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SAMSTAG, 4. JULI 1992
Es ist jener kurze Augenblick, in dem die aufgehende Sonne auf dem Horizont zu liegen scheint. Man könnte meinen, sie wolle die Spitzen der Bäume nur sanft berührend, den Hügel dort im Osten hinunterrollen.
Das ist ein alberner Gedanke, schießt es Horst Montag durch den Kopf. Nicht weil er ein Physiker im Ruhestand ist – um zu wissen, dass die Sonne nicht einen Berg hinunterrollt, reichen die Kenntnisse eines Fünfjährigen. Sondern weil in der Erhabenheit des Augenblicks für solche Vorstellungen kein Platz ist.
Der 86-jährige schlanke, etwas gebeugt gehende Mann mit noch dichtem grauen Haar wendet sich trotz der Erhabenheit des Augenblicks ab, weil das Licht ihn in seinen empfindlichen Augen schmerzt. Er lehnt sich an den Stamm der Kastanie und folgt mit den Augen dem langen Schatten, den der mächtige Baum über die Terrasse wirft. Links steht das kleine Landhotel, rechts von der gepflasterten Fläche liegt hinter einem schmalen Wiesenstreifen der See.
Das Sonnenlicht fällt noch zu flach auf die Fläche des Wassers, als dass die kleinen Wellen es spiegeln könnten. Der See ist dunkel, hell ist nur die Felswand dahinter. Auch der Wald wirkt schwarz, nur die Sonne scheint golden darüber. Dunkel. Schwarz. So ist auch seine Vergangenheit, denkt der alte Mann. Ob seine Zukunft jemals heller werden wird? Wohl kaum.
Diese Gedanken sind keine nüchternen Überlegungen, eher ein unbestimmtes Gefühl. Es gibt auch keinen rationalen Grund, weshalb sein Leben hell werden könnte. Und doch muntert dieser Sonnenaufgang seine Stimmung auf – denn er ist trotz seiner buchstäblichen Alltäglichkeit und seiner physikalischen Erklärbarkeit ein erhabenes Ereignis.
„Du bist früh wach!“ Horst Montags Enkel Jens tritt neben ihn.
„Guten Morgen!“
Jens ist neunzehn, ein nicht besonders großer, aber breitschultriger junger Mann mit blonder langer Mähne.
„Ich gebe zu, trotz meiner Skepsis von gestern: Es ist schön hier in deinem Taunusdörfchen, wo du unbedingt hinwolltest. Nicht spektakulär, aber schön.“
Sein Großvater nickt mit dem Kopf zum See hin. „Wusstest du, dass das kein natürliches Gewässer ist? Nur ein vollgelaufener ehemaliger Steinbruch.“ Er lächelt und schaut dann seinen Enkel wieder an. „Hast du gut geschlafen?“
Jens lacht. „Das ist eigentlich mein Text. Ich schlafe immer und überall gut. Also ist die Frage überflüssig. Aber du …“
„Ich habe auch gut geschlafen.“
Aus der Hintertür des Hotels tritt die junge Frau heraus, die sie schon gestern Abend bedient hat. Sehr zur Freude von Jens. „Guten Morgen, Herr Montag und Herr Montag!“
Der alte Mann lächelt sie freundlich an. „Guten Morgen, Frau … äh …“
„Lena. Ich bin Lena.“
„Lena – und weiter?“
„Reeber.“
Wenn Lena lächelt, denkt Jens, ist es, als wenn die Sonne aufgeht. Und ihre kupferfarbenen Locken drum herum sind das Morgenrot. Das war ihm bereits aufgefallen, als sie im Hotel eingecheckt hatten.
Lena schiebt mit dem Fuß einen kleinen Napf der Hotelkatze näher zur Hauswand und sagt dabei: „Es ist so ein schöner Morgen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen das Frühstück hier auf der Terrasse servieren.“
„Ach ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht …“, erwidert der alte Herr dankbar.
„Kein Problem. Es dauert nur fünf Minuten. Höchstens sechs.“ Sie lächelt und verschwindet im Haus.
Die beiden Männer setzen sich auf zwei weiße Plastikstühle. Jens zieht einen der beiden Tische heran und rückt so lange an ihm herum, bis er steht, ohne zu wackeln.
„Woher weißt du das mit dem See?“
„Das sieht man doch dahinten an der Felswand.“ Jens’ Großvater zeigt über das Wasser und lässt nachdenklich seinen Blick auf der Felswand ruhen. „Aber ich meine, ich hätte das auch mal gehört.“
„Willst du eigentlich lieber in der Sonne sitzen?“
„Nein, nein, schon gut!“
„In wenigen Minuten ist der Schatten des Baumes sowieso weitergewandert. Du müsstest als Wissenschaftler doch ausrechnen können, wie lange das dauert.“
„Das ist mir zu mühsam. Aber ich weiß immerhin, dass der Baum eine Kastanie ist.“
„Aha.“
Lena kommt erneut zu ihnen heraus, legt eine Decke auf das Tischchen und stellt Teller und Tassen darauf.
„Gefällt es Ihnen hier?“
„Sehr!“, antwortet Jens und mustert die junge Frau unauffällig von oben bis unten.
„Ja, sehr“, bestätigt sein Großvater lächelnd, während er die Blicke seines Enkels verfolgt.
„Der See war früher ein Steinbruch“, erklärt Lena. „Aber das ist schon lange her. In den Sechzigerjahren haben sie hier mal einen Wildwestfilm gedreht. Mit Rindenkanus sind sie über das Wasser gefahren, vor den Felsen. Das sah romantisch aus. Und da oben“, Lena deutet auf eine bestimmte Stelle oberhalb der Felswand, „sind sie hochgeklettert. Die Indianer haben die Siedler verfolgt. Einige Leute von hier sollen als Komparsen mitgespielt haben. Die sind heute noch stolz darauf. Aber soweit ich weiß, hat der Film es nie in die Kinos geschafft.“
Der Alte lächelt. „Vielleicht wäre der Film erfolgreicher geworden, wenn Sie die Häuptlingstochter gespielt hätten, Lena.“
Sie grinst verlegen und geht zurück ins Haus, um die Speisen zu holen.
„Das wäre jetzt eigentlich auch dein Text gewesen, Jens.“
„Gut, dass du das selber merkst, Opa! Für einen 86-Jährigen wirkt so ein Spruch etwas unpassend.“
„Es war ja nur ein Kompliment und kein – wie sagt man heute? – keine ‚Anmache‘. Aber warum hast du auch nichts gesagt? Ich erinnere mich, dass du sonst keine Gelegenheit ausgelassen hast, deine Komplimente an hübsche Mädchen zu verteilen.“
Jens antwortet nicht, sondern schaut nur auf den See hinaus.
„Überhaupt“, fährt sein Großvater fort, „hast du dich sehr verändert. Versteh mich nicht falsch – sehr zum Positiven! Aber ich wundere mich.“
„Verändert?“ Jens gibt sich verwundert, aber er ahnt, was sein Großvater meint.
„Auffallend! Nicht nur, dass du kein – wie sagten wir früher? ‚Schürzenjäger‘! –, dass du kein Schürzenjäger mehr zu sein scheinst, jedenfalls soweit ich es beobachten kann. Du bist auch …“, der Großvater scheint zu überlegen, was ihm in letzter Zeit alles aufgefallen war, „… du bist auch nicht mehr so wüst, fluchst nicht mehr so viel, hilfst mir oft, auch ohne Aufforderung, wenn ich wegen meiner Knie nicht so beweglich bin. Und was mich am meisten erstaunt: Du hast gleich zugesagt, mich hierher zu begleiten. Ein 19-Jähriger fährt mit seinem 86-jährigen Opa in Urlaub – wo gibt’s denn so was!“
„Weil du doch alleine nicht so gut zurechtkommst, wegen deiner Beine.“
„Sicher. Aber noch vor einem Jahr hast du nur unwillig geknurrt, als ich dich bat, mich mal zum Arzt zu fahren.“
„Ja, das tut mir leid.“
„Nein, nein, deswegen sage ich das nicht. Ich mache dir keinen Vorwurf wegen damals, ich lobe dich für dieses Mal. Und ich wundere mich. Sehr!“
Jens antwortet nicht. Aber das wäre jetzt auch unpassend, denn Lena betritt in diesem Moment mit einem Tablett die Terrasse. Sie stellt alles auf den Tisch. Was für herrliche Speisen! Die frischen Brötchen duften köstlich.
„Der Kaffee kommt auch gleich.“
Jens bemüht sich, ihr nicht nachzuschauen, als sie wieder ins Haus eilt.
„Willst du mir nicht dein Geheimnis verraten, Jens?“
Jens blickt überlegend unter sich und sieht dann auf, mit einem Lächeln, als wäre ihm eine List eingefallen. „Wenn du mir dein Geheimnis verrätst.“
„Mein Geheimnis?“ Sein Großvater guckt erstaunt.
„Ich bin doch nicht blöd, Opa! Natürlich hast du auch ein Geheimnis. Warum wolltest du unbedingt hier in diesem Kaff eine Woche Urlaub machen? Urlaub macht man am Meer oder in den Bergen. Ja, gut, wenn man wandern will, dann ist das hier vielleicht ganz nett. Aber mehr auch nicht, und du wanderst ja sowieso nicht. Und in dem See bade...