In fremden Händen (eBook)
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In fremden Händen (eBook)

  1. 200 Seiten
  2. German
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In fremden Händen (eBook)

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Eines Tages wird für Estelle und Jon, ein in Paris lebendes französischamerikanischesEhepaar, der Albtraum aller Eltern Realität: Bei einem Schulausflug in das Musée d'Orsay verschwindet ihre neunjährige Tochter Jennifer spurlos. Wochen und Monate vergehen ohne einen Hinweis. Während Jon Handzettel in der Métro und an Busbahnhöfen verteilt, zieht sich Estelle in die Einsamkeit des Apartments zurück und wartetauf das Klingeln des Telefons. Ihre Beziehung leidet unter der enormen Anspannung und der zunehmenden Hoffnungslosigkeit, und bald stelltsich die Frage, ob im Falle einer Rückkehr Jennifers überhaupt noch eine Familie übrig wäre. Dann stürzt sich Jon in eine Affäre mit einer Künstlerin, und die Dinge nehmen eine dramatische Wendung...Eine atmosphärische Paris-Novelle in der Tradition Hemingways und Camus'.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783747203231
1
Wenn sie kommt, wirst du es merken, wenn sie kommt, wirst du es merken, wiederholte Jon stumm. Sie kam und ging, und er merkte es erst zwei Stationen später. Er hatte sie gezählt, bevor er in die Metro stieg. Acht Haltestellen. Und er zählte, weil er die Schilder an der Wand in den Stationen nicht sehen konnte. Weil die dicht gedrängten Leiber und Köpfe der Pariser zur belebtesten Zeit des Abends die Türen versperrten. Also zählte er und stand in der Mitte und zog bei jeder Haltestelle eins ab. Drei hatte er noch, und genau da begann er zu wiederholen: Wenn sie kommt, wirst du es merken. Und dann dachte er an Estelle, die zu Hause in der Wohnung neben dem Telefon saß und ihre Flugblatt-Kampagne für stark frequentierte Straßenecken, Bushaltestellen und U-Bahn-Linien organisierte, und jetzt merkt er, dass er zwei Haltestellen zu weit ist.
»Scheiße«, murmelt er, und ein Mann mit einer Tasche voller Lebensmittel sieht ihn verständnislos an.
Geplant war, dass Jon vor dem Ansturm um sechs Uhr Stellung bezog, um in der Metro-Station Gare du Nord die Flugblätter zu verteilen, aber er kehrte auf einen Drink ein, aus dem drei wurden. Er weiß, dass Estelle es nicht erfahren wird. Sie lässt das Telefon nicht aus den Augen für den Fall, dass die Polizei anruft. Und sie verlässt sich darauf, dass er seine Sache gut macht. Aber er hatte einen Drink gebraucht. Er kann nicht anders, als etwas zu trinken, bevor er mit einem Stapel orangefarbener Flugblätter in die Metro steigt, in der Mitte ein Foto seiner neunjährigen Tochter umgeben von »AIDEZ-NOUS À RETROUVER JENNIFER« in fetten schwarzen Buchstaben. Er kann einfach nicht anders.
Die Metro hält, und er drängt sich inmitten einer Menschenmenge aus der Tür. Er lässt sich mit ihr durch die Gänge der Haltestelle Rue Montmartre treiben. Er muss Treppen hinauf und hinunter und durch einen rundlichen Korridor, um auf die andere Seite der Gleise zu gelangen. Überall Menschen in steter Bewegung, bereit nach Hause zu gehen, die Beine hochzulegen, zu Abend zu essen, ihre Zeitung zu lesen. Der Zug fährt ein, und diesmal konzentriert er sich, steigt spät ein, damit er in der Nähe der Tür bleiben und aus dem Fenster schauen kann. Zwei Haltestellen zurück zum Gare du Nord, wo fünf Metro-Linien und halb Paris aufeinandertreffen, und es alle Arten von Gesichtern gibt – alte, hübsche, abgespannte, lachende, skeptische, weiße, braune, runde, schmale, kindliche, eingefallene. Keines davon ist Jennifers. Kein kleines Mädchen mit dünnem gewellten Haar und grünen Augen, in Jeans und mit einem pinken Rucksack und einer dicken Jacke. Zwei Monate, und nichts war geschehen. Seit zwei Monaten schwirrt sie so durch seinen Kopf. Er bleibt am Fuß der Rolltreppe inmitten einer unruhigen Menschentraube stehen und verteilt die orangefarbenen Flyer. Manche nehmen sie, andere ignorieren sie. Wer einen nimmt, faltet ihn und steckt ihn ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Vielleicht werden sie ihn später finden, wenn sie in ihre Hosen- oder Handtaschen greifen, um noch ein Brot auf dem Nachhauseweg zu kaufen. Dann werden sie sich wundern: Wie ist der hierhergekommen? Und er fragt sich das Gleiche. Dieser Tag, dieser Augenblick, dieser Weg hierher, dieses Stehen an der Rolltreppe. Wie ist er hierhergekommen? Dieses langsame, langsame Ticken der Uhr. Die Menschenmenge löst sich allmählich auf, als die Abstände zwischen den Bahnen länger werden. Von den zweihundert Flyern behält er fünf, um sie an den Ausgängen zu befestigen, die hinauf auf die Straßen führen.
Er betritt die Rolltreppe, und die Frau eine Stufe vor ihm sieht, was er in der Hand hält, und sagt: »Die hab ich schon gesehen. In den Nachrichten. Sie haben sie immer noch nicht gefunden?«
Jon schüttelt den Kopf und sagt: »Noch nicht.«
»Sie sollten noch mal ins Fernsehen gehen«, sagt sie und dreht sich um. Er ist sich sicher, dass er seine Hände um ihren Hals legen und sie erwürgen könnte, wenn nur das Gesetz es erlauben würde.
Auf den Wegen zu den Aus- und Eingängen herrscht organisiertes Chaos, und er wird mehrfach beinahe umgerissen, als er sich seinen Weg durch den Verkehr bahnt. Als er endlich den letzten Flyer aufgehängt hat, sieht er auf seine Uhr und stellt den Timer auf dreißig Sekunden. Dann zählt er, wie viele Menschen das Flugblatt ansehen.
Zwei. Einer mehr als letzte Woche, als er am Gare de l’Est stand.
Er steigt in die Metro und fährt zurück nach Hause. Im Café am Ende seiner Straße serviert Monsieur Conrer ihm einen weiteren Drink, und als er in die Wohnung geht, sitzt Estelle auf einem Hocker neben dem Telefon in der Küche, eine Zigarette in der einen und einen roten Stift in der anderen Hand. Sie schaut auf, zieht an ihrer Zigarette und fragt: »Wie war’s?«
***
Sie haben aufgehört, im selben Zimmer zu schlafen, weil sie eh nicht schlafen. Estelle nimmt die Couch, und Jon liegt im Schlafzimmer. Er hört sie die ganze Nacht – sie geht auf und ab, öffnet die Kühlschranktür, zappt durch die Kanäle. Jon versucht vergeblich einzuschlafen, indem er sich vorstellt, sie befänden sich auf einem langen Urlaub, und Jennifer wäre bei Freunden geblieben. Manchmal kommt Estelle ins Schlafzimmer und schmiegt sich dicht an ihn, legt ihren Kopf auf seine Brust und rollt sich zu einem kleinen Ball zusammen. Sie riecht nach einer Mischung aus Parfüm, Zigaretten und Kaffee. Aber sie bleibt nie lange neben ihm liegen.
An langen Nachmittagen, wenn sie allein in der Wohnung sind, hat jeder von ihnen schon versucht, in Jennifers Zimmer zu gehen und ihr Bett zu machen, ihre Schuhe in den Schrank zu räumen und das Modemagazin für Teenager zuzuklappen, das aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch liegt. Jon hatte gelacht, als sie es ihm in der Buchhandlung hingehalten und gesagt hatte, sie brauche es. »Du brauchst es? Neun ist eine einstellige Zahl. Diese Informationen sind für Mädchen, die zweistellige Geburtstage feiern.« Sie sah das Heft an, strich mit der Hand über das Hochglanz-Cover, als erkenne sie sich in dem perfekten Gesicht wieder, das zu ihr aufschaute. »Lass uns doch einfach so tun, als wäre ich zwölf«, sagte sie. Er kaufte es, und sie musste versprechen, ihrer Mutter nichts zu verraten. Was sie natürlich in dem Moment tat, als sie ihre Wohnung betraten. Später an diesem Abend, als Jennifer zwischen ihnen auf der Couch schlief, hatte Estelle die Hand ausgestreckt und Jon einen spielerischen Klaps auf den Hinterkopf gegeben. »Dräng sie nicht.«
Also gehen sie in ihrem Zimmer auf Zehenspitzen herum, um bloß nichts zu verändern. Sie lassen die Tür halb offen und erlauben sich einen flüchtigen Blick auf das Leben, wie es einmal war, wenn sie den Flur hinuntergehen.
Selbst ein auf den Kopf gestelltes Leben besitzt eine gewisse Routine. Estelle bleibt in höchster Alarmbereitschaft in der Wohnung, aber Jon muss zur Arbeit, denn die Welt dreht sich weiter. Also erscheint er jeden Wochentag um neun Uhr in der L’École des Langues, geht zu seinem Schreibtisch, stellt seine Aufgaben für den Tag zusammen und wird dann von all den großen und kleinen Ereignissen eines Büroalltags abgelenkt, bis er abends wieder auf die Straße hinaustritt. Seine Kollegen wissen nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollen. Zu normal, und sie riskieren, gleichgültig zu wirken. Zu verständnisvoll und mitfühlend, und es wird schnell gönnerhaft. Stattdessen schenkt man ihm ein übertrieben vorsichtiges Lächeln, wenn man ihm ein Fax reicht, eine Zigarette anbietet oder nach etwas fragt, das er bereits erledigt haben sollte. Er weiß die leise Sympathie der kleinen Gesten zu schätzen, aber viel lieber wäre es ihm, wenn sie ein Loch in die Seite seines Schreibtischs träten und dabei schrien: »Was zum Teufel ist nur aus der Welt geworden?«
Folgende Geschichte wurde ihnen erzählt – Jennifers Klasse ging mit ihrem Lehrer und einer Begleitperson ins Musée d’Orsay. Ein ganz normaler Ausflug an einem ganz normalen Tag in Paris. Sie war da, als alle im Kreis vor einem van Gogh saßen. Sie war da, als sie im Kreis vor einem Cézanne saßen. Sie war da, als sie im Hof ihre Lunchpakete aßen. Sie war nicht da, als durchgezählt wurde, bevor sie zur Bushaltestelle gingen, um zur Schule zurückzufahren. Sie war nicht da, als der Lehrer sie suchen ging. Sie war nicht auf der Damentoilette. Sie war nicht im Souvenirladen. Sie war nicht im Imbissbereich, um sich einen Schokoriegel zu kaufen, was sie bei Schulausflügen gern mal machte. Sie war nirgendwo.
Die Flugblatt-Kampagne läuft auf Hochtouren und zweimal wöchentlich nach der Arbeit spult Jon das gleiche Programm ab wie am Gare du Nord. Sie wechseln die Farbe von Orange zu Gelb. Estelle findet, das sei im Vorbeigehen leichter zu lesen. Sie versuchen es mit einem etwas größeren Papierformat. Sie schieben die Telefonnummern der Wohnung und des Kriminalbeamten von unten nach oben.
Nachdem er in der Metro-Station Place d’Italie seine Pflicht erfüllt hat, geht Jon in Monsieur Conrers Café direkt neben ihrer Wohnung. Es ist Winter, um halb sieben schon dunkel und die Geschäfte beleuchten den frühen Abend mit ihren gelben Lichtern. Er weiß, dass Estelle wartet, aber er kann noch nicht hinauf, ist noch nicht bereit, seine Verzweiflung zu verbergen. Monsieur Conrer hat bereits ein Glas Whiskey eingeschenkt, als er hereinkommt.
»Wo waren Sie heute?«, fragt er, als Jon sich an die Theke setzt.
»Place d’Italie.«
»Eine gute Stelle. Irgendetwas wird bestimmt passieren«, sagt er. Sein schütteres Haar ist silbergrau und seine Schultern sind gekrümmt. Er hat selbst Kinder und Enkelkinder, und er hat um Jennifer geweint. Es war eine Woche nach ihrem Verschwinden. Jon überredete Estelle an einem Samstagnachmittag, die Wohnung zu verlassen, und sie kamen her und setzten sich an einen Tisch am Fenster. Sie tranken zusammen eine Karaffe Wein und Jon stand auf, um zur Toilette zu gehen. Als er zurückkam, saß Monsieur Conrer bei Estelle, sie hielten sich bei den Händen und weinten leise. Jon trat einen Schritt zurück in die Toilette und beobachtete sie durch einen Spalt in der Tür, bis sie fertig waren. Seitdem ist dies einer der wenigen Orte, zu denen sie überhaupt geht. Monsieur Conrer sagt jeden Tag zu Jon: »Wieder ein Tag weniger, bis Jennifer nach Hause kommt.« Jon trinkt den ersten Whiskey und bestellt einen zweiten.
»Estelle war heute zum Mittagessen hier«, sagt Monsieur Conrer.
Jon hört ihn, antwortet aber nicht. Monsieur Conrer legt sein Päckchen Zigaretten vor Jon, und er nimmt sich eine.
Als der alte Mann diesmal zu Jon sagt, dass sie sie bald finden werden, antwortet Jon: »Die Chancen werden mit jeder Minute geringer. Ich weiß Bescheid.«
»So dürfen Sie nicht denken.«
»Das ist noch das Harmloseste, was mir durch den Kopf geht. Könnten Sie sehen, was ich denke, würden Sie sich auf die Schuhe kotzen.«
»Und so erst recht nicht«, sagt er.
Aber Jon kann nicht anders. Ist es nur einer? Oder zwei oder vier oder wechseln sie sich ab, zahlen eine Gebühr, bringen sie sie eine schmale Gasse hinunter durch eine Tür und verkaufen sie dort im Zehn-Minuten-Takt. Sind auch Frauen dabei? Er will diese Gedanken nicht denken, und er kämpft gegen sie an, wenn sie kommen, aber sie sind so real wie seine Hände und Füße. Wenn er betet, dann betet er, dass es sich wenigstens nur um eine simple Entführung handelt. Monsieur Conrer streckt die Hand mit der Flasche aus und schenkt einen Doppelten ein. Dann klingelt das Glöckchen an der Tür und Estelle kommt herein und setzt sich auf den Hocker neben Jon.
»Inspecteur Marceau hat angerufen und gesagt, er habe die Flyer gesehen, und wir würden das gut machen«, sagt sie, und das hat ihr eine gewisse Genugtuung verschafft, eine Hoffnung, die sich in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegelt.
»Gut. Hat er sonst noch was gesagt?«
»Nur, dass sie hart arbeiten. Und dass wir vielleicht die Belohnung erhöhen sollten.« Sie nimmt eine Zigarette aus Monsieur Conrers Päckchen. »War viel los am Place d’Italie?«
Nein, war es nicht.
»Ja, ziemlich«, antwortet er.
»Können wir auf dreißigtausend erhöhen?«
Angefangen hatten sie mit fünfzehn. Nach einem Monat gingen sie auf zwanzigtausend. »Was immer nötig ist«, sagt Jon und macht den Fehler zu seufzen.
»Das klang jetzt aber nicht besonders überzeugt.«
»Ich sagte, was immer nötig ist.«
»Es geht darum, wie du es gesagt hast.«
»Estelle. Eine Million. Ist mir egal. Ich bin auf deiner Seite.«
»Sprich nicht so mit mir«, sagt sie und wirft ihre Zigarette nach ihm. »Vielleicht sollten wir einfach aufhören. Wir hören einfach auf und ziehen weg und tun so, als hätten wir nie eine Tochter gehabt.«
»Hör auf mit dem Scheiß, ich brauch einfach mal ’ne Pause. Ich bin müde.«
»Ich etwa nicht?«, kontert sie und schlägt mit ihrer Faust auf die Theke. Dann ist sie auch schon aufgesprungen und beginnt zu weinen, bevor sie aus der Tür ist.
Er leert sein Glas und bestellt noch einen.
»Sind Sie sicher, dass Sie noch einen möchten?«, fragt Monsieur Conrer.
»Keine Ahnung.« Er schüttelt den Kopf, zeigt dann auf das leere Glas. »Ja, ich bin sicher«, sagt er. »Lassen Sie mich einfach nur hier sitzen.« Monsieur Conrer schenkt ein und geht, lässt ihm die Einsamkeit, um die er bittet. Jon schaut zu, wie der alte Mann zu anderen Gästen geht, Streichhölzer anbietet, über das Wetter plaudert, und fragt sich, ob er wohl auch so überzeugt, so trostreich sein würde, wenn eines seiner Kinder für immer neun Jahre alt wäre.
***
Schließlich sagt Monsieur Conrer, er werde nicht weiter nachschenken. Jon geht, ohne zu bezahlen, und nimmt die Metro nach Saint-Michel. Er dachte, Whiskey würde wärmen, aber der Wind fegt durch seine leichte Jacke, und er zittert, als er durch Neonlicht und den Duft von Lamm die Rue Saint-Séverin hinaufgeht. Er durchquert das Quartier Latin, geht weiter zum Fluss und den Fußweg entlang.
Schiffe gleiten vorbei, auf denen Kellner in Smokings Wein und Salate an die Tische der hell erleuchteten Kabinen bringen. Weißer Schaum folgt den Booten. Feiner Regen setzt ein. Er erreicht die Pont des Arts und die Lichter von Paris – die teuren Wohnungen am Fluss, die angestrahlte Notre-Dame in seinem Rücken, die Scheinwerfer des Louvre, wie sie nach den Wolken greifen – selbst an einem nebligen Abend scheinen sie golden, irgendwie überirdisch. Viele Male hatte er dort mit Jennifer gestanden, und einmal, als sie auf den Fluss und ihre Umgebung hinunterschaute, sagte sie: »Würde ich springen, dann könnte ich fliegen, wetten?« Dann dachte sie darüber nach und sagte: »Oder wahrscheinlich ertrinken.« Er vermutete, dass sie zu leicht war, um zu ertrinken, aber fliegen, ja, vielleicht. Und er sagte: »Ich bin ziemlich sicher, dass du fliegen könntest, aber lass es uns nicht heute ausprobieren.« Sie streckte die Arme aus und bewegte sie auf und ab. »So«, sagte sie. »So würde ich fliegen.«
Er stellt den Kragen seiner Jacke auf und geht Richtung Musée d’Orsay.
Es sind mehrere Blocks, Zeit genug, dass der Dunst sein Gesicht benetzt und seine Haare anfeuchtet. Er und Estelle hatten dieses Viertel tagelang durchstreift, in alle Richtungen, ausgehend vom Museum suchten sie Jennifers Rucksack, ihre Haarspange oder ihren Ausweis. Sie ist ein kluges kleines Mädchen, versicherte er Estelle immer wieder, klug genug, irgendein Zeichen zu hinterlassen. Aber als aus Tagen Wochen wurden, gestand er sich ein, dass sie nicht klug genug waren, es zu finden. Auf dem Fußweg am Fluss gibt es eine Bank genau gegenüber den Eingangstüren des Museums, und er ist überzeugt, wenn er lange genug dort säße, würde Jennifer um die Ecke kommen oder ihren Kopf hinter einem Baum hervorstrecken und sagen: »Ha! Weißt du noch, wie du mir Hausarrest gegeben hast, weil ich deine Zigarren gestohlen und sie auf dem Schulhof verkauft habe? Das hast du nun davon!«
Er bewegt sich weiter durch den Nebel, und als er die Bank erreicht, ist sie bereits besetzt. Von Estelle.
»Darf ich mich setzen?«, fragt er.
Sie schaut auf und sagt: »So wie du den Weg entlanggeschwankt bist, wär’s wohl besser.«
Eingemummelt in einen dicken Flanellmantel und mit einem Schal um den Hals ist sie besser auf die Nacht vorbereitet als er. Sie sitzt zusammengesunken da, hat die Arme verschränkt und die Hände unter ihre Achseln gesteckt.
»Schon lange hier?«, fragt er.
»Eine Stunde oder so.«
»Hasst du mich immer noch?«
Sie setzt sich gerade auf. »Nicht wirklich.«
»Was, verdammt noch mal, ist nur aus dieser Welt geworden?«, sagt er, und es klingt genau so, wie er sich fühlt.
»Sie hat sich in einen Haufen Scheiße verwandelt, als wir gerade mal nicht hingesehen haben.«
Sie wollen nicht lachen, aber sie tun es trotzdem, und es ist, als wäre das der erste unbeschwerte Moment seit einer Ewigkeit. Wie eine längst vergessene Erinnerung. Sie rückt näher zu ihm, und er legt den Arm um sie.
»Du riechst wie eine Flasche Whiskey«, sagt sie.
»Aber mir geht’s gut. Wo soll ich morgen hin?«
»Nirgendwo. Wir haben keine Flyer mehr. Unsere nächste Bestellung ist erst übermorgen fertig«, sagt sie, dann rutscht sie hinunter und legt ihren Kopf auf seinen Schoß und die Beine auf die Bank. Der Nebel verwandelt sich in ein Nieseln, aber der Wind hat sich gelegt. Sie schließt die Augen. Jon beobachtet, wie Menschen vor dem Musée d’Orsay auf und ab gehen. Sie blicken sich um, legen die Hände um die Augen und spähen ins Foyer. Touristen, die denken, Museen hätten ewig geöffnet. Ein Mann und eine Frau ohne Hut oder Schirm bemerken Jon und Estelle auf der Bank auf der anderen Straßenseite, und sie hasten durch den Verkehr über die Straße zu ihnen. Das glatte Gesicht des Mannes ist nass vom Regen, und die Frau hält schützend die Arme um ihren Körper. Der Mann nimmt ein winziges Wörterbuch aus der Tasche und blättert hektisch darin herum, gibt dann auf und sieht Jon an. Der Mann zeigt über die Straße zum Museum und sagt langsam: »Das Mu-se-um. Of-fen? Wann of-fen?« Und dann macht er mit den Händen eine Bewegung, als würde er ein riesiges Buch aufschlagen.
Jon beugt sich vor und sagt: »Verpisst. Euch.«
Der Mann und die Frau sehen sich an, bestätigen sich, dass sie sich nicht verhört haben. Dann entfernen sie sich den Bürgersteig hinunter und werfen einen letz...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. In fremden Händen
  7. Widmung
  8. Zitat
  9. Kapitel 1
  10. Kapitel 2
  11. Kapitel 3
  12. Kapitel 4
  13. Kapitel 5
  14. Kapitel 6
  15. Kapitel 7
  16. Kapitel 8
  17. Kapitel 9
  18. Kapitel 10
  19. Kapitel 11
  20. Kapitel 12
  21. Kapitel 13
  22. Danksagung