Kapitel II
DIE KINDERSTUBE EINES SENDERS
Proben, Pech und Pannen
Intendant Bernhard F. Rohe war nicht der Einzige, der sich mit der Bildebene erst einmal anfreunden musste. So wie ich kam ein Großteil des Teams vom Hörfunk, wo man völlig ohne Maske, ohne Kamera und notfalls auch ohne Licht auskam.
Aber wir lernten schnell, „in Bildern zu denken“, und prägten uns die Besonderheiten der Ost-West-Berichterstattung ein. Keine Details über Fluchten aus dem Osten, keine Personendaten, die eine Identifizierung des Flüchtlings erleichtern würden. Solche Infos konnten zu Repressalien bei zurückgebliebenen Freunden und Verwandten führen. Wir wollten der Stasi ja nicht die Arbeit erleichtern.
Zur generellen Themen-Auswahl hatte RIAS-TV-Direktor Gerhard Besserer verlangt: „Informationen, die im Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten in der DDR stehen“.
Das hat nicht immer funktioniert. Bereits in der ersten Probesendung strahlten wir ein Feature über die Logistik der Feinschmecker-Etage des „KaDeWe“ aus. Der Autor, Eberhard Sucker, malte mit Langusten, Austern, Blesshühnern und exotischen Früchten ein Bild vom Leben, wie es Gott in Frankreich unterstellt wird.
Das alles war auch in West-Deutschland nicht an jeder Ecke erhältlich, in Pariser Markthallen – wo die „KaDeWe-Teams“ einkauften – schon. Es war ein Blick auf den reich gedeckten Tisch in einen Paradiesgarten. Ein toller Film, aber er zeigte nicht unbedingt das, was im „Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten in der DDR“ stand.
Ich konnte mir vorstellen, wie unseren Zuschauern jenseits der Mauer das Wasser im Munde gefror, wenn sie am nächsten Tag in ihrem „Konsum“ oder „HO“ einkaufen mussten. Diese Geschäfte nannte man im DDR-Jargon auch gerne „Plattenladen“ oder „Fliesengeschäft“, weil das „Warenangebot“ vor allem aus Fliesen an der Wand und „Sichtelementen“ (Plakaten, Werbetafeln, Aufstellern) bestand. Und selbst die Fliesen konnte man nicht kaufen.
Gummistiefel-Zeit
Die erste (ausgestrahlte) Testsendung wurde von Nina Ruge und Günther Neufeldt moderiert – ein Paar wie ein Bild. Aber wie’s drinnen aussah? Nina Ruge erinnert sich: „Wie fern – wie nah! Juli 1988, die erste Testsendung von RIAS-TV; sie ist im Internet gut zu finden. Mein Gott, wie fern die Themen der Tagespolitik! ,UdSSR‘, ,Gorbatschow‘, die ,Mauer‘, dazu das Capitol und die dröhnende Nationalhymne zum amerikanischen Nationalfeiertag: für unser Team damals Adrenalin pur.“
32 Jahre nach der ersten Testsendung erinnert sich Nina Ruge auch an „Haariges“: „Und wenn ich die junge Nina da sehe, 31 Jahre alt mit XXL-Jackett und toupierter Helm-Frisur, mühsam die Aufregung überspielend – neben einem Günther Neufeldt, Ausbund an Souveränität … Da denke ich: Mein Gott, die erste Sendung deines Lebens, die erste von Tausenden – zum Glück habe ich journalistisch einiges dazu gelernt! Schon ein Jahr später der Mauerfall – wir durften über das Unvorstellbare berichten, über das Ende der Eiszeit als tägliches Topthema. Niemand war journalistisch näher dran als wir. Für mich eine Zeit der Extreme, ich erinnere mich an kaum etwas anderes als an das Ringen um die ideale Formulierung, in Redaktionen, TV-Studios, in Berlin und dann im ZDF in Mainz.
Die Sendung lief reibungslos. Für Nina und die junge Crew war sie „ein Etappensieg im Aufbau des Senders. Gummistiefel-Zeit. Jeder machte alles in diesen Werksräumen der Weddinger Voltastr. 5, die mal AEG-Gelände waren.“
Übrigens, der „Ausbund an Souveränität“, Günther Neufeldt, hatte beim NDR in Hannover lange im Radio moderiert und bezeichnet sich selbst als einen „eher nervösen Typ“. „Aber“, sagte er mir jetzt, „wenn es kritisch wird, was ja oft in Livesendungen passiert, stellt sich bei mir Ruhe ein. Ich weiß nicht, warum, aber wenn es ganz hart kommt, wenn es haarig wird, kippt das bei mir um in Ruhe und Konzentration.“ Beneidenswert.
On air für die DDR
Und dann gingen wir regulär und zu festen Zeiten „on air“. Mit einem zweistelligen Millionenbetrag aus Bonn und Washington im Rücken startete RIAS-TV am Montag, 22. August 1988, 17:50 Uhr, seine aktuellen Informnationssendungen für Berlin und die DDR.4
Die Sendeleistung ermöglichte eine Reichweite bis in den Raum Wittenberg-Dessau. Den Sendeplatz im Kanal 25 mussten wir uns allerdings mit „Sat.1“ teilen.
Die erste Sendung am Abend leitete – Ehrensache – Chefredakteur Dr. Wolfgang Krüger höchstselbst. Stolz, aber sichtlich aufgeregt, gab er seine Anweisungen: „Schalte nach Washington, bitte.“ In unserem dortigen Studio hatte USA-Korrespondent Rüdiger Lentz einen Beitrag produziert, der nun eingespielt werden sollte. Letzter Satz der Anmoderation: „Wir haben die verfügbaren Fakten einmal zusammengefasst.“
Rums, Kreisch, Bildsalat. Die „verfügbaren Fakten“ hatten sich buchstäblich in ihre Pixel aufgelöst. Macht nichts. „Live ist Life“, wie die Band „Opus“ schmetterte. Krüger blieb Herr im Regieraum: „Wir schalten dann zu Anne Preun ins Berliner Olympiastadion. Anne?“
Anne war nicht da, wie sollte sie auch, keiner hatte sie vorgewarnt und im Ablauf war sie erst später vorgesehen. Assistentin Martina Roth rief nach „Anne!!!“. Das war klar und deutlich bis Dessau zu hören. Anne spurtet zur Kamera, schreit nach Kameramann „Pitt!!!“ und versichert sodann treuherzig: „Kein Bild, kein Ton – wir kommen schon.“ Schöner Spruch, aber der machte das Ganze auch nicht besser.
Irgendwie brachte Dr. Wolfgang Krüger die Sendung hinter sich und fällte zwei existenzielle Entscheidungen. Erstens: Wir brauchen einen Regisseur. Und zweitens: Die Verantwortung für Inhalt und Ablauf der Magazine liegt künftig beim Chef vom Dienst.
Krüger war dann erst mal raus, hielt sich aber im Studio bereit. Für alle Fälle, falls es zum Schlimmsten käme. Abendsendung 28. August 1988: „Es ist kurz vor 18 Uhr und Moderatorin Dr. Claudia Schreiner ist immer noch nervös“, notierte die Reporterin der „Berliner Morgenpost“, die einen Tag hinter die Kulissen des neuen Senders blicken durfte. Zitat: „Chefredakteur Krüger schleicht ins Studio und Claudia Schreiner fleht: Herr Krüger, beruhigen Sie mich doch mal. Währenddessen läuft ein Film über den Flugzeugabsturz in Ramstein.“
Claudias Nervosität hatte einen Grund, einen durchaus nachvollziehbaren Grund: Vorher musste sie kaum live moderieren – hier im Berliner Wedding ging jeder Versprecher unverzüglich über den Äther. Unverzüglich und nicht rückholbar.
Dr. Claudia Schreiner wurde später Programmdirektorin Hörfunk/Fernsehen bei „Radio Bremen“ und danach Programmchefin Kultur und Wissenschaft beim „mdr“ sowie „Head of Masterschool“ bei einer renommierten Schule für Dokumentarfilm-Produzenten. Außerdem fand sie noch Zeit, ein Buch zu schreiben: „Wenn Frauen zu viel arbeiten – alles erreichen und nicht ankommen“.
Bei ihren ersten RIAS-Moderationen ahnte sie wohl noch nicht, was sie alles „erreichen“ würde, auch ohne Dr. Krügers beruhigende Worte.
Dr. Wolfgang Krüger machte ebenfalls Karriere. Auch nach seiner Karriere im Wedding. Im Brandenburger Wirtschaftsministerium in Potsdam verdingte er sich zunächst als Staatssekretär und wechselte dann als Hauptgeschäftsführer der Industrie und Handelskammer nach Cottbus. Für die IHK saß er bis Juli 2020 im Aufsichtsrat des langjährigen Geister-Flughafens „BER“ in Schönefeld. Inwieweit er auf das Management „beruhigend“ einwirken konnte, ist nicht dokumentiert. Vermutlich wäre aber sowieso ein „Weckruf “ angebrachter gewesen.
Fernsehen zum Frühstück
RIAS-TV machte zügig den nächsten Schritt im Programm-Angebot: „Frühstücksfernsehen“. Das klingt nach Schrippen, Aufschnitt, Marmelade und Kaffee.
Vor allem Kaffee. Dienstbeginn war zwei Uhr nachts. Bis zum Sendebeginn um sechs Uhr morgens hatten die meisten mindestens eine Kanne Kaffee und jede Menge Zigaretten intus.
Wenn dann endlich die Sechs-Uhr-Nachrichten und die Anmoderation für den nächsten Beitrag über den Bildschirm gelaufen waren, musste die Crew erst einmal verschnaufen. Ich baute deshalb für diese Zeit regelmäßig einen längeren Film ein. Der spulte sich automatisch ab und bedurfte kaum menschlicher Men-Power. Das schuf Zeit für die nächste Zigarette, die wir vor dem Regieraum genossen.
Für die erste Ausgabe des Frühstücksfernsehens am 3. Oktober 1988 war mein Kollege Manfred Seckinger verantwortlich. Kein beneidenswerter Job. In Regensburg lag Franz Josef Strauß im Sterben. Manfred Seckinger musste über das Lebenswerk der Polit-Legende informieren, ohne ins Krankenhaus der „Barmherzigen Brüder“ in Regensburg schalten und den Gesundheitszustand abfragen zu können. Und das alles unter den Augen einer geballten Medien-Öffentlichkeit, die den Start des Frühstückfernsehens kritisch begleiten wollte.
Lothar Loewe will sich erschießen
Strauß starb am 3. Oktober, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, an einem Multiorgan-Versagen um 11:45 Uhr. Zwei Stunden und 45 Minuten nach unserem Sendeschluss.
Das Presse-Echo auf das neue Frühprogramm war durchaus gespalten. RIAS-TV-Chef Gerhard Besserer fand, es war „ein guter Start“. Gleich neben seinem Kommentar in der „Bild“ vom 4. Oktober 1988 meldete sich der Berliner Journalist und langjährige ARD-Korrespondent u. a. in Ost-Berlin und Moskau, Lothar Loewe, zu Wort. Der sah das ein wenig anders: „Das war kein ermutigender Auftakt.“ Sein Verriss endete mit dem Satz: „Hätte ich das zu verantworten, ich würde mich vermutlich erschießen.“
Loewe griff nicht zur Pistole und wir hatten alle längst gelernt: Schlechte Kritik sorgt für gute Vorsätze.
Richtig aber war, das Programm hatte erhebliche Geburtsfehler: Programmchef Gerhard Besserer hatte „Informationen zum Leben in der DDR“ gefordert, aber um diese zeigen zu können, mangelte es uns schlicht an Bewegtbild-Material von jenseits der Mauer. Und dabei wurde schon alles, was irgendwie Bezug zur DDR hatte, sofort von uns aufgegriffen, akribisch bearbeitet und so gut wie möglich illustriert. Manchmal musste halt ein Text oder ein Interview mit ein paar Standbildern (Fotos) auskommen. Auch wenn das nicht unbedingt bewegend war für Fernsehzuschauer.
Längere Hintergrundberichte aus der DDR – meist Fehlanzeige. Wir konnten im Wesentlichen nur auf Material von CNN (Cable News Network) und von der EBU (Europäische Rundfunkunion) zurückgreifen. ARD- oder ZDF-Filme standen uns zunächst nicht zur Verfügung. Und wenn wir für eigene Drehs in den Osten fahren wollten, brauchten wir die Zustimmung der DDR-Behörden. Die aber zierten sich meistens.
Nach dem von Journalisten sogenannten „Maulkorb-Erlass“ waren Dreharbeiten in der DDR genehmigungspflichtig. Das galt für Drehs bei staatlichen Institutionen ebenso wie bei „gesellschaftlichen Einrichtungen“. Ein Maulkorb also für fast alles überall.
Inhaltlich waren „Verleumdungen und Diffamierungen der DDR, ihrer staatlichen Organe und ihrer führenden Persönlichkeiten sowie der mit der DDR verbündeten Staaten zu unterlassen“. Natürlich. Inwieweit diese Tatbestände erfüllt waren, das oblag ausschließlich Ost-Berliner Entscheidungsgewalt.
Der Erlass sollte vor allem verhindern, dass die West-Medien Dinge ausplauderten, die der „VEB Horch und Guck“ (Volkseigener Betrieb Stasi) lieber unter der Decke halten wollte. Also insbesondere Berichte über Unregelmäßigkeiten in Wirtschaft und Staat oder Beiträge aus dem Bereich der Kirchenorganisationen. Nicht immer für das „Aufsichtspersonal“ zu verhindern waren Straßenumfragen und „Zufalls“-Interviews mit...