1913 - oder das Ende der Menschheit
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1913 - oder das Ende der Menschheit

Countdown in die Krise des 20. Jahrhunderts

  1. 204 Seiten
  2. German
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1913 - oder das Ende der Menschheit

Countdown in die Krise des 20. Jahrhunderts

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Über dieses Buch

1913 – das war das Jahr, das nach aktueller Meinung einen unterhaltsamen Jahrhundertsommer bot. In diesem Jahr, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, prallten jedoch Welten aufeinander und waren die globalen Konflikte für alle zu spüren.Eine Betrachtung dieser dramatischen und explosiven Zeit ohneBlick auf die politischen Leitlinien und die soziale wie kulturelleZerrissenheit des späten Kaiserreiches bliebe also unvollständig. Der Autor skizziert in Momentaufnahmen gekonnt die Lage Deutschlands am Vorabend des Weltkriegs und zeigt auf, dass 1913 nicht nur ein langer Sommer der kulturellen Moderne war. 1913 steht viel mehr für tiefe soziale Verwerfungen, ideologische Grabenkämpfe und eine vom Militarismus durchtränkte Gesellschaft. Das, was Florian Illies in '1913' offenbar vergaß zu erwähnen, wird hier konzise ergänzt. Dem schöngeistigen 1913 von Illies wird die reale Welt gegenübergestellt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783958940017

Oktober 1913

In Wien ist es wie so oft: Der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf spricht sich entschieden für einen Krieg gegen Serbien aus, der österreichische Außenminister Leopold Graf Berchtold hält dagegen und setzt sich für eine friedliche Lösung des Konflikts mit Serbien ein. Das ist schon fast wie ein Ritual: Immer wieder fordert Conrad den Krieg gegen Serbien, und immer wieder setzt sich letzten Endes die Antikriegspartei mit Berchtold und Thronfolger Franz Ferdinand durch. Auch die Rollenverteilung ist immer die gleiche: Conrad ist der militaristische Hitzkopf, der unbedingt zuschlagen möchte, Berchtold und Franz Ferdinand vertreten die Stimme der Vernunft. Man kennt das mittlerweile schon. Dennoch scheint sich nun, im Oktober 1913, an diesem scheinbar so ewig gleichen Ritual etwas zu verändern. Die Rollen scheinen jetzt auf einmal nicht mehr ganz so klar verteilt zu sein. Die Vorgänge der letzten Tage und Wochen haben offenbar einiges verändert.
Angesichts des aktuellen Vorgehens serbischer Truppen in Albanien stellt sich nun für viele politische Akteure in Wien die Frage, ob Conrad nicht vielleicht doch Recht hat, wenn er darauf beharrt, dass man gegen Serbien letzten Endes nur mit militärischer Gewalt vorgehen könne. Auch dem friedliebenden Berchtold selbst kommen jetzt offenbar gewisse Zweifel. Einen Sieg Serbiens über Albanien und eine Beseitigung Albaniens durch Serbien könnte Österreich-Ungarn jedenfalls unter keinen Umständen hinnehmen, so viel steht fest. Dies wäre schließlich nichts anderes als die vollständige Kapitulation der stolzen k.u.k Monarchie vor dem aufstrebenden slawischen Nachbarn, der sich offenbar vorgenommen hat, den Österreichern ganz gehörig in die Flanke zu fahren. Österreich-Ungarn könnte dann als europäische Großmacht gleich abdanken, hätte es sich doch von den Serben vor aller Welt vorführen lassen und gezeigt, dass es wirklich auch noch den allergeringsten und allerkleinsten Einfluss auf dem Balkan verloren hat. Das alles kommt natürlich überhaupt nicht in Betracht. Natürlich lässt sich die österreichische Politik das nicht bieten. Berchtold weiß, dass er nun mit aller ihm zu Gebote stehenden Deutlichkeit gegen Serbien auftreten muss. Er steht unter enormem Druck – außenpolitisch, aber auch im Innern.
Der österreichische Außenminister ist nicht zu beneiden. Auf diplomatischem Wege kann er nicht viel ausrichten. Das Konzert der europäischen Mächte glänzt mal wieder durch Untätigkeit. Wien möchte, dass das unverschämte Vorgehen der Serben in Albanien aufs Schärfste verurteilt wird. Doch Russland betätigt sich wieder mal als Anwalt der Serben und erklärt, das Vorgehen Serbiens in Albanien sei völlig einwandfrei. Für die Besetzung strategischer Punkte in Albanien habe man vollstes Verständnis. Mehr gibt es dazu offenbar nicht zu sagen. Wien, so ist das wohl nur zu verstehen, soll sich wieder beruhigen und die Dinge so nehmen, wie sie eben sind. Doch Wien beruhigt sich nicht. Es will die Serben endlich raus haben aus Albanien, so wie es im Londoner Frieden vorgesehen ist. Wenn es auf friedlichem Wege nicht geht, dann muss man ihnen eben mit der Sprache der Gewalt kommen. Offenbar verstehen sie nur die. Das heißt ja nicht, dass es auch wirklich zum Äußersten kommen muss. Vermutlich reicht ja die bloße Drohung völlig aus. Wenn tatsächlich ein Krieg zu befürchten steht, so hofft Berchtold, werden die Serben schon einlenken. Es wird sich dann zeigen, dass Österreich-Ungarn eben doch kein so zahnloser Tiger ist, wie es jetzt in der europäischen Öffentlichkeit aussehen mag. Die Serben werden es sich gut überlegen, ob sie sich wirklich mit diesem Gegner anlegen wollen. Letztlich werden sie sicher kneifen. Man muss nur massiv genug drohen und ganz deutlich machen, dass es einem auch wirklich ernst damit ist. Mit der vorsichtigen Diplomatie ist jetzt Schluss. Auch der zurückhaltende Berchtold schlägt nun andere Töne an.
Gleichzeitig wirbt auch Generalstabschef Conrad unverdrossen weiter für seine Position. Auch die Idee einer Angliederung Serbiens an Österreich-Ungarn trägt er weiter vor. Diese Angliederung kann natürlich auch auf ganz friedlich erfolgen. Belgrad bräuchte sich ja nur dafür zu entscheiden, freiwillig der Donaumonarchie beizutreten, schon wäre alles geklärt. Man könnte dann einen neuen Südslawenstaat in das komplexe Staatsgefüge einbauen, der zugleich den Vorteil hätte, dass er den mitunter aufsässigen Ungarn Paroli bieten könnte. Alles wäre perfekt. Die Serben müssten nur wollen. Im Moment aber wollen sie ganz offensichtlich nicht. Ganz im Gegenteil, sie schwelgen im Rausch ihrer neuen nationalen Stärke und sind im Begriff, eine einflussreiche Nation mit eigenem Nationalstaat zu werden. Das letzte, was sie sich jetzt wünschen, ist es wohl, Teil des Wiener Vielvölkerstaates zu werden, der aus ihrer Sicht ebenso wie das Osmanische Reich ein Staat der Vergangenheit ist. Für die weit ausgreifende Zukunftsvision von Generalstabschef Conrad kann sich in Belgrad vermutlich kaum jemand begeistern. Wenn aber die Serben nicht einsichtig sind, so ist Conrad überzeugt, dann bleibt nur der andere Weg. Der Weg, Krieg gegen sie zu führen und sie niederzuringen. Alles andere ist Unsinn. Auf die Diplomaten und Politiker braucht man erst gar nicht zu hoffen. Diplomatie kann den Waffengang nicht ersetzen.
Am 2. Oktober spricht Generalstabschef Conrad mit Kaiser Franz Joseph. Der ist sicherlich kein Kriegstreiber und für die martialischen Redensarten Conrads und der Wiener Kriegspartei normalerweise nicht unbedingt empfänglich. Doch auch er muss wohl die Gefahr für die Donaumonarchie erkennen, die sich aus dem militärischen Vorgehen Serbiens in Albanien ergibt. Einfach von der Hand zu weisen sind die Warnungen vor dem immer stärker werdenden Serbien jedenfalls nicht. Am 10. Oktober spricht Conrad mit Berchtold und erklärt auch ihm noch einmal die Notwendigkeit eines Waffengangs gegen Serbien. Entweder man lässt die einfach Dinge laufen, auch auf die Gefahr hin, zugrunde zu gehen, oder man schlägt los, stellt ein Ultimatum und führt Krieg. Doch der österreichische Außenminister will immer noch keinen Krieg. Aber er will auch keinen Frieden um jeden Preis mehr. Vor allem nicht um den Preis des völligen Scheiterns seiner Politik. Er braucht jetzt dringend einen Erfolg gegen Serbien, und dazu bedarf es einer massiven Drohgebärde gegenüber Belgrad. Wenn die Triple-Entente und das ewig zögerliche Italien dabei nicht mitmachen wollen, dann muss es halt ohne sie gehen. Bedeutsam ist nun vor allem die Frage, wie sich Deutschland verhalten wird. Wenn Wien und Berlin jetzt zusammenhalten, steht man wenigstens nicht ganz alleine da. Unterstützung wäre jetzt wichtig.
Bisher allerdings hat die Berliner Politik kaum je Verständnis für die ablehnende Haltung der Österreicher gegenüber Serbien aufgebracht. Stattdessen versuchen die Deutschen ständig, den Vertretern der k.u.k. Monarchie einzureden, sie müssten ihrem widerspenstigen Nachbarn nur die Hand reichen, dann ließe sich schon ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln. Gegenüber der Aggressivität des serbischen Nationalismus ist man offenbar blind. Diese Besserwisserei der Deutschen nervt. Aber nun könnte sich die deutsche Position vielleicht ändern. Zuletzt hatte es jedenfalls ein paar ermutigende Zeichen in dieser Richtung gegeben. Womöglich erinnert sich der österreichische Generalstabschef Conrad jetzt seiner Reise nach Schlesien von Anfang September. Wie war das noch? Was hatte der deutsche Kaiser erwidert, als Conrad gesagt hatte, man hätte noch in diesem Jahr die Gelegenheit gehabt, gegen Serbien vorzugehen? – „Warum ist es nicht geschehen? Es hat sie niemand verhindert!“ – Wenn dieses Wort gilt, dann kann sich Berlin jetzt wohl kaum noch verweigern. Zumindest die lästige deutsche Fürsprache zugunsten Serbiens müsste jetzt endlich ein Ende haben.
So ist es tatsächlich. Ungewohnt positive Signale kommen aus Berlin. Das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße sichert moralische Unterstützung zu und erklärt unmissverständlich, das Deutsche Reich stehe fest hinter ÖsterreichUngarn. Für Albanien haben sich die Deutschen allerdings noch nie sonderlich interessiert. Aber auch sie haben jetzt offenbar verstanden, wie wichtig die Existenz Albaniens für Österreich-Ungarn ist. Und auch sie erkennen jetzt offenbar, wie rücksichtslos und feindselig sich Serbien gegenüber der Donaumonarchie verhält. Wenn Albanien von der Landkarte verschwände, dann bliebe von den einstigen österreichischen Balkanplänen überhaupt nichts mehr übrig. Die bisherige Großmacht Österreich-Ungarn wäre dann – nicht nur in Südosteuropa, sondern überhaupt auf dem europäischen Parkett – der absoluten Lächerlichkeit preisgegeben. Und auch der Dreibund wäre in Mitleidenschaft gezogen, während Serbien unangemessen stark und mächtig dastehen würde. All dies kann natürlich nicht im Interesse der deutschen Politik sein. Auch in Berlin empfindet man das Verhalten Serbiens mittlerweile zunehmend als bedrohlich und unverschämt. Die Haltung gegenüber Belgrad hat sich deutlich geändert. Wenn Österreich-Ungarn den Serben entgegentreten will, dann wird man in Berlin nun nichts mehr dagegen haben. Ganz im Gegenteil. Das Auswärtige Amt signalisiert Berchtold in Wien, Deutschland werde Österreich-Ungarn definitiv unterstützen, falls es eine deutliche Demarche an Belgrad richten wolle. Berchtold ist sehr erfreut über diese ungewohnt klare Unterstützung aus Deutschland.
Am 18. Oktober ist es schließlich so weit. Der Regierung in Belgrad wird ein österreichisches Ultimatum übergeben, das ihr acht Tage Zeit einräumt, um sich aus Albanien zurückzuziehen. Sollte sich Belgrad aber verweigern, dann würden nach Ablauf dieser Frist die Waffen sprechen. Krieg liegt plötzlich in der Luft. Russland und Frankreich sind empört über das schroffe Vorgehen Österreich-Ungarns. Sie halten das Ultimatum für völlig unangemessen und überzogen. Die Gewaltandrohung der Wiener Regierung stößt ihnen sehr übel auf. Gerne würden sie sich deutlich auf die Seite Serbiens stellen. Ihr Verbündeter Großbritannien allerdings, der ebenfalls erhebliche Bedenken gegen diese Kriegsdrohung hat, lässt durchblicken, dass man in London durchaus auch ein gewisses Verständnis für die österreichische Position aufbringen könne. Dass die Serben die von der Londoner Konferenz festgelegte Grenze zwischen Serbien und Albanien so unbeirrt und konsequent ignorieren – obwohl sie offiziell ständig das Gegenteil behaupten –, geht auch den Briten mittlerweile gehörig gegen den Strich. Ihre heimliche Sympathie für die Haltung der Österreicher bekunden sie zwar nur dezent – zumal ihnen das Säbelgerassel aus Wien absolut nicht gefällt –, aber sie wird doch erkennbar. Damit aber hat Belgrad kaum noch eine Chance, das diplomatische Tauziehen zu seinen Gunsten zu entscheiden. Und die Wiener Regierung lässt absolut keinen Zweifel daran, dass sie die Gewaltandrohung gegen Serbien dieses Mal vollkommen ernst meint.
Gerade diese neue Entschlossenheit der Österreicher ist es auch, die Wilhelm II. endgültig davon überzeugt, die Wiener Politik entschieden zu unterstützen. Schon die deutlichen Worte des österreichischen Generalstabschefs Conrad in Schlesien von Anfang September hatten nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Jetzt goutiert er es auch, dass die Wiener Regierung nicht mehr nur rumlamentiert, sondern tatsächlich eisenharte Konsequenzen androht, falls man sich weiterhin ihren Forderungen widersetzt. Schneidiges Auftreten hat dem deutschen Kaiser schon immer imponiert. Dementsprechend gefällt ihm jetzt auch das Wiener Ultimatum. Doch Wilhelm hat nicht nur seine frühere positive Sicht auf Serbien völlig aufgegeben. In seinem Elan, der unbotmäßigen Regierung in Belgrad Paroli zu bieten, will er die Österreicher nun offenbar – wahrlich nicht untypisch für die aufbrausende Mentalität und Wechselhaftigkeit des deutschen Kaisers – noch überbieten. „Es muß mal da unten Ordnung und Ruhe geschafft werden!“ schreibt er in einer seiner berüchtigten Randbemerkungen. Das klingt nicht gerade nach einer friedlichen Lösung. Eher klingt es so, als würde Wilhelm den Österreichern am liebsten einen Freibrief ausstellen, in Serbien zu tun und zu lassen, was sie für richtig halten, um dort einmal in aller Gründlichkeit aufräumen zu können. Der deutsche Friedenskaiser ist jetzt so auf Krawall gebürstet, dass er es gar nicht mehr so schlecht fände, wenn Serbien das österreichische Ultimatum einfach unbeachtet verstreichen lassen würde. Dann würde man halt ein großes Donnerwetter über Belgrad hereinbrechen lassen und den Serben einmal zeigen, wer der Stärkere auf dem Balkan ist. Vielleicht wäre das sogar das Beste: Ordnung und Ruhe schaffen da unten!
Aufgrund der eisernen Entschlossenheit Österreich-Ungarns und Deutschlands schließt sich nun auch das sonst so zögerliche Italien dem österreichischen Ultimatum an. Damit steht der Dreibund geschlossen gegen Serbien, während die Triple-Entente weiter schwächelt. Eine Konstellation ist entstanden, die sich der deutsche Kaiser schon seit langem gewünscht hat: der Dreibund ist stabil, die Triple-Entente uneinig, und Großbritannien geht zumindest mit halbem Herzen mit dem Dreibund. Besser geht es kaum! Das österreichische Ultimatum ist ein voller Erfolg. Belgrad ist international isoliert und kann dem Druck kaum noch standhalten. Über Europa schwebt nun die Frage, ob es tatsächlich zur bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Serbien und Österreich-Ungarn kommen wird, oder sich der Konflikt vielleicht doch noch abwenden lässt. Die Situation ist äußerst angespannt. In einem Gespräch mit dem österreichischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf am 18. Oktober, dem ersten Tag des österreichischen Ultimatums, sagt Kaiser Wilhelm in Leipzig: „Ich war stets ein Anhänger des Friedens; aber das hat seine Grenzen. Ich habe viel über den Krieg gelesen und weiß, was er bedeutet, aber endlich kommt die Lage, in der eine Großmacht nicht länger zusehen kann, sondern zum Schwert greifen muß.“
Doch so weit kommt es nicht. Angesichts der aussichtslosen Situation auf dem internationalen Parkett gibt sich die Regierung in Belgrad geschlagen. Sie beugt sich dem Ultimatum der Österreicher und zieht ihre Truppen aus Albanien zurück. Der Konflikt ist zu Ende. Österreich-Ungarn geht als Sieger vom Platz. Und mit ihm auch der Dreibund.
Das Ganze hinterlässt einen verwirrenden Eindruck. Der Krieg ist abgewendet, gewiss. Aber die Lehre, die aus diesem Vorgang zu ziehen ist, kann aus Sicht des Dreibunds doch ganz offensichtlich nur eine sein: Gewaltandrohung lohnt sich. Was sich mit umfangreichen diplomatischen Bemühungen, langen Verhandlungen und anstrengenden Gesprächen nicht erreichen lässt, das gelingt mit militärischer Einschüchterung und etwas Säbelrasseln im Handumdrehen. Scheinbar entschlossene Gegner, die einem das Leben unnötig schwer machen, kuschen mit einem Male, wenn man ihnen nur energisch genug mit der Waffe droht. Lange ungelöste Probleme lassen sich mit einem Schlag aus der Welt schaffen. Ja, es besteht kein Zweifel an der Lehre aus diesem Oktober 1913: diejenigen in Berlin und in Wien, die schon seit langem behaupteten, die Militärs würden es eher verstehen, den Dreibundstaaten Einfluss, Macht und Respekt zu verschaffen, als all die vielen Diplomaten und Politiker zusammengenommen, haben eindeutig recht erhalten. Wo die Diplomatie versagt, hilft offenbar nur noch die Sprache der Gewalt. Wer sie allerdings spricht – und auch dies ist eine Lehre dieses Oktobers – der muss im Ernstfalle auch fest entschlossen und bereit sein, Gewalt anzuwenden. Sonst wird das Schwert der Einschüchterung sofort stumpf, und an die Stelle des ersehnten Triumphes tritt die Lächerlichkeit. Die Drohung mit der Waffe muss also ernst gemeint sein.
Für Wilhelm II. gibt es unterdessen noch eine weitere wichtige Lehre aus den aktuellen Erfahrungen mit Serbien und den europäischen Großmächten, die er sich ebenfalls gut merken wird: Das unbedingte Vertrauen, das er während der Krise in die Politik Österreich-Ungarns gesetzt hat, war richtig und hat sich auf alle Fälle ausgezahlt. Die österreichische Balkanpolitik hat Deutschland nicht wie befürchtet in eine außenpolitische Niederlage und Blamage hineingezogen, sondern zu einem großen internationalen Erfolg geführt. Die Rückendeckung aus Berlin hat die Wiener Position dabei deutlich gestärkt und den Respekt der Staatengemeinschaft vor der Großmacht Österreich-Ungarn offenkundig wiederhergestellt. Auch der Dreibund wurde dabei offensichtlich gestärkt, denn Italien wurde von seinem zögerlichen Kurs abgebracht und enger an seine beiden Bündnispartner herangezogen, während die Triple-Entente aus Russland, Großbritannien und Frankreich unentschlossen blieb. All dies ist ein großer Triumph, an den man künftig unbedingt anknüpfen muss. Die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Wien und Berlin verbunden mit der Androhung von Gewalt ist offenbar ein echtes Erfolgsrezept.
Die Konsequenzen aus all diesen Lehren vom Oktober 1913 werden sich bald zeigen. Es ist kein Zufall, dass sich im Zuge der internationalen Krise vom Juli 1914 einige Abläufe dieser Oktoberwochen scheinbar detailgetreu wiederholen werden. Wer sich mit den Vorgängen vom Oktober 1913 und denen vom Juli 1914 beschäftigt, wird in der Tat einige Déjà-vus erleben. Wieder wird es eine internationale Krise um Österreich-Ungarn und Serbien geben. Wieder wird die europäische Diplomatie scheitern und werden die Kriegsbefürworter und Militaristen scheinbar die besseren Antworten auf die Herausforderungen der Krise haben. Wieder wird es ein österreichisches Ultimatum gegen Serbien geben. Wieder wird der deutsche Kaiser der Wiener Politik uneingeschränkt folgen und ihr einen Blankocheck für ein militärisches Vorgehen auf dem Balkan ausstellen. Und wieder wird Wilhelm II., der doch so stolz ist auf die über 25 Jahre Frieden, die die Deutschen unter seiner Herrschaft erleben durften, seinem politischen Umfeld signalisieren, dass ein kurzer siegreicher Waffengang, der zu klaren politischen Verhältnissen führt, aus seiner Sicht deutlich besser ist als ein fauler Kompromiss im Frieden. Vieles wird sich also wiederholen. Aber nicht alles. Manches wird sich auch im Juli 1914 ganz anders abspielen als in diesem Oktober 1913. Italien wird sich seinen beiden Bündnispartnern nicht wieder anschließen, sondern diesmal im Abseits bleiben. Der Dreibund wird also nicht wieder geschlossen in den Konflikt hineingehen, sondern gespalten. Stattdessen wird die Triple-Entente diesmal geschlossen dastehen. Serbien wiederum wird sich nicht noch einmal einem österreichischen Ultimatum beugen, sondern die Wiener Forderungen, die dann sehr viel weiter gehen werden und die serbische Souveränität infrage stellen, entschieden zurückweisen. Die Gewaltandrohung gegen Serbien wird diesmal also nicht zum Ziel führen, und aus der Androhung von Gewalt wird dann tatsächlich ein Griff zu den Waffen werden. Aus all dem wird sich im Sommer 1914 ein furchtbarer Weltenbrand entwickeln, mit dem verglichen alle Konflikte und Probleme auf dem Balkan, die ihn ausgelöst haben, nur noch kleinlich und lächerlich wirken, und der letzten Endes die alte Ordnung hinwegfegen wird. Das zaristische Russland, das deutsche Kaiserreich, der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn – nichts von alledem wird diesen Sturm überstehen.
Die Runde vom Oktober 1913 geht aber erst einmal an den Dreibund.
Im Reichsmarineamt arbeitet Staatssekretär Alfred von Tirpitz noch immer eifrig am Ausbau der deutschen Hochseeflotte. Seit 16 Jahren ist er nun schon damit beschäftigt. Seitdem hat sich vieles getan. Die deutsche Kriegsflotte ist erheblich gewachsen. Doch nicht nur die Flotte insgesamt, auch die Schiffe selbst sind immer größer geworden. Als von Tirpitz 1897 sein Amt als Staatssekretär im Reichsmarineamt antrat, hatten die neuesten Kriegsschiffe der Kaiserlichen Marine wie etwa die SMS Kaiser Friedrich III. eine Länge von ungefähr 125 Metern und eine Verdrängung von etwa 11.000 Tonnen aufzubieten gehabt. Jetzt werden mittlerweile riesige Schlachtschiffe wie die SMS Kaiserin mit einer Länge von ungefähr 170 Metern und einer Verdrängung von etwa 25.000 Tonnen in Dienst gestellt. Auch bei Bewaffnung, Panzerung und Schiffsantrieb hat es große Fortschritte gegeben. Mit immer größerem Kaliber wird auf potentielle Kriegsgegner gezielt, immer mehr Kanonen richten sich auf einen möglichen Feind. Die neuesten Schlachtschiffe verfügen sogar über einen Turbinenantrieb und Ölzusatzfeuerung. Mit einigem Stolz blickt von Tirpitz auf diese Entwicklung der letzten 16 Jahre zurück. Er kann dabei voll auf die persönliche Rückendeckung des Kaisers setzen, der selbst der größte Anhänger und Förderer des Flottenbaus ist. Ohne die Unterstützung Wilhelms II. hätte es von Tirpitz niemals so weit bringen können.
Und dennoch: Sein Hauptziel hat der Großadmiral in all diesen Jahren und trotz all dieser Anstrengungen noch immer nicht erreicht. Es besteht darin, die Royal Navy derart einzuschüchtern, dass ihr ein Angriff auf die deutsche Marine undenkbar erscheinen muss. Risikogedanke nennt von Tirpitz dies. Dabei gibt er sich keineswegs der Illusion hin, die deutsche Marine so stark machen zu können, dass sie die britische letzten Endes überragt. Dies wäre selbst dem ambitionierten von Tirpitz zu ambitioniert. Der britische Vorsprung ist viel zu groß. Nicht einmal Gleichstand wird vom Großadmiral angestrebt. Aber die deutsche Marine soll so stark werden, dass ein Angriff auf sie für die Royal Navy mit einem so hohen Risiko verbunden wäre, dass er für London schlicht nicht in Betracht kommt. Dazu muss sie, so glaubt von Tirpitz, etwa 2/3 der britischen Größe erlangen. Dass es sehr lange dauern würde, bis dieses Ziel erreicht werden kann, war dem Großadmiral von Anfang an klar. Zwanzig Jahre hatte er ursprünglich dafür veranschlagt. Die sind 1913 noch nicht um. Dennoch fragen sich Beobachter im politischen Berlin mittlerweile, ob von Tirpitz diesem Ziel in den letzten 16 Jahren überhaupt näher gekommen ist, und ob er es jemals erreichen wird.
Gewiss, die Aufrüstung der deutschen Hochseeflotte wird von den Briten sehr ernst genommen und hat ihnen offenbar erst einmal einen gehörigen Schrecken eingejagt. Das beweist zumindest, dass der deutsche Flottenbau nicht völlig wirkungslos ist. Doch dieses Erschrecken der Briten kam viel zu früh und hatte einen sehr unangenehmen und absolut unerwünschten Nebeneffekt: die Briten haben die Gefahr nun erkannt, die ihnen in Deutschland heranwächst, sie halten sich aber keineswegs ängstlich zurück, wie man sich das im deutschen Marineamt möglicherweise gern wünschen mag, sondern treiben nun ihrerseits die Flottenaufrüstung voran. Und sie tun dies mit gewaltiger Anstrengung. Dem deutschen Bestreben, 2/3 der britischen Schlachtflottengröße zu erreichen, setzen sie ihre TwoPower-Standard-Maxime von 1889 entgegen, die besagt, dass die britische Flotte mindestens so groß werden muss wie die beiden Flotten der zweit- und der drittgrößten Seemacht zusammen. Würden sie dieses Ziel tatsächlich erreichen, wäre der Tirpitzschen Planung ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht. Nun muss von Tirpitz wiederum reagieren und seinerseits eine noch viel schnellere und intensivere Aufrüstung betreiben, will er sein hoch gestecktes Ziel gegenüber Großbritannien nicht sofort wieder aufgeben.
Ein gewaltiges deutsch-britisches Wettrüsten hat begonnen, und es hält nun, im Jahr 1913, schon seit etlichen Jahren an. Die Aussichten für die Deutschen sind dabei allerdings keinesfalls gut. Und auch die großen technischen Fortschritte im Flottenbau der letzten Jahre gehen zu nicht unbeträchtlichem Teil auf die Royal Navy zurück. Nicht die Deutschen, sondern die Briten waren es, die 1906 mit der Fertigstellung der HMS Dreadnought den Flottenbau revolutionierten. Die Dreadnought hat nur noch großkalibrige Kanonen an Bord, alle vom gleichen Kaliber und mit sehr hoher Reichweite. Sie ist größer und schwerer als die herkömmlichen Schlachtschiffe, und ihre fünf Geschütztürme mit Doppelartillerie sind so angeordnete, dass jeweils acht der gewaltigen Kanonen an Bord auf ein gemeinsames ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Einleitung
  5. Neujahr 1913
  6. 25 Jahre Regentschaft Wilhelms II.
  7. Der Kaiser und das Jahr 1912
  8. Januar 1913
  9. Februar 1913
  10. März 1913
  11. April 1913
  12. Mai 1913
  13. Juni 1913
  14. Juli 1913
  15. August 1913
  16. September 1913
  17. Oktober 1913
  18. November 1913
  19. Dezember 1913