Brochs frühe Kulturkritik – und der Brenner
von Monika Ritzer (Universität Leipzig)
„Der Brenner ist natürlich eine Jugendschande“, schrieb Hermann Broch im November 1931 an seinen Verleger Daniel Brody.1 In Rede stand der 1913 im Brenner erschienene Thomas-Mann-Essay Philistrosität, Realismus, Idealismus der Kunst. Doch hätte sich Broch wohl mit gleicher Verve auch von den beiden anderen größeren Publikationen (von insgesamt vier) distanziert, dem Gedicht Mathematisches Mysterium (1913) und dem Essay Ethik (1914). Und erst recht wäre jene eigentliche ‚Jugendsünde‘ der Verdammnis verfallen, die teilweise noch vor Brochs Bekanntschaft mit dem Brenner konzipierten Notizen zu einer systematischen Ästhetik, die der Herausgeber, Ludwig von Ficker, 1913 gar nicht zum Abdruck angenommen hatte, wenn auch eher im Blick auf Brochs ostentativ rationalistische Herangehensweise als im Blick auf die schrillen Inhalte.
So könnte man gerade auch dieses leicht wirre Frühwerk mit Zustimmung des Autors ad acta legen – würde sich im Übergang von den beiden Vorarbeiten, den Manuskripten Kultur 1908 und 1909, zu den eingereichten Notizen von 1912/13 und mehr noch zu den abgedruckten Arbeiten nicht eine gedankliche Entwicklungslinie spiegeln, die von jener frühen, noch zeittypisch synkretistischen Ästhetik zu Brochs autogen philosophischem Denken führt. Der Brenner fungiert dabei keineswegs nur als Publikationsorgan. Vielmehr waren es gerade die in Brochs sporadisch nachzuweisender Lektüre aufgenommenen Anregungen, die jene Entwicklung initiierten oder zumindest forcierten. Im Fokus dieses Beitrags stehen daher die bisher kaum beachteten Brenner-Reflexe, die Brochs Frühwerk in wesentlichen Aspekten modifizieren.
Dekadenz und Vitalismus
In der Tat eine Jugendsünde: Die beiden Manuskripte zur Kultur der Jahre 1908 und 1909 summieren in souverän lässiger Haltung gängige Argumente der zeitgenössischen Kulturkritik.2 Dekadenz allenthalben, die Kultur läuft aus in einer technokratisch ‚oberflächlichen‘ Zivilisation, deren Sinnbildlichkeit bereits Nietzsche thematisierte. Georg Simmel beschrieb in der Philosophie des Geldes das Übergewicht der objektiven Kultur über die kulturerneuernden Kräfte; Wilhelm Dilthey monierte „die Herrschaft der Wissenschaft über das Leben“, der Planet „schrumpft gleichsam unter unseren Füßen zusammen“.3 Zivilisationskritik ist en vogue, und als müsste er sich einer lästigen Aufgabe entledigen, lässt der junge Broch den Niedergang der auf räumliche wie intellektuelle Exploration ausgerichteten „weißen Zivilisation“ Revue passieren, die sich mit ihren „Expansionsmöglichkeiten“ erschöpft: „Die Pole sind entdeckt. Das ist der Schlußpunkt.“ (KW 10/1, 27f.)4 Die Vernunft, als funktionelle „Denkweise der Erfahrung“ längst nur noch „Verstand“, stagniert in der Anhäufung und Katalogisierung verfügbaren Wissens (KW 10/1, 27f.), ein etwas verspäteter Chandos-Brief also. Verloren ging mit der Verflachung das eigentlich Menschliche, nenne man es Subjekt, Geist, Seele oder Ich. Wir sind „Fremdlinge in der Welt, weil wir Fremdlinge in uns selbst geworden sind“, schreibt der Basler Philosoph Karl Joel in dem Bestseller Seele und Welt.5 Es gilt, den Mensch wieder in die Mitte seiner kulturellen Wirklichkeit zu stellen – ein Ziel, das Broch lebenslang mit unterschiedlichen Strategien verfolgen wird.
Bereits für den jungen Kulturkritiker scheint der Zeitpunkt gekommen, „in welchem die Lebensrätsel im Rahmen der europäischen Kultur gelöst werden könnten“, und darum geht es auch in den folgenden Überlegungen (KW 10/1, 11). Denn wie Hofmannsthal tastet auch Broch nach dem Unmittelbaren; in einer total begriffenen Welt hat nur „das Vitale […] die Kraft für das Wunder des Unbegreiflichen“ (KW 10/1, 11). Reservoir der Kultur wäre eine aus den Urgründen des Animalischen quellende Spontaneität – zeitgleich plant Otto Wagner für Wien ein Denkmal mit dem Titel Kultur, das eine ätherische Jungfrau auf einem wilden Raubtier sitzend zeigt.6 Auch Brochs unterschwelliger Vitalismus ist also in der Kulturkritik des ersten Jahrzehnts nichts eben Neues („Dionysos, Vater aller Kunst!“),7 wenngleich er an Drastik etwas zulegt. Ein „Atavismus“, heißt es von der Kunst als Konzentration der kreativen Kräfte, „dumpf und triebhaft“, der Künstler „Geschlechtstier“, pure „Sexualität“ (KW 10/1, 12f.), nun wie erstickt unter der bleiernen Decke der Zivilisation. Während alles Intuitive zu naiver Heimatkunst degeneriere, so Broch, kombiniere der „Bewußtseinskünstler“, obgleich hochgehalten von Intellektuellen wie Karl Kraus, effektvolle Klischees. Vergeblich wollte man die Trends der Moderne mit Leben füllen: Naturalismus, Impressionismus, Wagners Musikdrama, Adolf Loos’ Ingenieursarchitektur, das L’art pour l’art, sämtlich nur Scheinerfolge. Abseits stünden die wenigen „Erkenner“, die noch nach der Ursensation tasteten, Van Gogh oder aktuell Kokoschka. Doch führten auch sie bereits einen aussichtslosen Kampf gegen das traditionsbelastete Gehirn. Das Satyrspiel der absterbenden Kultur, so ein Binnentitel, bilde das niveauvolle Parlieren über Kunst oder auch das geistreiche Feuilleton, elegant arrangiert auf den Salontischen der Bourgeoisie (KW 10/1, 13).
Der 22-Jährige weiß, wovon er spricht. Seit kurzem ist Broch Assistenzdirektor in der Spinnfabrik in Teesdorf bei Wien, die sein Vater im Blick auf die industrielle Karriere seiner beiden Söhne gekauft hatte. Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums als Textilingenieur unternahm der Ältere im Spätherbst 1907 eine Studienreise in die USA, „im Dienste der Baumwolle“, wie er später schreibt (KW 13/3, 287), aber mit Folgen nicht nur für die kulturskeptische Psyche. Denn der Europamüde empfing hier die entscheidenden Anregungen zur ‚Lösung des Lebensrätsels‘. In den afroamerikanischen Gottesdiensten der Südstaatenkirchen, die er in Georgia staunend miterlebte, spürte er nämlich die Manifestation längst verloren geglaubter Vitalität. „One-and-two-and-three-and …“ betete die Menge, „stundenlang bis zu hysterischen Schreien und dem Aufleben längstvergessener afrikanischer Tänze“ (KW 9/2, 20).8 Dieses ‚Urerlebnis‘ ekstatischer Rhythmik der Körper bildet das letzte Steinchen im Mosaik der Kultur, das er 1908 aus den Versatzstücken zeitgenössischer Zivilisationskritik und ersten philosophischen Lesefrüchten zusammenfügt. Tanz, Kampf und Sexualität und ihre Umsetzung in Musik und Ornamentik: sämtlich Ausdrucksformen einer ursprünglichen, den Menschen als Körperwesen durchdringenden Vitalität.
Ein Touch Expressionismus, nur geht der junge Broch damit wenig expressiv um. Er geriert sich nämlich in leicht ironischer Brechung selbst als Rationalist und damit Repräsentant des „Denksystems, dem wir angehören“ (KW 10/1, 11). Die Climax ist daher der folgende Passus des Essays überschrieben, in dem er Bewegungen berechnet, Formeln aufstellt und Beweise durchführt. Schließlich werde die gesamte Kultur demnächst in Gestalt einer „mathematischen Ästhetik“ enden (KW 10/1, 13). Was also „kann unser armes Gehirn als ursprünglich denken?“ (KW 10/1, 14) Mit Hilfe von ein paar rasch skizzierten Gleichungen stößt der Autor zu einem „Ursprung des Lebens“ vor, der sich ihm als pulsierende Urbewegung darstellt, und „Haeckel möge seine Freude daran haben“, heißt es unter Bezug auf den vorgeblich naturwissenschaftlich argumentierenden Monisten Ernst Haeckel (KW 10/1, 15).9
„Wir fanden, monistisch gesprochen, den Quell des Lebens in der mathematisch bedingten Konzentration der Materie“, lautet das Resümee unter dem Titel Der große Beweis, „und leiteten die Lebenstätigkeit als die Gegenenergieentfaltung ab, das Ganze ein ausgedehntes Pendelschwingen“ (KW 10/1, 16). Relevant sind daran nur die Strukturmomente – der duale Stampfrhythmus, die figurale Terz, das interpolare Gleichgewicht – und ihre weltanschauliche Funktion. Denn zu erweisen wäre für Broch gerade angesichts der beklagten Entfremdung, dass und wie sich in den künstlerischen Ausdrucksformen und mehr noch im ästhetischen Erleben ein ontologisches Prinzip manifestiert, das strukturell wie in seiner Wechselwirkung den zivilisatorischen Weltverlust unterläuft. Kunst und Ästhetik sind ja durchaus, wie Wilhelm Worringer zeitgleich in Abstraktion und Einfühlung treffend bemerkt, „eine fortlaufende Registrierung“ der Auseinandersetzung, in der sich Mensch und Außenwelt befinden.10
Im Rückblick auf sein Südstaatenerlebnis kann Broch den ästhetischen Beweis liefern. „Der Terzrhythmus verbindet den Geist mit der Umwelt, er pulsiert in beiden, er stampft im Geschlecht, er ist die Kunst, er ist es, der den Geist zu etwas schön sagen läßt. Er ist der Sinn des Lebens, der Lebensbejahung“ (KW 10/1, 16). Ob physische Rhythmik oder mentale Terz: Wir werden von ihrer Manifestation ergriffen, heißt es in einer durchgestrichenen Passage im Notizbuch, „weil es unser eigendstes Wesen ist“.11
En passant verweist Broch auf die „moderne Kunstpsychologie“ (KW 9/2, 16), die – wie vor allem die populäre Einfühlungsästhetik von Theodor Lipps – in der Tat alle genannten Motive der Ein- und Einsfühlung perfektioniert. Alle Kunst will für Lipps nämlich das gleiche, und zwar „Leben in eine sinnliche Erscheinung bannen und uns darin unmittelbar finden und fühlen, erleben und genießen lassen“.12 Schön heißt ein Objekt, weil es auf der Basis erlebter Isomorphie von Ich und Welt in uns ein ‚Schönheitsgefühl‘ erweckt. Schönheit ist daher gefühlte und kreativ gestaltete Lebensbejahung, jede Ornamentierung bedeutet für Lipps eine sinnbildliche „Spiegelung des […] Ichs in der Außenwelt“.13 „Verschönen“ heißt, so Broch zustimmend, auf den Dingen die unserem Lebensrhythmus korrespondierenden Maße darstellen (KW 10/1, 17). Das ist beste Jugendstilästhetik. „Ein Prinzip und ein Rhythmus“ durchdringen die „neue Ornamentik“, schwärmt der Designkünstler des Jugendstils, Henry van de Velde.14 Die ‚Zweckmäßigkeit‘, die im aktuellen Disput mit dem Architekten Adolf Loos zur Streitfrage gerät, sieht Broch bereits in dieser vitalen Stimmigkeit der Formen verwirklicht (KW 10/1, 17).
Kein Wunder, dass er sich in seinem ästhetischen Ansatz durch die in Wien allgegenwärtige „Tatsache des Kunstgewerbes“ bestätigt sieht (KW 9/2, 22). Und das ist durchaus positiv zu sehen: Da ...