Ich lasse das Leben auf mich regnen
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Ich lasse das Leben auf mich regnen

50 philosophische Denkanstöße aus der Literatur

  1. 240 Seiten
  2. German
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Ich lasse das Leben auf mich regnen

50 philosophische Denkanstöße aus der Literatur

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Über dieses Buch

Literatur unterhält und bildet- beinhaltet meist aber auch einen Appel. Sie ist ein "Hymnus auf das Leben". Durch sie lernen wir, uns besser in andere Menschen hineinzufühlen. Sie ermöglicht es uns, unsere Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge des Lebens zu richten, auf das Schöne, aber auch das Hässliche. Dies allein lässt uns das Leben in all seiner Fülle erfassen, sensibilisiert uns und gibt uns die Chance, unser Leben zu verändern und somit auch auf die Gesellschaft einzuwirken.Indem Reiner Ruffing 50 Zitate bedeutender Schriftsteller von der Antike bis zur Moderne vorstellt und sie anhand der zeitlichen Hintergründe und der Biografien der einzelnen Schriftsteller entschlüsselt, zeigt er, dass die großen Werke der Literatur uns auch heute noch sinnvolle Denkanstöße bieten, unseren Alltag bereichern und unser Leben verändern können. In diesem Sinne kann auch Rahel Varnhagens Tagebuchnotiz "Ich lasse das Leben auf mich regnen" Ansporn sein, wie sie selbst in schwierigen Zeiten weder den Mut noch den Humor zu verlieren.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783784480237

1.

»Da lösten sich dem Odysseus die Knie und das liebe Herz.«
»ODYSSEE« VON HOMER (8. JAHRHUNDERT V. CHR.)
Wie kein anderer Dichter führt uns Homer in die Welt der griechischen Antike mit ihrem Mysterien-, Götter- und Heldenglauben. Wenn bei Homer der Tag beginnt, dann schickt der Sonnengott Helios grüßend seine Schwester Eos aus. Helden wie Achill und Odysseus müssen der Liebe wegen viel auf sich nehmen. Achill wird fast blind vor Zorn, weil ihm Agamemnon, sein Heerführer, die geliebte Briseis wegnimmt, und der erfindungsreiche Odysseus irrt nach dem Trojanischen Krieg jahrelang mit seiner Mannschaft auf dem Meer umher, bis er endlich seine Heimat Ithaka erreicht. Homers Welt ist voller Leidenschaft, Tragik und Glanz. Seine Werke gelten als Inbegriff abendländischer Dichtung. Für die Griechen waren die »Ilias« und die »Odyssee« wie heilige Bücher. Wer sie heute liest, fühlt sich in eine Zeit versetzt, in der die Götter und die Menschen sich noch etwas zu sagen hatten und das Leben voller Abenteuer und Überraschungen war. Die Natur und die Dinge waren beseelt vom Zauber geheimnisvoller Mächte und das Meer war das Reich des Gottes Poseidon.
Homers Epen wurden von Rhapsoden (umherziehenden Sängern) an den Herrscherhöfen der Westküste Kleinasiens vorgetragen. Die griechischen Edelleute liebten es, bei üppigen Gastmahlen, den Symposien, Geschichtenerzählern zuzuhören: »Denn ich sage, es gibt nichts Angenehmeres, als wenn (…) die Teilnehmer des Schmauses (…) dem Sänger lauschen«, heißt es in der »Odyssee«. Über Homer selbst wissen wir nicht viel, da es kaum direkte Zeugnisse gibt. Er soll im 8. Jahrhundert v. Chr. im kleinasiatischen Raum gelebt haben. Athen, Ithaka und Chios wetteifern darum, sein Geburtsort zu sein. Es heißt, Homer habe auf der Insel Chios eine Dichterschule gegründet, auf der auch ein Großteil seiner Epen entstanden sein soll. Vermutlich starb er auf der Insel Ios, der letzten seiner vielen Wanderstationen. Zahlreiche Büsten zeigen ihn als blinden Mann. In Griechenlands Schulen waren seine Gesänge Pflichtlektüre. Dem Romanisten Erich Auerbach zufolge vermitteln seine Epen »die Freude am sinnlichen Dasein. Zwischen Kämpfen und Leidenschaften, Abenteuern und Gefahren zeigen sie uns Jagden, Gastmähler, Paläste und Hirtenwohnungen« und Helden, die ihre »Gegenwart genießen«.
Die »Odyssee« erzählt von der zehnjährigen Irrfahrt des Odysseus. Während er mit seinem Floß über das Meer segelt, erblickt er eines Tages die Insel Scheria. Doch plötzlich peitscht Poseidon das Meer derart auf, dass den erfahrenen Seemann und göttlichen Dulder Todesangst befällt: »Da lösten sich dem Odysseus die Knie und das liebe Herz.« Im Gegensatz zum Halbgott Achill zeigt Odysseus menschliche Züge. Er ängstigt sich um sein Leben und umsorgt seine Gefährten, indem er ihnen vor der Schlacht Nahrung gibt oder Bienenwachs ins Ohr stopft, damit sie den lebensgefährlichen Gesang der Sirenen nicht hören können. Achill zeichnen Kraft und glanzvolle Vitalität aus, Odysseus hingegen Klugheit, Fantasie, Verantwortungsgefühl und Humor. Während es dem Protagonisten der »Ilias« hauptsächlich um Ruhm und Ehre geht, handelt Odysseus aus menschlichen Beweggründen und mit Gefühl.
Odysseus’ Floß kentert und nur mit letzter Kraft gelingt es ihm, das Land der Phaiaken zu erreichen, wo ihn die Königstochter Nausikaa zu ihrem Vater Alkinoos bringt. Dem Gestrandeten zu Ehren wird ein Gastmahl abgehalten, in dessen Verlauf der Sänger Demodokos Lieder über den Kampf um Troja vorträgt. Überwältigt von der Erinnerung bricht Odysseus in Tränen aus, gibt sich zu erkennen und erzählt nun selbst von seinen Irrfahrten.
Die Handlung gliedert sich in zwei Stränge: die Irrfahrt nach dem Fall Trojas bis zur Ankunft auf der Insel der Nymphe Kalypso, die entweder von dem Sänger oder von Odysseus selbst aus der Retrospektive geschildert wird, und die 40 Tage währende Reise nach dem Abschied von Kalypso bis zu seiner Ankunft auf Ithaka, wo Odysseus die Freier, die seine Nachfolge antreten wollen, besiegt und seine rechtmäßige Stellung als König, Vater und Ehemann wieder einnimmt.
Schon während des ersten Teils seiner Reise erlebte Odysseus viele Abenteuer. An der Küste Nordafrikas wollten die Gefährten, nachdem sie von den dortigen Lotusblüten gekostet hatten, nicht mehr nach Hause weitersegeln. Erst nachdem Odysseus sie gewaltsam zum Schiff brachte und an die Ruderbänke fesselte, konnte die Reise fortgesetzt werden. Auf der Insel der Kyklopen entkamen sie nur knapp dem menschenfressenden Riesen Polyphemos. Nach dem Abenteuer mit der Zauberin Kirke, die einige seiner Gefährten in Schweine verwandelte, ging die Fahrt an den verführerischen Sirenen vorbei und führte zwischen den Seeungeheuern Skylla und Charybdis hindurch. Die Episode mit den Sirenen ist sicherlich die berühmteste aus der »Odyssee«. Deren verheißungsvoller Gesang führt dazu, dass sich die Seemänner willenlos ins Meer stürzen. Um diesem Schicksal zu entgehen, aber gleichwohl ihrer Stimme zu lauschen, lässt sich Odysseus an einen Mast binden. Die beiden Sirenen versprechen Odysseus größte Lust gepaart mit größter Erkenntnis:
»Komm, gepriesner Odysseus, du großer Ruhm der Achäer,
Lege dein Schiff hier an, um unsere Stimme zu hören;
Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh er die honigtönende Stimme aus unseren Mündern
Hörte; er kehrt dann heim, erfreut und reicher an Wissen;
Denn wir wissen dir alles, wieviel in Troja, dem weiten,
Die Argeier und Troer mit Willen der Götter gelitten,
Wissen, was immer geschieht auf der vielernährenden Erde.«
Der Angekettete zerrt mit aller Macht an seinen Fesseln. Er fordert zwei seiner Gefährten – Perimedes und Eurylochos – mit den Augenbrauen auf, ihn loszubinden, doch diese ketten ihn nur noch fester an den Mast.
Wie in der »Ilias« ist auch in der »Odyssee« das Leben der Menschen eingebettet in das Wirken der Götter. Odysseus weilte selbstvergessen schon acht Jahre bei Kalypso, als seine Schutzgöttin Athene die Abwesenheit von Odysseus’ schlimmstem Feind Poseidon nutzt, um bei der Götterversammlung seine Heimkehr nach Ithaka zu bewirken. Hermes, der Götterbote, informiert Kalypso, dass sie auf Geheiß der Götter ein Floss bauen soll, auf dem Odysseus in die Heimat zurückfahren kann.
Kaum ein anderes Werk hatte so viel Einfluss auf die Weltliteratur wie Homers »Odyssee«. Vergils »Aeneis« ist dafür ebenso ein Beispiel wie James Joyce’s »Ulysses«, in gewisser Weise auch Dantes Reise in der »Göttlichen Komödie« ebenso wie die Abenteuer des »Don Quijote« von Miguel de Cervantes. In Goethes »Werther« lesen wir: »Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte mich ins Kabriolett und fuhr nach M., dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer (…) zu lesen (…) Das alles war gut.« Berühmt ist eine Interpretation der Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, wonach der sich selbst an den Mast kettende Odysseus das wirkliche Leben verfehlt. Doch was hätte Odysseus tun sollen? Ohne Vorsichtsmaßnahmen wäre er dem Gesang der Sirenen rettungslos verfallen. Durch seinen Wunsch zu überleben und nicht zu viel zu riskieren kann man ihn als »modern« begreifen, worauf die Autorin Susan Neiman aufmerksam macht. »Er verunsichert, weil er uns so nahe ist und wir uns so leicht in ihm wiedererkennen können. (…) Wir haben gewiss seine Fehler (…) Wir gehen Kompromisse ein (…) Unsere Urteile sind unsicher (…) Unsere Motive sind uns unklar, und wir sind oft zwischen unseren Begierden hin- und hergerissen.« Besonders in dem Motiv der Heimkehr entdeckt Neiman eine Aktualität der Odyssee: »Wir sehnen uns verzweifelt danach, zu Hause zu sein, und brauchen endlos viel Zeit, um dort anzugelangen.«
Ähnlich wie Odysseus möchten die heutigen Menschen so viel wie möglich selbst erfahren und erleben. Sie reisen, um andere Kontinente und Kulturen kennenzulernen und damit sie im Alter auf ein möglichst erfülltes, »erfahrungsgesättigtes« Leben zurückblicken können. Dagegen ist nichts zu sagen, doch man kann es damit auch übertreiben. Abgesehen von den ökologischen Folgen des Massentourismus, muss man nicht jeden Zipfel der Erde gesehen, jede mögliche Erfahrung selbst gemacht haben. Als endliche Wesen gilt es, begrenzte Horizonte zu akzeptieren. Man kann auch »aus verborgenem Winkel (…) den Sprung hinauf in den Himmel tun«, heißt es bei Seneca. Ähnlich wie einige Menschen, die unbedingt einmal in ihrem Leben im Weltall gewesen sein müssen, scheint Odysseus in seiner Abenteuer- und Entdeckerlust keine Grenzen anerkannt zu haben. Folgt man Dantes »Göttlicher Komödie« bricht er nämlich am Ende seines Lebens mit seiner Mannschaft noch einmal auf, diesmal gen Westen, um den Garten Eden zu finden. Das Schiff gerät in einen Sturm und schlägt mit voller Wucht an einem riesigen Felsen auf. Laut Dante handelt es sich um den vor dem Paradies liegenden Läuterungsberg, an dem Odysseus mit seiner Mannschaft scheiterte.

2.

»Reiterheere mögen die einen, andre halten Fußvolk oder ein Heer von Schiffen für der Erde köstlichstes Ding, – ich aber das, was man lieb hat.«
AUS EINEM FRAGMENT (ERSTES BUCH) VON SAPPHO (UM 600 V. CHR.)
Nach einem Wort des Kulturphilosophen Egon Friedell war Sappho die erste Dichterin der Weltliteratur und gleichzeitig ihre größte. Sie lebte vor 2500 Jahren auf Lesbos, der Wiege der Lyrik, wie man die griechische Insel auch nannte, weil sich gerade auf Lesbos die Dichtung in einer besonders reichhaltigen Formensprache entwickelte. Platon lobt Sappho als zehnte der Musen. Die Lyrik von Sappho kann als eine Art Gegenstück zur kriegerischen Welt des Homer aufgefasst werden. Ihre Gedichte preisen die Liebe, auch die gleichgeschlechtliche, und rühmen die Achtung vor den Göttern. Vor allem sind es die Situationen der Trennung und die Gefühle beim Abschied, die ihre Werke thematisieren. Sapphos Hochzeitslieder erzählen vom Glanz, den die frisch Vermählten ausstrahlen. Kenner behaupten, dass Sappho den Siegeszug der Subjektivität in der abendländischen Kultur vorbereitete. Sie habe maßgeblich daran mitgewirkt, dass in der Antike die Erfahrungswelt des Individuums entdeckt, sprachlich zum Ausdruck gebracht und wertgeschätzt wurde. Selbstbewusst scheut sie sich in einem ihrer Gedichte nicht, sogar den eigenen Namen zu nennen. »Wer, Sappho, tat dir Leids?«, fragt die Göttin Aphrodite. Das war bis dato in der Literatur unbekannt und ist bis heute noch recht ungewöhnlich. Die Göttin Aphrodite ist Sapphos Freundin und Beraterin zugleich. Die griechischen Götter befinden sich stets in der Nähe des Menschen, in schwierigen Lagen eilen sie ihnen zu Hilfe. Der griechische Himmel ist noch voller Götter.
Sappho wurde wahrscheinlich um 635 v. Chr. in Eresos auf der Insel Lesbos geboren. Im zarten Alter von sechs Jahren verlor sie ihren Vater. Es heißt, dass sie mit einem wohlhabenden Mann namens Kerkylas von der Insel Andros verheiratet gewesen sei. Aus dieser Ehe entstammte ihre Tochter Kleis. Als in Mytilene, der Hauptstadt von Lesbos, der Tyrann Myrsilos die Macht ergriff, musste sie mit ihrer Familie nach Sizilien ins Exil gehen, weil sie aus einem mit dem Herrscher rivalisierenden adligen Geschlecht stammte. Erst nach Jahren kehrte sie – inzwischen verwitwet – mit ihrer Tochter in die Heimat zurück, wo sie zur Leiterin einer Mädchenschule wurde. Die Mädchen lebten im geschützten Garten der Aphrodite. Die Bewohner von Lesbos erkannten bald, dass Sappho eine außergewöhnliche Frau war und vertrauten ihr gern ihre Töchter an. Als Vorsteherin eines Hera- und Aphrodite-Kultes – es gab auf Lesbos mehrere solcher Mädchenkreise – verlangte sie von ihren Schülerinnen die Einhaltung strenger Regeln, einen sittlichen Lebenswandel und bei den Symposien absolute Aufmerksamkeit.
Die jungen Mädchen wurden in dieser Schule auf ihre zukünftige Frauenrolle vorbereitet. Sie erlernten das Saitenspiel, den Gesang und edle Lebensführung. Sapphos Mädchenerziehung war das Pendant zur Erziehung der Knaben. Wie die griechischen Jünglinge ihrem Meister waren auch die Mädchen ihrer Meisterin erotisch verbunden – das war zur Zeit Sapphos nichts Skandalöses –, weshalb der Trennungsschmerz groß war, wenn mit ihrer Hochzeit der Aufenthalt bei der Dichterin endete. Bis heute wird für die lesbische Liebe noch das Wort »sapphisch« gebraucht. Keinesfalls darf man in Sappho jedoch eine Männerfeindin sehen. Einige ihrer schönsten Gedichte sind Männern gewidmet. Hochzeitsgesänge und das Hohelied der Ehe sind der Inhalt von zahlreichen ihrer Gesänge.
Sappho trug ihre Hymnen mit Gesang und einer Lyra vor, woher auch das heutige Wort Lyrik stammt. Den Eros vergleicht sie mit einem Sturmwind, der Eichen fällt, und mit einer bittersüßen unbezwingbaren Schlange. »Eros treibt mich wieder umher, der gliederlösende, süßbitter, ein Untier, gegen das ich nicht ankomme.« Eine leidenschaftliche Liebe beschreibt sie mit den Worten: »Sehe ich dich nämlich flüchtig nur an, so stocken jäh mir die Worte, mehr noch, meine Zunge zerbricht, ein zartes Flämmchen rieselt unter der Haut entlang mir, (…) Schweiß rinnt mir in Strömen herab, ein Zittern packt von Kopf bis Fuß mich, und grüner bin ich als das Gras.« Der Berliner Philosoph Friedrich Kittler stellt die Offenheit Sapphos und der Griechen in Fragen der Sexualität heraus: »Es wird ganz klar, dass Sappho sich nach einer Frau sehnt oder einem Mädchen, aber das ist für die Griechen oder Sappho überhaupt kein Grund, Aufhebens davon zu machen, es steht einfach da, Horaz und andere kippen dann aus den Pantoffeln, wenn sie so was lesen.« Kein Grieche hätte Sappho als »Hure« oder »Lesbe« bezeichnet, wie später einige Römer, zu schweigen von den Christen. Noch ist niemand in Griechenland auf den Gedanken gekommen, jemanden über seine Sexualität zu definieren, ihn zum Beispiel als Homosexuellen zu begreifen.
Leider sind von Sappho bis auf die »Ode an Aphrodite« nur Fragmente überliefert, u. a. weil die christlich-orthodoxen Priester ihre Texte als sittenlos bezeichneten und vernichteten. Hätte nicht ein am Hof des Römerkaisers Augustus wirkender Gelehrter ihre Verse abgeschrieben, wäre auch ihre »Ode an Aphrodite« vergessen worden. Das berühmte Gedicht handelt davon, dass eine schöne junge Frau die Dichterin verlassen hat. Jetzt ruft sie verzweifelt die Göttin der sinnlichen Liebe, Aphrodite, damit sie ihr helfe, die Geliebte zurückzugewinnen. Es fällt auf, wie selbstbewusst und fordernd Sappho gegenüber der Göttin auftritt: »Aphrodita (…) dich ruft’s aus mir, verwunde nicht mit Schmerz und Angst, Herrin, mein Gemüt, nein, komm hierher!« Fast hat man das Gefühl, dass die Göttin von ihr herbeizitiert wird. Im weiteren Verlauf des sieben Strophen langen Gedichts wird berichtet, wie die Göttin den Weg vom Himmel zu Sappho in einem Wagen zurücklegt. »Dich zogen schöne schnelle Spatzen [Spatzen als Fruchtbarkeitssymbol] über der schwarzen Erde, flügelschwirrend, nieder vom Himmel durch die Mitte des Äthers.« Aphrodite lächelt »mit ewigem Antlitz« und fragt, was Sappho erlitten habe. »Wer, o Sappho, verschmäht dich?« Sie verspricht, dass sich alles bald ändern wird. Aphrodite prophezeit: Ist die Geliebte »heut noch flüchtig, wie bald schon folgt sie, ist sie Gaben abhold, sie selbst wird geben, ist sie heut noch lieblos, wie bald schon liebt sie, auch wenn sie nicht will«. Aphrodite, sprich die Liebe, wird es schon richten!
Das Fest der sogenannten Kallisteia, bei dem die jungen Mädchen im heiratsfähigen Alter Hymnen sangen und den Kultreigen tanzten, bot den Schülerinnen eine besondere Möglichkeit, ihre Schönheit und Anmut zu zeigen, wobei ihnen Sappho als Lehrmeisterin und Beraterin zur Seite stand. Gelobt wurde an den Mädchen ihr leuchtendes Antlitz, das glänzende Haar, die schlanken Fußgelenke, ein schöner Wuchs, flinker Lauf, süße Stimme, leichter Schritt … Auch die Kleidung spielte eine wichtige Rolle, »bringt doch dein Jäckchen selbst schon jede, die es sah, aus der Fassung« (Sappho).
In einem antiken Epigramm heißt es, dass die Mädchen von Lesbos zu einem Hain der Göttin Hera kommen sollen, um ihr zu Ehren zu tanzen. Sappho wird sie anführen und auf ihrer Leier dazu spielen. Wie es scheint, wurde auf Lesbos das männliche Ideal in den olympischen Spielen auf den Bereich des Weiblichen übertragen. Vor diesem Hintergrund ist auch unser Sappho-Zitat zu verstehen. Nicht den Krieg oder den sportlichen Wettkampf will Sappho besingen, sondern die Anmut, Schönheit und die Liebe. Es ging ihr um einen Wetteifer in Schönheit und Anmut.
Leuchtender Glanz und überspringende Festfreude prägen die Lieder der Sappho. Das Geheimnis ihrer Dichtung ist nach dem Gräzist Wolfgang Schadewaldt darin zu suchen, dass ihre Lyrik einen Zauber über die alltäglichen Dinge legt: »Einfachste Vorgänge, ein Abschied, ein gemeinsamer Ausblick über das Meer in einer Mondnacht, verwandeln sich in unaussprechliche Situationen.« Für Sappho sind Anmut und Glanz in den Gegenständen selbst enthalten. Wörter wie »Rosen«, »Blumen«, »Tänze«, »Düfte«, »Nektar«, »Gold«, »Sonne« verbreiten in ihrer Dichtung durch sich selbst eine wunderbare Stimmung. Wer Sappho liest, wird in die Zauberwelt der griechischen Inseln voller Nymphengärten und Zauberwesen entführt. Von den größten Dichtern wird die außerordentliche Sinnlichkeit und Eleganz ihrer Verse und Sprachkunst gepriesen. Keines der Gedichte der Sappho endet in Verzweiflung, immer wieder steht am Schluss ein tröstender Gedanke. Wir werden daran erinnert, dass es im Leben Niederlagen und Tiefen gibt. Man kann vieles nicht haben, geschweige denn alles. Der Mensch befindet sich im Vergleich zu den Göttern in einer ungünstigeren Situation: Er ist sterblich! Er klagt, er versteht sich nicht, er befindet sich in Bezug auf den Sinn seines Lebens in einer andauernden Erklärungsnot. Warum leben, warum sterben? Sappho beklagt jedoch weniger eine existenzielle Not, sondern den Schmerz, wenn sie von einer ihrer Schülerinnen verlassen wird. »… ganz ehrlich, ich wollte, ich wär tot. Als sie schied, hat sie viel geschluchzt und dies zu mir gesagt: ›Ach, wie schrecklich ergeht es uns, Sappho! Gar ungern scheide ich von dir.‹« Jetzt hilft nur noch der Trost, dass man miteinander in Gedanken verbunden bleibt, wie im berühmten »Arignotalied«.
In ihm gedenkt Sappho zusammen mit ihrer Lieblingsschülerin Atthis einer jenseits des Meeres verheirateten ehemaligen Schül...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1. »Da lösten sich dem Odysseus die Knie und das liebe Herz.«
  7. 2. »Reiterheere mögen die einen, andre halten Fußvolk oder ein Heer von Schiffen für der Erde köstlichstes Ding, – ich aber das, was man lieb hat.«
  8. 3. »Eintagswesen (…) Schattens Traum der Mensch! Aber wenn Glanz gottgegeben kommt, ist strahlendes Licht auf den Männern und versöhnt das Leben.«
  9. 4. »Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.«
  10. 5. »Teuerster, jetzo wohlan! Auf den Nacken mir setze dich, Vater!«
  11. 6. »Weh, was ist Gott?«
  12. 7. »Wer hier eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren!«
  13. 8. »Denn alles, was er sah, wusste er seinem wahnwitzigen Ritterwesen und seinen Phantasien von fahrenden Abenteurern, womit er so übel fuhr, anzupassen.«
  14. 9. »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.«
  15. 10. »Adieu Welt, denn bei dir ist nichts Beständiges.«
  16. 11. »Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist?«
  17. 12. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«
  18. 13. »Wie traurig ist doch das Dasein der Menschen – und dieses nichtige Dasein machen wir uns noch selbst einander unerträglich, statt dass wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wüste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten.«
  19. 14. »Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen taten und dachten, gegen einen Augenblick der Liebe?«
  20. 15. »Ich lasse das Leben auf mich regnen.«
  21. 16. »Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch.«
  22. 17. »Anderssein erzeugt Hass.«
  23. 18. »Ein neues Lied, ein besseres Lied, o Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.«
  24. 19. »Alles hohl da unten!«
  25. 20. »Das ist ein weites Feld.«
  26. 21. »Glaubst du nicht, dass ein allerwinzigstes Verbrechen durch Tausende von guten Taten wettgemacht wird?«
  27. 22. »Es gibt nichts, nichts Gewisses, außer der Nichtigkeit alles dessen, was ich begreifen kann, und der Größe des Unbegreiflichen, das aber das Allerwichtigste ist.«
  28. 23. »Diesen Fluss hinaufzufahren, war wie eine Reise zurück zu den frühesten Anfängen der Welt …«
  29. 24. »Und dann war mit einem Male die Erinnerung da.«
  30. 25. »Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos?«
  31. 26. »Ich lerne sehen – ja, ich fange an!«
  32. 27. »Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so schwer?«
  33. 28. »Berlin ist groß. Wo tausend leben, wird noch einer leben.«
  34. 29. »… in der Glorie und dem Klingeln und dem seltsamen hohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieser Juni-Augenblick.«
  35. 30. »… und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja.«
  36. 31. »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«
  37. 32. »Mich sensationiert eben das Wort.«
  38. 33. »Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.«
  39. 34. »›Ach, Jake‹, sagte Brett. ›Wir hätten so glücklich zusammen sein können.‹«
  40. 35. »Wie ich begriff, dass das, was blau leuchtete am Ende der Cannebière, bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach so viel Unsinn und Elend das einzige wirkliche Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist: das Glück, zu leben.«
  41. 36. »Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten.«
  42. 37. »Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere.«
  43. 38. »Estragon: Komm, wir gehen. Wladimir: Wir können nicht. Estragon: Warum nicht? Wladimir: Wir warten auf Godot. Estragon: Ach ja.«
  44. 39. »Aber er war wieder der kleine Gottlieb, der Sohn des Volksschullehrers; er sollte studieren, und kam auf dem Gymnasium nicht recht mit.«
  45. 40. »Großartig. Dieses Wort ist mir wirklich verhasst. Es klingt so unecht.«
  46. 41. »Es kommen härtere Tage.«
  47. 42. »Kauft Salamander – Neckermann macht’s möglich – 4711 Immer dabei.«
  48. 43. »Naturgemäß«
  49. 44. »Wer keine Furcht mehr vor dem Teufel hat, braucht keinen Gott mehr (…) dann können wir auch über Gott lachen.«
  50. 45. »Klack, klack: die Gesellschaft ist das Abstrakte.«
  51. 46. »Meine Großmutter schrieb fünfzig Jahre lang ihre Lebensnotizhefte. (…) Clara hat sie geschrieben, damit sie mir dazu dienten, die Dinge der Vergangenheit dem Vergessen zu entreißen und mein eigenes Entsetzen zu überleben.«
  52. 47. »Und mein Heimweh gab es längst nicht mehr, und war nicht jetzt gegen Jahrhunderte überhaupt jede Art Heimweh aus der Welt verschwunden, wie eine besiegte Krankheit?«
  53. 48. »fernsehen ist die schönste Belohnung für ALLES«
  54. 49. »Alles, was ich habe, trage ich bei mir.«
  55. 50. »Sie hatten nichts. Keine Zukunft. Deswegen hielten sie sich an die kleinen Dinge.«
  56. Literatur
  57. Hörtipp
  58. Lesetipp