KAPITEL 1
Am Anfang war das Wort
Hypnose in der Medizin
Hypnose ist beileibe nicht nur ein Bühnentrick – diese bewusstseinsverändernde Technik kommt nämlich seit mehreren Jahren in der modernen Schulmedizin sowie in der Psychologie zunehmend zum Einsatz. Diese Tatsache ist der beste wissenschaftliche Beweis dafür, wie stark Worte und Bilder unser Gehirn und unsere Wahrnehmung manipulieren können.
Doch wie ist es möglich, dass allein die geflüsterten Worte eines Anästhesiearztes einen Menschen in einen solchen Hypnosezustand (Trance) versetzen können, dass er während einer chirurgischen Operation keinerlei Schmerzen verspürt und sein Körper auf diese Worte so stark reagiert, dass er sogar die Blutzufuhr zum Operationsgebiet drosselt?13
War am Anfang tatsächlich das Wort − das heißt, sind wir genetisch so programmiert, dass Worte unser Gehirn auf extreme Art beeinflussen können? Welche Kraft steckt in Worten, dass sie uns einerseits zutiefst verletzen, andererseits aber auch ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit vermitteln können? Warum sind wir überhaupt hypnotisierbar, und warum werden wir so leicht Opfer von suggestiven bzw. persuasiven Manipulationen?
Diese Fragen sind von weitreichender Bedeutung, haben sie doch mit unserem Selbstbild − ja, mit unserem Realitätsverständnis und mit unserer Psyche zu tun, und nicht zuletzt hängt unser aller Zukunft davon ab.
Kurze Geschichte der Hypnose
Auf die lange Geschichte der Hypnose und deren weitverzweigte Anwendung im Verlauf der Jahrhunderte detailliert einzugehen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Deshalb erfolgt hier nur ein kurzer Abriss: Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte setzen Schamanen suggestive Techniken ein, oft gepaart mit rhythmischen Klängen, um Menschen in Trance zu versetzen und Heilungen zu bewirken.14
Wie Forscher der Chicago School of Professional Psychology darlegen, war seit den frühesten Anfängen sogar Yoga eine Methode, sich selbst oder andere in eine Quasi-Hypnose zu versetzen: »Trancezustände werden in Indien seit Langem in einem heilenden Kontext angewandt. Die Verwendung von Gesängen, die Hervorrufung eines Trancezustandes durch Rituale und durch Meditation erreichte veränderte Bewusstseinszustände waren Mittel zur Selbstverwirklichung, zum psychischen Wohlbefinden und zur Steigerung der Gesundheit. […] Yoga Nidra (das Yoga des Schlafes) ist eine dieser Praktiken. Sie ähnelt der Hypnose und anderen Techniken von Geist-Körper-Heilmethoden, wie sie in der Psychotherapie angewendet werden.«15
Yoga Nidra (Nidra bedeutet Schlaf oder Nicht-Bewusstheit) wurde schon Jahrhunderte vor Christus praktiziert und ist bereits in den Texten der Upanischaden erwähnt. Heutzutage greift die US-Armee auf diese uralte Technik zurück, um posttraumatische Störungen von Soldaten zu heilen.16
Schon vor der Anwendung dieser hinduistischen Praktiken errichteten die Ägypter (später gefolgt von den Griechen) die bekannten Schlaf- oder Traumtempel, wo Menschen in Trance versetzt und dann in einen besonderen Raum begleitet wurden. Ihre Träume konnten anschließend interpretiert und als Wegweiser zur Gesundung miteinbezogen werden.17 Denn während des Schlafs, so Hippokrates, »ordnet die Psyche ihr Haus« − übrigens eine hochmoderne These, über die der Spiegel im März 2021 in seinem Artikel »Warum träumt der Mensch?« berichtete.18
Nach Hippokrates deuten Träume übrigens manchmal auch auf körperliche Leiden hin.19 Diese Erkenntnis wurde vor einigen Jahrzehnten in den USA wieder aufgegriffen, und man konnte die Existenz von prodromalen, also von warnenden Träumen über bevorstehende Krankheiten durch Studien nachweisen.20
Die Hypnose geriet lange Zeit in Vergessenheit, bis sie im 18. Jahrhundert von Anton Mesmer wiederbelebt wurde. Im 19. Jahrhundert entfachte die Hypnose dann eine Welle wissenschaftlicher Neugier, die Freud und später C. G. Jung dazu brachte, eine starke Faszination für diese Methode zu entwickeln.21 Beide hörten aber irgendwann wieder auf, ihre Patienten zu hypnotisieren, weil ihnen die Funktionsweise dieser Technik zu obskur wurde. Heute kommen Trance und Hypnose in Psychologie und Psychiatrie erneut erfolgreich zum Einsatz.22
Die Hypnose in der modernen Schulmedizin
Die Hypnotisierbarkeit unseres Gehirns ist eine unumstößliche Tatsache. Worte und Bilder in unserem Kopf können sogar Schmerzen beseitigen, die sich nicht einmal mit Morphium oder starken Opioiden bekämpfen lassen – wie im Fall von Louis Derungs. Der 19-jährige Franzose hatte 2013 einen schweren Stromunfall mit 15 000 Volt überlebt; leider mussten ihm aber beide Arme amputiert werden.23 Danach litt er an schier unerträglichen Phantomschmerzen, denen trotz Morphiumgaben nicht beizukommen war – bis ihm sein Arzt eine Hypnose vorschlug. Die Hypnotiseurin sagte ihm, er solle sich bildlich vorstellen, seine Phantomarme in zwei Kübel voller Eis zu tauchen. Louis war skeptisch und empfand den Vorschlag als lächerlich. Doch die Hypnotiseurin insistierte, denn nur so könne er die in seinem Gehirn immer wieder aufflammenden brennenden Schmerzen ausschalten, die er in der Nacht seines Unfalls erfahren hatte. Die Hypnose war erfolgreich, und Louis lernte es, diese bildhafte Vorstellung jedes Mal anzuwenden, wenn die höllischen Schmerzen wieder auftauchten. Auf diese Weise konnte er die Erinnerungen daran in den Griff bekommen und abblocken.24 (Die Videos, in denen er seine Geschichte erzählt, sind ein Paradebeispiel für die menschliche Resilienz und absolut sehenswert.)
Louis Derungs ist leider kein Einzelfall: 80 Prozent der Menschen, die eine Amputation erleiden, verspüren danach Phantomschmerzen. Inzwischen ist bekannt, dass bei vielen dieser Patienten Medikamente kaum wirken, weswegen die Hypnose unbedingt in die Behandlung miteinbezogen werden sollte – wie Forscher vom Universitätsklinikum Oslo nachdrücklich betonen.25
Wie gut die Hypnose in der Medizin funktioniert, ist auch schon daraus ersichtlich, dass in staatlichen wie privaten Kliniken Narkose und Sedierung seit einigen Jahren vermehrt durch Hypnose ersetzt werden, und zwar selbst bei invasiven Operationen wie z. B. der Entfernung einer Schilddrüse26 oder eines Hautkrebses.27
In Europa wurden bereits über 9000 chirurgische Eingriffe mithilfe von Hypnose durchgeführt (Stand 2017).28 Insbesondere in Belgien, Frankreich und Italien greift man in Krankenhäusern auf diese Methode zurück, also auf die gezielte Beeinflussung unseres Gehirns durch Worte. Auch viele Zahnarztpraxen in der BRD verwenden vermehrt Hypnosetechniken bei ihren Patienten – so berichtet z. B. die Deutsche Zeitschrift für zahnärztliche Hypnose bereits seit Jahren über deren erfolgreichen Einsatz.29
Angesichts der Fülle von Nachweisen über die Wirkung von Hypnose in der Medizin lässt sich wissenschaftlich nicht mehr abstreiten, dass sie unsere Wahrnehmung eindeutig beeinflusst. Diverse Beispiele aus dem medizinischen Bereich sollen dies veranschaulichen.
Wie Marie-Elisabeth Faymonville, Medizinprofessorin und Leiterin der Schmerzklinik des Universitätskrankenhauses im belgischen Lüttich, berichtet, wurden in ihrem Krankenhaus bereits über 6000 Patienten erfolgreich mit Hypnose (und leichten lokalen Anästhetika) operiert, sogar bei invasiven chirurgischen Interventionen (z. B. Schilddrüsenoperationen).30
Die Resultate sind erstaunlich: Der Patient verspürt unter Hypnose keine oder kaum Schmerzen und blutet weniger, sodass der Chirurg den Eingriff besser und rascher ausführen kann. Schwedische Wissenschaftler verzeichneten ähnliche Erfahrungen bereits vor über 25 Jahren.31
Während und unmittelbar nach einer chirurgischen Operation oder einem zahnärztlichen Eingriff ist der hypnotisierte Patient wohlauf, und selbst die Genesung verläuft schneller als üblich, wie Studien aus dem Jahr 2000 bestätigt haben. Zudem verspüren diese Patienten weniger Angst.32
In Frankreich wird die Hypnose sogar bei Hirntumoroperationen eingesetzt, um den Patienten Angst und Unbehagen während des Eingriffs zu nehmen. Sie müssen dabei nämlich wach bleiben, damit der Chirurg mittels gezielter Fragen die wichtigen, sogenannten »eloquenten« Zonen (z. B. die Sprachareale) von »weniger bedeutsamen« Gehirnarealen unterscheiden kann, um spätere Ausfallserscheinungen zu vermeiden. Einige Wochen vor einer Wachkraniotomie (vorübergehendes Aufwecken während einer Gehirnoperation) bereitet man die Patienten auf die Hypnose vor. Im OP-Saal werden sie von einem Spezialisten in Trance versetzt, wobei ihnen wortreich bestimmte Bilder vermittelt werden, die innere Ruhe suggerieren. Wie die Studien beweisen, sind die meisten Patienten, die auf diese Weise behandelt wurden, mit der Hypnosedierung sehr zufrieden.33
In Belgien wendet man Hypnose seit Jahren bei Brustkrebsoperationen an. Eine Studie des Krebszentrums der Universität Saint-Luc in Brüssel (2017) berichtet über 300 Operationen – die Hälfte davon mit der üblichen Narkose, die andere Hälfte mit Hypnosedierung.
Resultat: Bei den hypnotisierten Patientinnen war dank des Nichteinsatzes von Narkosemitteln u. a. eine sofortige Erholung möglich.34 In Aix-en-Provence (Frankreich) wurde die gleiche Hypnosetechnik ab 2018 bei Brustkrebspatientinnen angewandt, und die von den beteiligten Ärzten gesammelten Erfahrungen bestätigten die Resultate der belgischen Studie.35
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