Aufsätze BARBARA WIEDEMANN
„Celan zerrüttet, C.G. zerrüttet, die ganze Welt ein Hospital.“
Neues Material zur sogenannten Goll-Affäre
Das Franz-Michael-Felder-Archiv in Bregenz konnte in den Jahren 2018 und 2019 unter anderem Material aus dem Nachlass des Darmstädter Buchhändlers und Sammlers Robert Warnebold (1934 – 2017) zur sogenannten Goll-Affäre erwerben, das aus dem Besitz des US-amerikanischen Germanisten Richard Exner (1929 – 2008) stammt. Wie die entsprechende, ebenfalls im Archiv befindliche Korrespondenz zeigt, sind die Dokumente 1981 an Warnebold verkauft und persönlich übergeben worden. Im Mai 1981 schreibt Exner nach Darmstadt: „Mir wäre es recht, wenn Sie die ganze Celan/Goll Sache übernähmen. Eines Tages nach soundsoviel Jahren kann dann ja jemand drüber schreiben. Mich interessiert es nicht mehr. Nur noch als Wert.“1
Diejenigen aber, die sich heute mit dem, was Exner „Celan/Goll Sache“ nennt, oder ganz allgemein mit der Atmosphäre in der Bundesrepublik Deutschland um 1960 beschäftigen möchten, muss es interessieren. Denn das neu zugängliche Material ist eine wertvolle Ergänzung zu den vielen hundert Dokumenten, die ich für meine Dokumentation Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘2 gesichtet habe und, was die Briefe betrifft, nur in Auswahl publizieren konnte, aber eine Ergänzung auch zu den zahlreichen Publikationen von Personalbriefwechseln Celans, die folgten. Neben dem Pressematerial stand mir damals noch Unpubliziertes – Notizen von Celan und Claire Goll sowie Briefe – vorwiegend aus Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) und dem ebenfalls dort befindlichen Teilnachlass von Yvan und Claire Goll zur Verfügung, ergänzt durch weiteres Marbacher Material anderer Herkunft, dazu Einzelnes aus anderen Archiven und Privatbeständen – der von Richard Exner gehörte nicht dazu.
Richard Exner hatte mir 1998 bei einem Gespräch in München mitgeteilt, dass er sein Material zur Sache teils vernichtet, teils verkauft habe. Obwohl es durchaus in seinem Interesse lag, das eine oder andere von Dritten genannte Dokument, auf das ich ihn hinwies, noch aufzufinden, erfuhr ich nie den Käufer. Möglicherweise wollte er vermeiden, dass ich Einblick in ihm unangenehme Briefe Claire Golls an ihn nehme, die er bis zu seinem Tod der Diskretion Warnebolds anvertraut hatte.3 Auch durch spätere Bestandsergänzungen in Marbach, etwa die Verlagsarchive der Deutschen Verlags-Anstalt und des S. Fischer Verlags, aber auch durch Vor- und Nachlässe in anderen Archiven konnten die Lücken nicht gefüllt werden; zum Teil waren sie nicht einmal bekannt.
Der Name Richard Exner ist insofern eng mit der Affäre verbunden, als er sie letztlich ins Rollen gebracht hat, ohne damals allerdings Hintergründe oder Tragweite kennen zu können. Bei einer Lesung von Claire Goll aus Yvan Golls Nachlass-Band Traumkraut4 in Los Angeles Anfang August 1953 fielen dem aufmerksamem Lyrik-Leser Ähnlichkeiten mit Celans Mohn und Gedächtnis5 auf, mit dem er sich gerade intensiver beschäftigte, und er sprach mit ihr darüber. Diese Ähnlichkeiten gibt es tatsächlich, und sie sind weder zufällig noch, wie später nur scheinbar entlastend formuliert wurde, in der europäischen Moderne kursierenden „wandernde[n] Bilder[n]“6 zu danken. Ich fasse hier die der Affäre zugrundeliegenden Vorgänge in der gebotenen Kürze zusammen; dabei verzichte ich auf das Teilproblem der Celanschen Goll-Übersetzungen, die im Zusammenhang mit Exner keine Rolle spielen.
Celan lernte das Ehepaar Goll Anfang November 1949,7 knapp vier Monate vor Yvan Golls Tod an Leukämie, kennen und machte ihnen ein Exemplar des in Wien erschienenen Gedichtbands Der Sand aus den Urnen8 zum Geschenk. An Yvan Golls im Dezember 1949 und Januar 1950 geschriebenen, letzten deutschen Gedichten, die 1951 postum in Traumkraut publiziert wurden, lässt sich eine gewisse Begeisterung für den Ton der zwischen 1945 und 1948 in Bukarest und Wien geschriebenen Gedichte heraushören, die in Celans Debütband den mittleren Zyklus bilden.9 Traumkraut lag bei Golls Tod Ende Februar 1950 nicht schon als abgeschlossener Zyklus vor; vielmehr besteht der Gedichtnachlass aus einer größeren Anzahl unfertiger Gedichte und Gedichtfragmente, teils in deutscher, teils in französischer Sprache. Seine Witwe Claire Goll publizierte aus diesem Fundus mehrere Nachlassbände, dafür hatte sie bis Ende Januar 1952 Celans Widmungsexemplar von Der Sand aus den Urnen zur Verfügung10 und nützte es ganz offenbar. Aus dem Band Traumkraut geht jedoch nicht hervor, dass Claire Goll nicht nur für das Vorwort verantwortlich zeichnet, sondern als Herausgeberin auch für die Textgestalt der Gedichte.11 Im Marbacher Gedichtnachlass lassen sich heute Bearbeitungen auch von noch zu Lebzeiten Yvan Golls erfolgten, also von ihm autorisierten Drucken nachweisen, die durch keine Autographe gedeckt sind.12
Die meisten Bukarester und Wiener Gedichte wurden von Celan als erster Zyklus in Mohn und Gedächtnis übernommen, nachdem er den Wiener Band wegen Druckfehlern zurückgezogen hatte. Von dem Band wusste Claire Goll zunächst nichts, weil sie sich zum Erscheinungszeitpunkt Ende 1952 schon in den USA aufhielt.13 Nach Exners Hinweis 1953 verschickte sie einen mehrfach variierten Rundbrief an Kritiker sowie Angehörige von Verlagen und Rundfunkanstalten mit dem deutlichen Ziel, Celan im westdeutschen Literaturbetrieb zu schaden.14 Ob Exner der Text des Rundbriefs in der einen oder anderen Form damals zugänglich war, ist nicht mehr zu klären. Die partielle Übereinstimmung von Der Sand aus den Urnen mit Mohn und Gedächtnis erkannte Claire Goll wohl lange nicht, wenn sie sich überhaupt je damit beschäftigte. Im hier gesichteten Material spielt Celans Debütband keine Rolle, und zwar auch dann nicht, nachdem Exner 1960 eine Abschrift des Rundbriefs in Händen hielt und von mehreren Gesprächspartnern eine Fotokopie hätte erbitten können.
Das aus Richard Exners Besitz stammende Material zur Goll-Affäre besteht aus 32 Dokumenten aus den Jahren 1953 – 1957 und 1960/61, von denen vier als Briefbeilagen einzustufen und jeweils im Konvolut befindlichen Briefen zuzuordnen sind.15 Es handelt sich um Korrespondenzen Exners mit Claire Goll und Paul Celan, mit dem US-amerikanischen Romanisten Francis Carmody, mit dem Verleger Celans seit 1959 Rudolf Hirsch vom S. Fischer Verlag, mit Reinhard Döhl, dem Autor einer 1961 erschienenen Untersuchung der Vorwürfe Claire Golls für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sowie mit dessen Auftraggeber, dem Stuttgarter Ordinarius Fritz Martini.
Die vier Beilagen sowie elf der 28 Briefe sind aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach bekannt und teilweise auch publiziert, darunter die an Celan versandten und einer von ihm;16 17 Briefe aber sind bisher in keiner anderen Sammlung nachgewiesen. Was Exner vernichtet hat, ist dem Material nicht zu entnehmen. Es fällt freilich auf, dass wohl keine der von Warnebold erworbenen Korrespondenzen vollständig ist; das Fehlende ist zum Teil aus den Marbacher Beständen ersichtlich. Nicht nur Erkenntnisse aus bisher nicht bekannten Inhalten sind also zu erwarten, sondern auch am Vergleich mit dem anderweitig Nachgewiesenen zu gewinnende Einsichten in die Absichten und Anliegen mancher Beteiligten bei ihrer Selbstdarstellung, die daran sichtbar werden, dass bestimmte Dokumente aufbewahrt wurden, andere nicht.17 Hier kann nur ein Überblick über den ‚Mehrwert‘ versucht werden, den der Bregenzer Bestand für die Forschung darstellt.
Unsere Kenntnis von Briefen Claire Golls an Exner wird nicht nur um die beiden handschriftlichen Briefe18 – erweitert, für die die Absenderin keinen Beleg behalten konnte, sondern auch um maschinenschriftliche. Nicht verwunderlich und umso wertvoller in unserem Zusammenhang ist daher ihr Brief vom 17. Juni 1956, in dem sie Exner offen und im Übrigen ohne Unrechtsbewusstsein mitteilt, dass sie für den gerade bei Seghers in Paris erschienenen Sammelband Poètes d’aujourd’hui – Yvan Goll seinen Aufsatz La poésie allemande d’Yvan Goll, für den sie als Übersetzerin zeichnet, am Schluss ohne Rückfrage beim Autor bearbeitet hat:
„Anstatt der langen Zitiererei, die die Franzosen nicht sehr interessiert hätte, setzte ich die herrlichen Sätze aus Deinem englischen Essay über Yvan, wobei der Celan (ohne genannt zu werden) doch die ihm gebührende Maulschelle abbekommt. Es war nötig, er verbreitete nämlich neustens, dass Yvan ‚von ihm abgeschrieben‘ habe!!“.19
Ein solches Selbstbekenntnis zu Manipulationen an einem fremden Text, den sie selbst später immer wieder als...