Der Leinwandmesser
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Der Leinwandmesser

  1. 73 Seiten
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Der Leinwandmesser

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ist ein Mensch wirklich mehr wert als ein Tier? Diese Frage stellt Tolstoi ebenso gewitzt wie tiefgründig in seiner Erzählung um den Wallach 'Leinwandmesser', so getauft wegen seines berühmten, weit ausholenden Trabs. Am Ende seines Lebens angekommen erzählt er seinen Stallgenossen von seinem Leben. Vom Dienst für einen Husarenoffizier und von der Nacht, als dieser ihn auf der Jagd nach seiner flüchtigen Geliebten fast zu Tode peitschte. Und dann taucht der verloren geglaubte Offizier auf einmal wieder auf...-

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Information

Jahr
2021
ISBN
9788728017647

VI

Die zweite Nacht

Sobald die Pferde am Abend in den Hof getrieben waren, drängten sie sich wieder um den Schecken.
„Im August trennte man mich von meiner Mutter,“ fuhr der Schecke fort, „und ich empfand darüber keinen sonderlichen Kummer. Ich sah, dass meine Mutter schon einen jüngeren Bruder trug, den berühmten Usan, und ich war nicht mehr derselbe, der ich früher gewesen war. Ich war nicht eifersüchtig; aber ich fühlte, dass ich kühler gegen sie geworden war. Ausserdem wusste ich, dass ich nach der Trennung von der Mutter in die allgemeine Füllenabteilung kam, wo wir zu zweien und dreien zusammen standen und täglich unsere ganze junge Schar ins Freie hinaasgelassen wurde. Ich stand in einer Box mit Milü. Milü ist ein Reitpferd geworden, und es hat ihn später der Kaiser geritten, und er ist auf Gemälden und in Statuen dargestellt worden. Damals war er noch ein einfaches Füllen, mit glänzendem, zartem Fell, einem Schwanenhals und schnurgeraden, feinen Beinen. Er war immer vergnügt, gutmütig und liebenswürdig, immer bereit zu spielen, sich mit einem andern zu belecken und mit einem andern Pferde oder einen Menschen sein Spässchen zu treiben. Unwillkürlich befreundeten wir uns miteinander, da wir zusammen wohnten, und diese Freundschaft hat während unserer ganzen Jugendzeit fortgedauert. Er war lustig und leichtsinnig. Er fing schon damals an zu lieben, schäkerte mit den Stuten und lachte mich wegen meiner Unschuld aus. Und zu meinem Unglück begann ich, es ihm aus Ehrgeiz nachzumachen, und war sehr bald ganz toll verliebt. Und diese meine frühe Neigung wurde die Ursache zu der grössten Veränderung meines Schicksals. Es kam manchmal vor, dass ich mich vor Liebe gar nicht zu lassen rousste . . . Wjasopuricha war ein Jahr älter als ich; wir waren miteinander sehr gut befreundet; aber gegen Ende des Herbstes bemerkte ich, dass sie anfing mir auszuweichen . . .
Aber ich will nicht diere gange unglückliche Geschichte meiner ersten Liebe erzählen; Wjasopuricha selbst wird sich erinnern, in welcher sinnlosen Weise ich mich von meiner Leidenschaft hinreissen liess, und wie dies mit der wichtigsten Veränderung in meinem Leben endete.
Die Pferdehüter stürzten herbei, um sie fortzujagen und mich zu schlagen. Am Abend wurde ich in eine besondere Box gebracht; ich wieherte die ganze Nacht hindurch, wie in einer Vorahnung dessen, was mir der folgende Tag bringen sollte.
Am Morgen kamen in den Korridor vor meiner Box der Gestütsdirektor, der Stallmeister, ein paar Stallknechte und Pferdehüter, und es erhob sich ein furchtbarer Lärm. Der Direktor fchrie den Stallmeister an; der Stallmeister verteidigte sich, er habe verboten gehabt, mich herauszulassen, und die Stallknechte hätten es eigenmächtig getan. Der Direktor sagte, er werde sie allesamt durchpeitschen lassen, dass junge Hengste nicht zu halten seien, hätten sie wissen müssen. Der Stallmeister versprach, er werde alles ausführen. Sie schwiegen endlich und gingen fort. Ich hatte nichts begriffen; aber ich sah, dass sie etwas Schlimmes mit mir vorhatten.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tags darauf hörte ich für mein lebelang auf zu wiehern; ich wurde, so, wie ich jetzt bin. Die ganze Welt hatte in meinen Augen eine andere Gestalt bekommen. Nichts machte mir Freude; ich vergrub mich in mich selbst und wurde nachdenklich. Anfangs war mir alles zuwider. Ich hörte sogar auf zu trinken, zu fressen und zu gehen; und nun gar an Spielen dachte ich überhaupt nicht mehr. Mitunter kam mir der Einfall auszuschlagen, umherzugaloppieren, zu wiehern; aber sofort trat mir auch die furchtbare Frage entgegen: warum? wozu? Und meine letzte Kraft sank dahin.
Einmal wurde ich abends draussen umhergeführt gerade in dem Augenblicke, als man die Herde vom Felde heimtrieb. Schon von weitem erblickte ich die Staubwolke mit den noch undeutlichen, mir so wohlbekannten Umrissen aller unserer Mutterstuten. Ich hörte das lustige Wiehern und das Getrappel. Ich blieb stehen, obgleich der Strick des Halfters, an dem mich der Stallknecht zog, mir in den Nacken schnitt, und schaute nach der näherkommenden Herde hin, wie man auf ein für immer verlorenes, unwiederbringliches Glück hinschaut. Als sie herankamen, unterschied ich einzeln alle die mir bekannten schönen, prächtigen, gesunden, wohlgenährten Gestalten. Einige von ihnen blickten auch nach mir hin. Ich fühlte nicht mehr den Schmerz, als mich der Stallknecht am Halfter zog. Ich vergass, wer ich war, und begann in Erinnerung an frühere Zeiten zu wiehern und Trab zu laufen; aber mein Wiehern klang traurig, lächerlich und töricht. In der Herde wurde nicht gelacht; aber ich merkte, wie sich viele der Pferde aus Anstandsgefühl von mir abwandten. Ich machte offenbar auf sie einen widerwärtigen, kläglichen, peinlichen und vor allen Dingen lächerlichen Eindruck. Lächerlich erschien ihnen mein dünner, energieloser Hals, mein grosser Kopf (ich war damals sehr mager geworden), meine langen, plumpen Beine, und wie ich aus alter Gewohnheit in ungeschickter Gangart im Kreise um den Stallknecht herumtrabte. Niemand antwortete auf mein Gewieher; ale wandten sie sich von mir ab. Ich begriff plötzlich alles; ich begriff, wie fern ich ihnen allen für immer stand, und ich erinnere mich nicht mehr, wie ich damals hinter dem Stallknecht her nach Hause gekommen bin.
Ich hatte auch früher schon einen Hang zum Ernst und zum Nachsinnen besessen; jetzt nun aber ging in meinem Innern eine entschiedene Umwandlung vor. Meine Buntscheckigkeit, die mir diese seltsame Verachtung seitens der Menschen zuzog, ferner das furchtbare Unglück, das so unerwartet über mich hereingebrochen war, und dazu noch meine eigentümliche Stellung im Gestüt, die ich empfand, aber mir schlechterdings noch nicht erklären konnte, dies alles brachte mich dahin, mich tief in mein Inneres zurückzuziehen. Ich dachte über die Ungerechtigkeit der Menschen nach, die mich dafür verdammten, dass ich ein Schecke war; ich dachte über die Unbeständigkeit der mütterlichen Liebe und überhaupt der weiblichen Liebe nach und über ihre Abhängigkeit von physischen Zuständen; ganz besonders aber dachte ich über die Eigenheiten jener sonderbaren Gattung von lebenden Wesen nach, mit der wir in so enger Verbindung stehen, und die wir Menschen nennen, über diejenigen Eigenheiten, deren Folge jene Besonderheit meiner Stellung im Gestüt war, die ich wohl empfand, aber nicht begreifen konnte.
Was es mit dieser Besonderheit und mit den menschlichen Eigenheiten, auf denen sie beruhte, für eine Bewandtnis hatte, das entdeckte ich bei folgender Gelegenheit.
Es war im Winter, in der Festzeit. Einen ganzen Tag lang erhielt ich kein Futter und auch nichts zu trinken. Wie ich nachher erfuhr, war dies daher gekommen, dass unser Stallknecht betrunken war. An demselben Tage kam der Stallmeister zu mir herein, sah, dass ich nichts zu fressen hatte, und schimpfte in sehr starken Ausdrücken auf den nicht anwesenden Stallknecht. Dann ging er wieder weg.
Am andern Tage kam der Stallknecht mit einem seiner Kameraden in unsere Box herein, um uns Heu zu geben. Ich bemerkte, dass er auffällig blass und in trüber Stimmung war, und dass namentlich die Art, wie er seinen langen Rücken bewegte, eine besondere Bedeutung und etwas Mitleiderregendes hatte.
Grimmig warf er das Heu hinter die Raufe. Ich wollte meinen Kopf über seine Schulter schieben; aber er schlug mich mit der Faust so schmerzhaft auf das Maul, dass ich zurücksprang. Dann gab er mir noch mit dem Stiefel einen Tritt gegen den Bauch.
,Wenn dieses verdammte Aas nicht wäre,‘ sagte er, ‚dann wäre nichts passiert.‘
,Was ist denn gewesen?‘ fragte der andere Stallknecht.
,Ja, nach dem Grafen seinen Pferden, da sieht er nicht nach; aber bei seinem, da revidiert er den Tag zweimal.‘
,Ist ihm denn der Schecke geschenkt worden?‘ fragte der andere.
,Ob verkauft oder geschenkt, das weiss der Teufel. Dem Grafen seine Pferde, wenn die auch alle vor Hunger krepieren, das ist ihm ganz egal; aber wenn man sich beikommen lässt, seinem Füllen kein Futter zu geben! „Leg dich bin!“ sagt er. „Und nun haut ordentlich zu!“ Er hat kein Christentum. Das Vieh tut ihm mehr leid als ein Mensch. Man merkt, dass er kein Kreuz auf der Brust trägt; er hat selbst die Hiebe gezählt, der Barbar! Selbst der Direktor hat mich noch nie so hauen lassen; mein ganzer Rücken ist voll Striemen; man sieht, er hat kein christliches Herz im Leibe.‘
Was sie vom Durchpeitschen und vom Christentum sagten, das verstand ich ganz gut; aber vollständig dunkel war mir damals noch, was der Ausdruck ,sein Füllen‘ bedeutete, aus welchem ich ersah, dass die Menschen irgendwelche Beziehung zwischen mir und dem Stallmeister annahmen. Worin diese Beziehung bestand, konnte ich damals schlechterdings nicht begreifen. Erst viel später, nachdem man mich von den andern Pferden getrennt hatte, verstand ich, was das bedeutete. Damals konnte ich gar nicht begreifen, was das eigentlich heissen sollte, dass sie mich als das Eigentum eines Menschen bezeichneten. Der Ausdruck ,mein Pferde‘ bezog sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und erschien mit ebenso seltsam wie solche Ausdrücke: ,mein Land‘, ,meine Luft‘, ,mein Wasser‘.
Aber diese Worte hatten mir einen gewaltigen Eindruck gemacht. Unaufhörlich dachte ich darüber nach; aber erst lange nachher, nachdem ich die mannigfachsten Beziehungen zu den Menschen durchgemacht hatte, begriff ich endlich, welche Bedeutung die Menschen diesen sonderbaren Worten beilegen. Diese Bedeutung ist folgende: Für die Menschen sind im Leben nicht Taten das Bestimmende, sondern Worte. Es kommt ihnen nicht sowohl auf die Möglichkeit an, etwas zu tun oder nicht zu tun, als vielmehr auf die Möglichkeit, mit Bezug auf allerlei Gegenstände gewisse Worte von konventioneller Bedeutung zu gebrauchen. Solche Worte, die bei ihnen für sehr wichtig gelten, sind die Worte ,mein, meine‘, deren sie sich in bezug auf die verschiedensten Dinge, auf lebende Wesen und leblose Gegenstände, bedienen, sogar in bezug auf den Erdboden, auf Menschen und auf Pferde. Sie haben untereinander festgesetzt, dass von ein und demselben Dinge immer nur einer ,mein‘ sagen darf. Und wer nach diesem unter ihnen vereinbarten Spiel von der grössten Anzahl von Dingen ,mein‘ sagt, der gilt bei ihnen für den Glücklichsten. Weshalb das so ist, weiss ich nicht; aber es ist so. Früher habe ich mich lange bemüht, mir das aus irgendwelchem unmittelbaren Vorteil zu erklären; aber eine solche Erklärung erwies sich als unzutreffend.
Zum Beispiel: viele von den Menschen, die mich ihr Pferd nannten, ritten gar nicht auf mir; sondern es ritten auf mir ganz andere Leute. Es füttert...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. I
  4. II
  5. III
  6. IV
  7. V
  8. VI
  9. VII
  10. VIII
  11. IX
  12. X
  13. XI
  14. XII
  15. Über Der Leinwandmesser
  16. Anmerkungen