riehls Denken.
1 Philosophische Ausbildung und erste eigene Schritte
Alois Riehl wurde am 27. April 1844 in Bozen geboren. Als zweiter Sohn der Gastwirte und Grundbesitzer Josef Riehl und Maria (geb. Kehlauer) wuchs er unter begüterten Umständen auf. Sein nach dem Vater benannter älterer Bruder erlangte ebenfalls Bekanntheit: Josef Riehl war ein bedeutender Bauingenieur und Bauunternehmer, der maßgeblich an der Erschließung Tirols in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitwirkte.1 Riehls lebenslange Verbundenheit mit Südtirol, das er immer wieder besuchte, zeigt sich unter anderem darin, dass sich Riehl bisweilen scherzhaft selbst als Tiroler Bauer2 bezeichnete.
Riehl studierte an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Graz Philosophie und Geschichte. Die Zeit in München, wo er insgesamt 3 Semester studierte, dürfte ihn nachhaltig beeinflusst haben. Dort hörte er Vorlesungen bei Wilhelm von Giesebrecht, Moriz Carrière sowie Jakob Frohschammer und verkehrte im Haus von Wilhelm Heinrich Riehl.3 In Wien, wo er 1863 studiert, hörte er auch Vorlesungen der Medizin und insbesondere der Physiologie. Während seiner Studienzeit arbeitete er vorübergehend in einem physiologischen Laboratorium eines dort ansässigen Professors für Physiologie4 – wahrscheinlich bei Carl Ludwig oder Ernst Wilhelm Brücke. In Graz schloss Riehl 1866 das Lehramtsstudium ab und begann am Akademischen Gymnasium sein Probejahr, das er allerdings abbrechen musste, um sich von einer hartnäckigen Krankheit zu erholen. Er kehrte deshalb nach Tirol zurück, wo er am 4. Jänner 1868 in Innsbruck zum Doktor der Philosophie promovierte, um anschließend eine Stelle als Gymnasiallehrer in Klagenfurt anzunehmen.5 Aus diesen Jahren ist bereits ein Vortrag, der im Museum von Klagenfurt gehalten wurde, dokumentiert, in dem sich Riehl mit dem Thema der Willensfreiheit auseinandersetzt.6 In die kurze Zeit als Gymnasiallehrer fällt auch die Eheschließung mit Pauline („Paula“) Polster. Mit ihr hatte er drei Söhne und eine Tochter. Zwei der Söhne sind namentlich bekannt und hießen Sigmund und Alois. Seine Tochter hieß Helene.7 Die beiden älteren Söhne sterben noch im Kindesalter, sein jüngster Sohn und seine Tochter werden zum großen Leidwesen Riehls auch kein hohes Alter erreichen und beide noch Jahrzehnte vor Riehl aus dem Leben scheiden.8
Bereits 1870 gelang Riehl mit der Schrift
[1] | Realistische Grundzüge. Eine philosophische Abhandlung der allgemeinen und nothwendigen Erfahrungsbegriffe, Graz: Leuschner & Lubensky 1870, |
die noch im selben Jahr verlegt wurde, die Habilitation zum Privatdozenten an der Universität Graz.
Mit Blick auf die akademische Ausbildung Riehls ist hervorzuheben, dass es in Österreich seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine staatlich gesteuerte Bildungspolitik an den Universitäten gab, die eine mit der Monarchie kompatible Staatsphilosophie ermöglichen...