Sibylle Anderl
Physik des Lebens
Reflexionen kosmischen Ausmaßes
Der Fluchtpunkt menschlicher Kränkungen, so könnte man spekulieren, befindet sich mit einiger Wahrscheinlichkeit im All. Denn selbst als Bewohner eines nicht besonders außergewöhnlichen Sonnensystems in galaktischer Randlage einer eher durchschnittlichen Spiralgalaxie und als evolutionäres Zufallsprodukt mit tief greifenden Seelendefiziten kann der Mensch sich immerhin noch einreden, als dominierendes irdisches Lebewesen kosmische Einzigartigkeit beanspruchen zu dürfen. Bisher ist die Erde der einzige uns bekannte Planet, auf dem sich Leben entwickeln konnte – auch umfangreiche Suchaktionen haben nichts Gegenteiliges ergeben. Sofern man aus diesem Misserfolg eine generelle Unwahrscheinlichkeit der Ausbreitung des Lebens im All ableitet, ergibt sich aus ihr, mit Hans Blumenberg gesprochen, zumindest »auch ohne ihre Rückführung auf höhere Absichten, immer noch … das Wertkriterium der Seltenheit«.1 Das ist doch immerhin etwas, wenngleich vorsichtig einzuwenden ist, dass sich seit Blumenbergs Zeiten wissenschaftlich einiges verändert hat.
Zwar haben noch immer keine Aliens auf unsere ins All verschickten Botschaften geantwortet, und auch die von uns an die Ränder des Sonnensystems gesandten Sonden haben keine Hinweise auf fremdes Leben liefern können. Wir wissen aber, dass in unserer Galaxie an Sternen, die von Planeten umkreist werden, keinerlei Mangel herrscht. Mehr als 4000 solcher Exoplaneten kennen wir mittlerweile – ein Wissen, das erst in den vergangenen Jahrzehnten entstanden ist. Erst 25 Jahre sind seit der Entdeckung des ersten Exoplaneten, der einen sonnenähnlichen Stern umkreist, vergangen. 2019 wurde dieser Fund mit dem Physik-Nobelpreis geehrt. Die immense Vielfalt unterschiedlicher Welten, die seither entdeckt wurden, sprengt alle ursprünglichen Erwartungen. Gasriesen und Gesteinsplaneten, der Erde ähnlich oder auch ganz anders als aus unserem Sonnensystem bekannt, heiße und kalte Welten auf unterschiedlichsten Bahnen um ihre verschiedenartigsten Heimatsterne kennen wir heute. Meldungen neuer »lebensfreundlicher« Exoplaneten, »zweiter Erden« mit möglicherweise flüssigem Wasser, haben angesichts ihrer deutlichen Häufung in ihrem Sensationswert stark einbüßen müssen. Die kosmischen Umgebungen für die Entstehung von Leben gäbe es also. Auch die notwendige Chemie – Zucker, Aminosäuren, Nukleobasen – scheint im interstellaren Medium durchaus verbreitet, das zeigen astronomische Beobachtungen und chemische Analysen von Meteoriten.
Und doch bleibt die Frage: Reicht das alles? Genügen die vermutlich benötigten Grundzutaten für die Entstehung von Leben, um dieses auch wirklich entstehen zu lassen? Was müssen wir wissen, um diese Frage beantworten zu können? Wonach sollten wir suchen, um auf fremdes Leben zu stoßen, und wo erscheint die Suche am wahrscheinlichsten? Und nicht zuletzt: Was lernen wir über uns selbst, wenn wir versuchen, fremde Lebensformen zu ergründen?
Wonach suchen wir eigentlich?
Dass der Mensch zunächst einmal an eine verfremdete Variante seiner selbst denkt, wenn er sich extraterrestrisches Leben vorzustellen versucht, ist angesichts der Egozentriertheit unserer Spezies nicht weiter überraschend. ...