Der genetische Notenschlüssel
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Der genetische Notenschlüssel

Warum Musik zum Menschsein gehört

  1. 256 Seiten
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Der genetische Notenschlüssel

Warum Musik zum Menschsein gehört

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Über dieses Buch

"Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum" - was Fredrich Nietzsche als großer Musikliebhaber pathetisch in den Raum stellte, lässt sich heute mit erstaunlichen Fakten erhärten.Auf der Suche nach dem homo musicus fördert der Musikwissenschaftler Christian Lehmann Faszinierendes zutage. So ist der Mensch das einzige Lebewesen, das sich mit seinen Artgenossen im Takt bewegen kann, und die Begabung zum Gesang gehört zu einer biologischen "Grundausstattung". Beides brachte ihm evolutionären Nutzen: Die Fähigkeit, Stimme und Bewegung der Arbeit, Ritual und Kampf zu synchronisieren, erzeugte unter unseren Vorfahren lebenswichtigen sozialen Zusammenhalt und der Singsang des Wiegenliedes hält auch heute noch die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind ohne Körperkontakt aufrecht.Wie hoch der Stellenwert der Musik noch in der Antike war, zeigt sich im Erziehungsmodell der alten Griechen. Das aktive Musizieren war essenzieller Bestandteil der Charakterbildung der Jugend und förderte den Gemeinschaftssinn - eine Funktion, die über Jahrhunderte im musikalischen Miteinander gepflegt wurde. Mit dem Siegeszug des Tonträgers gerät dieser Zusammenhang jedoch zunehmend in Vergessenheit: Der moderne Mensch konsumiert die "akustische Ware" oftmals allein, ohne selbst aktiv zu werden. Dafür aber entdeckt die Wissenschaft den kognitiven und therapeutischen Nutzen der Töne: Musizieren begünstigt die geistige Entwicklung, Musik lindert nebenwirkungsfrei Schmerzen und gibt neue Hoffnung für Menschen, die nach einem Schlaganfall ihre Sprache verloren haben, aber Worte noch immer singen können.Ein Buch über die Macht der Musik, das uns das Staunen lehrt.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783784480213

I. Musikalische Natur
Lento

Musik und Mythos

In Arkadiens kalten Gebirgen
War die berühmteste einst der nonakrischen Hamadryaden
Eine Najad’ an Gestalt; die anderen nannten sie Syrinx.
[…]
Als einst vom Lykäus sie heimging,
Schauet sie Pan, und das Haupt mit stachlichter Fichte gegürtet,
Redet er. – Überig war, die geredeten Worte zu melden;
Und wie verachtend die Nymph’ unwegsame Wüsten hindurchfloh,
Bis zum ruhigen Strom des sandigen Ladon sie endlich
Flüchtete, und, als dort ihr den Lauf abschnitten die Wasser,
Um Verwandelung bat die lauteren Schwesternajaden;
Und wie Pan, da er eben gehascht nun glaubte die Syrinx,
Statt der blühenden Nymphe das Rohr umarmte des Sumpfes;
Und, weil seufzend er stand, wie die wallenden Wind’ in dem Rohre
Leises Geflüster erregt, der lispelnden Klage nicht ungleich;
Dann wie der Gott im Entzücken der neuerfundenen Tonkunst:
Diese Vereinigung soll mit dir mir bleiben! gesaget,
Und wie so, durch bindendes Wachs abstufende Rohre,
Wohl aneinander gereiht, des Mägdeleins Namen behielten.1
Der Mythos ist die älteste Erklärungsweise für Dinge und Phänomene, deren Herkunft der Mensch nicht rational und historisch begründen kann. Viele Völker berichten von einer mythischen, göttlichen Herkunft ihrer Musikinstrumente. Die Geschichte von Pan und der Nymphe Syrinx, die sich in ein klingendes Schilfrohr verwandelt und der Hirtenflöte ihren Namen gibt (wir kennen sie auch als Panflöte), hat Eingang in die Metamorphosen, die »Verwandlungen« des Ovid gefunden. Auch für die Lyra, das wichtigste Musikinstrument der antiken Welt, kennt das alte Griechenland einen Ursprungsmythos. Sie ist das Werk des gerade geborenen Gottes Hermes: Er tötet eine Schildkröte, nimmt sie aus, bespannt den Panzer mit Rinderhaut, setzt Ziegenhörner als Arme auf und befestigt sieben Saiten aus Schafdarm daran. Später überlässt er das Instrument seinem Bruder Apollon als Entschädigung für einen Streit. Apollon gibt das Saiteninstrument wiederum an Orpheus weiter, der mit seinem Gesang Tiere, Bäume und selbst Felsen bezaubert. Genug der Sage, denn in diesem Kapitel wird es um Evolution, um einen naturwissenschaftlichen Zugang zum Phänomen Musik gehen – warum streifen wir den Mythos dann überhaupt an dieser Stelle?
Wenn man Mythen nicht nur als Dichtung wertet, sondern, was anthropologisch sinnvoll und lohnend ist, als Manifestation eines kollektiven Unbewussten, dann könnten zwei Motive auffallen: In der Geschichte von Syrinx und Pan (und nicht nur dort) haben das Musikinstrument und der Klang eine erotische Bedeutung. Die Episode von Hermes und der Leier benennt die in einer Hirten- und Bauernkultur existenzbestimmenden Tiere (und die symbolisch langlebige, nahezu unsterbliche Schildkröte), aus deren Körpern das Instrument entsteht. So verknüpft der Mythos die Musik mit dem Lebenswichtigen. Genauer gesagt: Er verknüpft das Musikinstrument als Sinnbild der Musik mit dem Lebenswichtigen. Warum aber dem Menschen Gesang gegeben ist, das bedarf, wie es scheint, keiner Erklärung. In der Neuzeit ist Jean-Jacques Rousseau2 einer der ersten Denker, der sich über die Herkunft der Musik äußert. Er führt Musik und Sprache auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. In Rousseaus Vorstellung gebrauchten die Menschen der Urzeit ihre Stimme singend und verständigten sich in chansons (Lieder), denn musique (Musik) und langue (Sprache) waren im Urzustand eins. Erst später entzweiten und verselbstständigten sich Ton und gesprochenes Wort, was Rousseau als unheilvolle Entwicklung beurteilt.
Die Vorstellung, dass die gesprochene Sprache aus dem Gesang hervorgegangen ist, bleibt über lange Zeit populär. Heinrich Heine schreibt 1822 aus der preußischen Hauptstadt:
»Was man in Berlin singt, das wissen Sie jetzt, und ich komme zur Frage: Was spricht man in Berlin? – Ich habe vorsätzlich erst vom Singen gesprochen, da ich überzeugt bin, daß die Menschen erst gesungen haben, ehe sie sprechen lernten, so wie die metrische Sprache der Prosa voranging. Wirklich, ich glaube, daß Adam und Eva sich in schmelzenden Adagios Liebeserklärungen machten und in Rezitativen ausschimpften. Ob Adam auch zu letztern den Takt schlug? Wahrscheinlich. Dieses Taktschlagen ist bei unserm Berliner Pöbel durch Tradition noch geblieben, obschon das Singen dabei außer Gebrauch kam. Wie die Kanarienvögel zwitscherten unsere Ureltern in den Tälern Kaschimirs. Wie haben wir uns ausgebildet! Ob die Vögel einst ebenfalls zum Sprechen gelangen werden? Die Hunde und die Schweine sind auf gutem Wege; ihr Bellen und Grunzen ist ein Übergang vom Singen zum ordentlichen Sprechen.«3
Auch Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, äußert sich knapp 50 Jahre später ähnlich wie der deutsche Dichter:
»Es erscheint möglich, dass die Vorfahren des Menschen, entweder die männlichen oder weiblichen oder beide Geschlechter, es unternahmen, einander mit musikalischen Tönen und Rhythmus zu betören, bevor sie die Fähigkeit erwarben, ihre gegenseitige Liebe in artikulierter Sprache auszudrücken.«4
Dem Naturforscher geht es jedoch nicht darum, einen vermuteten Urzustand poetisch zu verklären oder zu karikieren. Er schreibt diese Zeilen in seinem 1871 erschienenen Werk The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (deutscher Titel: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl). Darin legt Darwin seine Theorie der Abstammung des Menschen von tierischen Vorläufern dar, insbesondere die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe. Diese revolutionären Thesen waren zu jener Zeit bereits durch zwei andere Gelehrte, den Engländer Thomas Henry Huxley und den Deutschen Ernst Haeckel publik gemacht worden und gerieten schnell zu einem heiß diskutierten Gesellschaftsthema.
Darüber hinaus erläutert Darwin in seinem zweiten großen wissenschaftlichen Werk (nach The Origin of Species von 1859) ein wesentliches Prinzip der Evolutionstheorie. Neben der natürlichen Selektion, der Auslese durch Umweltbedingungen, wirkt noch ein anderer Mechanismus in der Entstehung der Arten, nämlich die sexuelle Selektion, die Auslese durch Partnerwahl. Wer durch bestimmte Eigenschaften der Erscheinung oder des Verhaltens das andere Geschlecht anzieht, wird mehr Nachkommen haben. Diese erben die attraktive Eigenschaft, und sie setzt sich im Laufe der Stammesgeschichte als Artmerkmal durch. Daher besitzen beispielsweise Pfauenmännchen übermäßig lange Schwanzfedern, die zwar für die Fortbewegung unpraktisch sind, mit denen sich aber ein prächtiges Rad schlagen lässt, das das Pfauenweibchen sexy findet. Auch die Fähigkeit vieler Tierarten (vor allem der Männchen), komplexe melodische Laute von sich zu geben, führt Darwin auf diesen Mechanismus der sexuellen Selektion zurück. Die Laute, die das Männchen vorwiegend in der Paarungszeit hören lässt, gefallen offensichtlich dem anderen Geschlecht und locken es an.

Tierische Musik

Da der Mensch nach Darwins Auffassung – und nach heute gesicherter Erkenntnis – aus dem Stammbaum des Tierreichs hervorgegangen ist, liegt es nahe, auch das Verhalten des Menschen mit dem Verhalten tierischer Verwandter in Beziehung zu setzen. Zu der Hypothese über den ursprünglichen Zweck menschlicher Musik als Mittel der Brautwerbung gelangt Darwin, indem er aus der biologischen Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch auch eine Verwandtschaft zwischen tierischer und menschlicher Kommunikation ableitet. Das Phänomen, dass viele Laute im Tierreich für unsere Ohren »musikalisch« klingen, weil sie sich aus harmonischen Schwingungen zusammensetzen, scheint also kein Zufall zu sein. Die Evolutionstheorie ist heute nicht nur in der naturwissenschaftlichen Fachwelt, sondern auch in der Allgemeinheit der westlichen Gesellschaft weithin akzeptiert und gilt als plausibles Modell, um die Vielfalt der Organismen, ihre Beziehungen untereinander und ihre Rolle in der Umwelt zu erklären. Auch die meisten führenden Theologen der katholischen und der evangelischen Kirche sehen heute keinen Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlichem Schöpfungsglauben.5 Sie teilen die Sicht, dass der Mensch – wenn man so will als »Krone der Schöpfung« – in einer biologischen Abstammungsgemeinschaft mit den Tieren steht. Die Frage nach evolutionären »Ursprüngen« unseres Verhaltens und unserer mentalen Fähigkeiten muss daher wohl zuerst lauten: Welche Eigenschaften haben wir Menschen mit anderen Spezies gemeinsam, und wie weit kann die Spur eines Merkmals im Stammbaum der Wirbeltiere (oder sogar aller Organismen) zurückverfolgt werden? In der Tat sind ja die molekulargenetischen Befunde der Verwandtschaft frappierend: Mit dem Schimpansen teilen wir mindestens 95 Prozent, wenn nicht sogar 99 Prozent unseres Erbmaterials, mit der Maus immerhin 78,5 Prozent, und sogar mit der Fruchtfliege der Gattung Drosophila haben wir noch 60 Prozent gemeinsame DNA. Bei allen offenkundigen Unterschieden sollte daher wenigstens unter den Wirbeltieren ein hoher Grad an Ähnlichkeit zwischen vergleichbaren physiologischen Vorgängen, die eine genetische Grundlage haben, zu erwarten sein. Suchen wir also auf der Spur einer »Natur der Musik« zunächst nach der »Musik in der Natur«. Die Virtuosenrolle im Konzert der Tiere spielen die Bewohner der Luft. Bereits die Begriffe »Vogelgesang« und »Singvögel« zeigen, wie selbstverständlich wir Menschen (nicht nur in der deutschen Sprache) den Amseln, Drosseln, Finken und Staren Musikalität zuschreiben. Auch in der zoologischen Taxonomie hat sich für die zum »Gesang« fähige etwa 4000 Arten umfassende Unterordnung der Sperlingsvögel der Name Singvögel oder Oscines (von lat. canere = singen) etabliert.
Die gefiederten Sänger spielen eine tragende Rolle in der Dichtung und im Liedgut der Jahrhunderte. Der Topos des Vogelgesangs scheint für die poetische Darstellung der Liebe, der Sehnsucht und des locus amoenus, des angenehmen Aufenthaltsortes, ebenso wesentlich zu sein wie der Bach oder der Mond. Insbesondere zwei Vogelarten werden immer wieder gerühmt und besungen: die Nachtigall, deren süße, klagende Töne zu nächtlicher Stunde die Gefühle des Menschen bewegen:
»Alles schweiget, Nachtigallen
Locken mit süßen Melodien
Tränen ins Auge, Schwermut ins Herz.«6
… und die Lerche, weil sie sich in den Himmel aufschwingt und, so heißt es, ein Loblied Gottes singt: »Laudat alauda Deum dum se se tollit in altum.«7
Komponisten verschiedener Epochen haben sich von den Stimmen der Vögel inspirieren lassen und Werke geschrieben, in denen Blasinstrumente, Streichinstrumente oder auch die menschliche Stimme Vogelgesang nachahmen.
Der Niederländer Jacob van Eyck (1590–1657), von Geburt an blind, komponierte eine Variationenfolge für Sopranblockflöte solo mit dem Namen Die Englische Nachtigall. Zu Beginn des Konzertes Der Frühling aus Antonio Vivaldis (1678–1741) berühmten Vier Jahreszeiten stellen drei Violinen ebenso kunstvoll wie naturgetreu ein zwitscherndes Vogeltrio dar. »Der Frühling ist gekommen, und festlich begrüßen ihn die Vögel mit heiterem Gesang«, lauten die Zeilen des erläuternden Sonetts, das der Venezianer seiner Komposition beifügte.
Fast zweihundert Jahre später erklärte auch Gustav Mahler (1860-1911) die Tonmalerei im ersten Satz seiner Symphonie Nr.1 mit einer programmatischen Überschrift: »Die Einleitung schildert das Erwachen der Natur am frühesten Morgen.« Später entfernte Mahler diese Erläuterung wieder, denn der Hörer erfasst auch ohne Worte die Szenerie und erkennt den Finkenschlag und den Kuckucksruf der Holzbläser.
Ralph Vaughan Williams (1872–1958) gab der Solovioline den Part einer singend in den Himmel steigenden Feldlerche (The Ascending Lark). Im 20. Jahrhundert hat sich der französische Komponist Olivier Messiaen (1908–1992) besonders intensiv mit Vogelstimmen beschäftigt. »So wie Bartók Ungarn durchstreifte, um Volkslieder zu sammeln, habe ich lange Jahre die Provinzen Frankreichs durchstreift, um den Gesang der Vögel aufzuschreiben«, erzählte Messiaen. Aus den Aufzeichnungen entwickelte er seine Kompositionen. Der Franzose bekannte: »Trotz meiner tiefen Bewunderung für die Volkslieder der Welt glaube ich nicht, dass man in irgendeiner Menschenmusik, wie inspiriert sie auch immer sei, Melodien und Rhythmen finden kann, die die souveräne Freiheit des Vogellieds besitzen.«
Dies sind nur einige wenige Beispiele für den künstlerischen Topos einer engen Beziehung zwischen Menschenmusik und Vogelgesang. Er berührt uns, aber seine Bedeutung können wir nicht verstehen – es sei denn durch Zauberkraft! Davon erzählt Richard Wagner (1813–1883), dessen Held Siegfried dem Waldvogel lauscht und sich wünscht, er wüsste, was der Vogel ihm sagen will. Nachdem Siegfried den Lindwurm Fafner getötet und ein wenig Drachenblut auf die Zunge bekommen hat, versteht er mit einem Mal den Gesang des Waldvogels, der nun nicht mehr mit den Tönen der Flöte, sondern mit einer menschlichen Sopranstimme zu Siegfried spricht (bzw. singt) und ihm den weiteren Weg weist.
Was aber sagt die Naturwissenschaft? Wie singen Vögel, was singen sie und warum singen sie?
Auch Vögel besitzen, wie alle Wirbeltiere, am oberen Ende ihrer Luftröhre einen Kehlkopf (Larynx). Diesem fehlen jedoch die im Säugetierkehlkopf vorhandenen Stimmbänder. Vögel bringen ihre Töne mit einem anderen Organ hervor, dem Stimmkopf. Er heißt mit anatomischem Namen Syrinx (so wie die Nymphe, die sich in ein Schilfrohr verwandelte) und liegt an der Gabelung der Luftröhre in die beiden Hauptbronchienäste. Die aus den Lungen ausströmende Luft bringt in der Syrinx Membranen zum Schwingen, deren Spannung durch ein komplexes Muskelsystem verändert werden kann. Meist ist die Syrinx von einem Luftsack umgeben, der als zusätzlicher Resonanzkörper wirkt.
Die Tonbildung im Stimmkopf der Vögel funktioniert also ähnlich wie die im Kehlkopf der Säugetiere, die Organe sind jedoch verschieden. Daher sind Vogel- und Säugetierstimme nicht homolog, wie die Biologen sagen. Homologe Merkmale sind stammesgeschichtlich aus derselben Wurzel hervorgegangen: Der Flügel des Vogels etwa ist als Vorderextremität dem Vorderbein des Krokodils und dem Arm des Menschen homolog. Wenn hingegen Organe unterschiedlicher Herkunft im Laufe der Evolution ähnliche Funktionen und daher oft auch ein ähnliches Aussehen erhalten haben, spricht man von Analogie. Die Grabschaufeln des Maulwurfs und die der Maulwurfsgrille sind einander analog; ebenso verhält es sich mit der Syrinx der Vögel und dem Larynx der Säugetiere.
Die Fähigkeit, komplexe Melodien zu produzieren, ist den Singvögeln angeboren. Das bedeutet aber nicht, dass die Gesänge angeborene Programme sind, die gleichsam automatisch ablaufen.
Ein Zaunkönig beherrscht etwa fünf bis zehn »Lieder«. Jedes Lied setzt sich aus Phrasen zusammen, die der Vogel in seinem Repertoire hat, doch die Reihenfolge und das Arrangement dieser musikalischen Bausteine ist in jedem Lied anders. Die Lieder eines Zaunkönigmännchens unterscheiden sich untereinander, und sie unterscheiden sich von den Weisen der anderen Zaunkönige. Ornithologen fanden heraus, dass das Repertoire eines älteren, erfahrenen Männchens größer ist als das eines jüngeren Vogels. Der Jungvogel lernt singen, indem er die Lieder der erwachsenen Zaunkönige hört, sie in Segmente zerlegt und diese Bausteine dann neu zu eigenen Liedern zusammensetzt.8
Doch Vögel lernen nicht nur von ihren Artgenossen. Viele Singvögel sind auch in der Lage, artfremde Laute aus ihrer Umwelt in ihr eigenes Repertoire aufzunehmen. Schon mancher Stadtrandbewohner konnte in seinem Garten Bekanntschaft mit einer Amsel machen, die den Ton einer Fahrradklingel täuschend echt parodierte. Papageien (die nicht zu den Singvögeln gehören) können bekanntlich sehr differenziert menschliche Sprachlaute nachahmen; ebenso gut gelingt dies auch den Rabenvögeln (die zu den Singvögeln gehören, allerdings nicht singen können).
Die Melodien der Singvögel weisen oft rhythmische Muster, Tonhöhenverhältnisse und Tonkombinationen auf, die denen menschlicher Kompositionen ähneln. Daher sprechen manche Vogelgesänge unsere musikalische Wahrnehmung an.9Der amerikanische Ornithologe Luis Baptista spielte bei einer wissenschaftlichen Tagung seinem Auditorium eine Aufnahme einer Tonfolge vor, die jeder Zuhörer – trotz veränderter Tonlage – sofort als das Eröffnungsmotiv der Fünften Symphonie von Ludwig van Beethoven identifizieren konnte: »ba-ba-ba baaam«. Bei dem Musikbeispiel handelte es sich jedoch nicht um Wiener Klassik, sondern um den Ruf des Singvogels Henicorhina leucosticta, eines mexikanischen Verwandten des Zaunkönigs.
Wie bereits erwähnt, bestehen Vogelgesänge oft aus kurzen Motiven, die der gefiederte Sänger vielmals wiederholt, variiert und mit anderen Motiven kombiniert. Genau das sind Prinzipien, nach denen auch menschliche Musik aufgebaut ist. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache akzeptieren und schätzen wir in der Musik die Wiederholung, auch die wörtliche, fortgesetzte und hartnäckige Wiederholung als Mittel der Gestaltung u...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Präludium
  6. I. Musikalische Natur Lento
  7. II. Musikalische Kultur
  8. III. Musik und Person
  9. IV. Mehr Musik wagen
  10. Anhang
  11. Hörtipp
  12. Lesetipp