Stefanie Schüler-Springorum
Das Untote
Warum der Antisemitismus so lebendig bleibt und ist
Während diese Zeilen geschrieben werden, findet in Magdeburg der Prozess gegen den Attentäter von Halle statt, der an Jom Kippur 2019 versuchte, die dortige Synagoge zu stürmen. Als die massive Tür seinem Angriff standhielt und so das geplante Massaker verhinderte, erschoss er eine Frau, die ihm zufällig über den Weg lief, dann den Kunden eines Dönerimbisses, den er für einen »Nahöstler« hielt, und schließlich verletzte er mehrere weitere Personen, zum Teil schwer. In der Berichterstattung über den ersten Prozesstag, an dem der Angeklagte zur Person und zum Tathergang vernommen wurde, dominiert ein Motiv: die Sprach- und Fassungslosigkeit der Zuhörer, Richterin und Staatsanwälte, Angehörige und Journalistinnen eingeschlossen. Es ist schon eine Weile her, dass man in einem deutschen Gerichtssaal eine so umfassende Präsentation dessen zu Ohren bekam, was die Forschung etwas gedrechselt ein »geschlossenes antisemitisches Weltbild« nennt: Juden sind die Drahtzieher hinter allem Bösen. In diesem konkreten Fall lenken sie – einem angeblich »Großen Plan« folgend – muslimische Flüchtlingsströme nach Deutschland, um die dortige Bevölkerung zu zer- beziehungsweise zu ersetzen, was nicht nur mittels demografischer Masse, sondern zusätzlich durch die jüdische »Erfindung« des Feminismus geschieht, der bewirkt, dass deutsche Männer keine deutschen Frauen und Letztere nicht mehr genügend Kinder bekommen.
So kurz, so krude, so vertraut. Und so wichtig es ist, auf das konkrete politisch-gesellschaftliche Umfeld zu verweisen, in dem dieses Gedankengebäude, mehr oder weniger umfassend oder »geschlossen«, mit oder ohne der einen oder anderen spezifischen Ingredienz (in Corona-Zeiten kommt zum Beispiel noch die Große Impfverschwörung hinzu), einer, so scheint es, wachsenden Zahl von Menschen plausibel erscheint, so befremdlich ist gleichzeitig das Erstaunen über die Stabilität der antisemitischen Architektur selbst.
Denn wenn man die theoretischen Erklärungsversuche wie etwa die der sich einer beeindruckenden Renaissance erfreuenden Kritischen Theorie wirklich ernst nimmt, dann müsste man sich eigentlich darüber wundern, dass überhaupt irgendwer davon ausgeht, diese spezifische Form von Hass lasse sich durch die übliche Trias von Forschung, Bildung und Vernunft zum Verschwinden bringen, ganz ohne Abschaffung mindestens des Kapitalismus und seiner von ihm erzeugten Psychodynamiken. Angesichts dieses gerade in Deutschland besonders virulenten Widerspruchs zwischen Theorie, Empörung und möglicher Praxis lohnt sich ein Blick in die lange Geschichte eines Phänomens, dessen grundsätzliche Deutung auch in der historischen Forschung alles andere als unumstritten ist.
Grob gesagt lässt es sich i...