IIDie Forschungsergebnisse New Organizing – Reiseplanungen und Orientierungshilfen
Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther
Jede gut vorbereitete Reise beginnt mit der Lektüre eines Reiseführers, der Recherche im Internet oder zumindest mit dem Blick auf eine Übersichtstafel – und so handhaben wir es hier auch. Der vorige Teil I über Theorie und Methode entspricht dem, was man über die Hintergründe im Land »New Organizing« wissen sollte, jetzt kann die Reise (fast) beginnen.
Zur visuellen Darstellung der Berichte
In der Innenwelt von New-Organizing-Ansätzen liest und hört man zuweilen über ein »Ausmaß an Agilisierung«, über »Stufen« oder die »Tiefe«, bis zu der eine neue Denk- oder Organisationsform vorgedrungen ist. Unterlegt sind diese Ideen oft auch mit Ideen von »Reifegraden« (z. B. Laloux 2015). Naheliegend wäre es infolge eines solchen Denkens gewesen, die 13 Fälle nach »Tiefe« oder »Reife« zu bewerten. Diese Denk- und Darstellungsform führt jedoch in die Falle der Normativität. Es wird ein Schema verwendet, das die Idee mitführt, eine tiefer gehende Einführung neuer Methoden sei grundsätzlich die bessere.
In der Umsetzung unseres Anliegens, bewertungsfrei zu erforschen, wie sich New Organizing in der Praxis vollzieht, wurde alternativ ein Schaubild entworfen, das die Fälle nach zwei Gesichtspunkten gliedert: Zum einen geht es unter der Bezeichnung »Anbindung an die Existenzfrage« um das Wozu, zum anderen entlang der Unterscheidung top-down oder bottom-up um eine Abbildung, wer die »Initiative« gestartet hat. Der Fokus wird also einerseits auf das (innen erzeugte) Außen gerichtet und anderseits auf die für Implementierungsfragen so wichtige Frage, ob es »von unten« oder »von oben« kommt. Mit diesem Doppelfokus lässt sich erfassen, ob und wie die Unternehmen den Einsatz von New-Organizing-Ansätzen oder -Methoden strategisch und operativ »ins Spiel bringen«. Grob lassen sich auf diese Weise vier New-Organizing-Typen unterscheiden (Abb. 2).
Einige Beispiele zur Erläuterung:
•Im Feld A finden sich Fälle, bei denen sich top-down geführte, episodische Transformationen vollziehen. Ein Unternehmen nutzt New Organizing strategisch zur Überlebenssicherung und das Topmanagement macht entsprechend konkrete Vorgaben zur Umsetzung neuer Organisationsformen. Der Fall »Radikale Transformation einer Bank« (Kap. 13) steht beispielhaft für diese Vorgehensweise.
•Im Feld B sind Fälle zu verorten, bei denen eher inkrementell, bottom-up im Sinne einer Graswurzelbewegung vorgegangen wurde und sich die dadurch entstandene Neuerung als überlebensrelevant herausgestellt hat. Das extremste Beispiel dafür bietet der Fall »Mit dem Rücken zur Wand« (Kap. 2). Hier macht sich die Belegschaft auf, ein in den Routinen der Organisation bereits verlorenes Projekt komplett neu zu konzipieren und dadurch einen Bereich in seiner Existenz zu sichern.
•Im Feld C sehen wir geführte, begrenzte Experimente, (noch) ohne unmittelbare (Not-)Wendigkeit. Im Wissen, dass es gut ist, sich regelmäßig mit Neuerungen zu beschäftigen, öffnet eine Unternehmensleitung nicht nur Freiräume zum Ausprobieren, sondern gibt auch vor, was zu testen ist. Am besten repräsentiert ist dieses Feld über den Bericht eines Mobilitätsdienstleisters mit dem Titel »Macht doch, wenn ihr wollt« (Kap. 5).
•Im Feld D finden sich Fälle, in denen Bottom-up-Initiativen eigenständig experimentieren und im Sinne von U-Boot-Projekten (noch) keine organisationale Resonanz haben. Auf Unternehmen in diesem Feld wird im Essay »Dark side of the moon« (Kap. 14) angespielt.
Die grobe Rasterung in vier Felder spannt den Raum auf, in den die Fälle einzuordnen sind. In leichter Vorwegnahme der Ergebnisse und zugleich auch zur orientierenden Rahmung der »dichten Beschreibungen« (Geertz 1987) haben wir die 13 Fallstudien (und ein Essay) in das Schaubild eingetragen (Abb. 3).
Abb. 2: Vier Formen A bis D der Einführung von New Organizing (NO)
Abb. 3: Positionierung der in den Fallbeispielen untersuchten Organisationen
Zurück zur Orientierung: Wie Abb. 3 zu entnehmen ist, hat es sich angeboten, die Achsen noch weiter zu differenzieren, um so auch die feineren Unterschiede zwischen den Unternehmen herauszuarbeiten. In der Dimension Ankopplung des NO-Vorgehens an Existenzfrage wird ein Merkmalsraum aufgespannt zwischen der expliziten Positionierung der New-Organizing-Initiativen als »Rettung« und Problemlösung für akute oder absehbare Bedrohungssituationen und lediglich einer Duldung von Experimenten, »solange sie nicht stören«.
Für die Ausdifferenzierung der Achse »Initiative für New Organizing« wurden Begriffe gewählt, die uns wörtlich in den Berichten begegnet sind: Kommen die ursprünglichen Impulse bottom-up aus der Belegschaft, benennen wir die Seite der Achse »Wir machen auch ohne euch! (U-Boot)«. Die andere Seite beschreibt eine explizite Vorgabe eines exakt beschriebenen Zielbildes oder die Umsetzung einer Blaupause – wir benennen diesen Pol der Achse »Macht es genau so!«
Abschließend noch zwei Hinweise zur Grafik:
•Die Positionierung der jeweiligen Fallstudie in der Landkarte bezieht sich auf den Zeitpunkt der Interviewphase.
•Die grauen Pfeile markieren die Position des jeweiligen Unternehmens vor der Interviewphase (Pfeilspitze im Feld) und nach dieser (Pfeilende im Feld), soweit dies ermittelt wurde. Folgende Entwicklung wird sichtbar: Im Verlauf verändern sich die Initiativen mehrheitlich hin zu einer existenzielleren Bedeutung und einer stärkeren Top-down-Steuerung – doch dazu später mehr.
Ein Reisevorschlag
Wie eingangs angekündigt, soll dieses Buch die Möglichkeit bieten, eine interessante Reise in New-Organizing-Welten zu gestalten. Hierzu haben wir eine generelle Reiseroute beginnend bei einem Automobilhersteller ausgewählt (Abb. 4). Je nach Interesse, Lust und Laune sind natürlich auch anderen Reisen möglich. Blickt man nun auf die Positionierung einzelner Berichte und die sich im Feld abbildenden Cluster auf der Karte, kann man seine Leseroute zum Beispiel auch alternativ an benachbarten Fällen orientieren, die gegensätzlichen Muster erkunden oder sich nach Branchen oder den kurz beschriebenen Kernparadoxien und ihren Bearbeitungsformen weiter bewegen.
Vorgeschlagene Reiseroute (Kapitelfolge):
1.»Gle ichzeitig agil und hierarchisch«:
Wir starten mit einem Automobilhersteller, der sich mit Interesse und Professionalität dem Neuen zuwendet und dann doch an seine Grenzen stößt.
2.»Mit dem Rücken zur Wand«:
Wir folgen einem Turbinenhersteller, in dem sich eine Abteilung als internes Start-up neu erfindet und mit agilen Methoden den Überlebenskampf im Konzernkontext aufnimmt.
3.»Agilität ist gut«:
Dann beobachten wir die Softwareentwicklung eines Finanzdienstleisters, die Agilität zur Leistungssteigerung und Abgrenzung gegenüber dem Mutterkonzern nutzt.
4.»Neue Mobilität trifft auf alte Autorität«:
Anschließend erhalten wir Einblick in eine digitale Einheit eines Automobilkonzerns, in der vor allem die Führungskräfte die Widersprüche des Alten und Neuen balancieren müssen.
5.»Macht doch, wenn ihr wollt, aber rechtssicher!«:
Hier erleben wir bei einem Logistikkonzern eine große Bandbreite an Methoden und Vorgehensweisen, die akzeptiert werden, solange sie sich im rechtlichen Rahmen bewegen.
6.»Unaufgeregte Lockerungsübungen«:
Als Nächstes werden wir Zeuge eines behutsamen Vorgehens zwischen Stabilität und Wandel in einem Verein der Dienstleistungsbranche.
7.»Stabilagil«:
In einem öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen erkennen wir ein besonders gelungenes Zusammenspiel zwischen Mitarbeiterinitiative und dienender, unterstützender Führung.
8.»Wiener Melange: Die Milch kriegst’ nicht mehr aus dem Kaffee«: Ein Konzern der Telekommunikationsbranche lehrt uns, wie Experimente in einigen Einheiten bleibende Spuren hinterlassen und nachhaltig Wandlungsfähigkeit anstoßen.
9.»PS-starke Unternehmensführung«:
Wir bekommen ein Gespür dafür, wie die besondere Form eines familiengeführten Mobilitätsdienstleistungskonzerns der Suche nach Erneuerung einen vertrauensvollen Rahmen geben kann.
Abb. 4: Vorgeschlagene Reiseroute
10.»Beweglichkeit in Stahl und Beton«:
Eine Verlagsgruppe im Umbruch gewährt uns Einblicke aus Sicht der Holding und dreier Tochterunternehmen, wie strafflockere Führung neue Geschäftsmodelle zum Leben bringt.
11.»Fremdbestimmte Selbststeuerung«:
Wir blicken hinter die Kulissen einer Tochter eines Fintec- und Versicherungsunternehmens und erleben, wie eine begeisterte und veränderungsbereite Belegschaft ein neues Organisationsmodell belebt.
12.»Speed is the name of the game!«:
Ein Schweizer Technologiekonzern unter Druck zeigt beispielhaft, was mit häufigen Konzeptwechseln in verschiedenen Einheiten ausgelöst wird.
13.»Radikale Transformation einer Bank«:
Wir tauchen tief ein in den Umbau des Geschäftsmodells hin zum Digitalunternehmen und erleben, welche typischen Phänomene die Einführung eines fixen Zielkonzepts mit sich bringt.
14.»Dark side of the moon«:
In einem Essay wird schließlich zusammengefasst, welche Potenziale verloren gehen, wenn es Organisationen nicht gelingt, Graswurzelinitiativen aufmerksam zu begleiten.
Wir wünschen nun eine gute Reise und starten wie erwähnt mit dem Automobilhersteller, der die Strategie verfolgt: gleichzeitig agil und hierarchisch.
1Gleichzeitig agil und hierarchisch – Ein Automobilkonzern führt agile Strukturen ein
Annette Gebauer, Simon Weber6
Was passiert, wenn eine Großorganisation, die jahrelang mit hierarchisch-funktionalen Bewältigungsmustern erfolgreich war, mit neuen Formen des Organisierens experimentiert? Entlang eines Fallbeispiels der Automobilbranche illustrieren wir, wie versucht wurde, hierarchische und agile Formen des Organisierens gleichzeitig zu balancieren.
Dafür haben wir die bisherigen Einführungsversuche eines Automobilherstellers untersucht: Was sind die Einführungsstrategien und -erfahrungen, wenn die Logiken des klassischen Organisierens auf die Idee des agilen Organisierens treffen? Was passiert, wenn die agile Innen-außen-Logik auf die althergebrachte Hierarchie mit ihrer Oben-unten-Logik trifft? Welche Spannungen entstehen, wie und wo werden diese Spannungen ...