Marlene Müller-Brandeck
Für andere leben
Möglichkeitsräume aktueller Care-Arbeit
Eine Mutter fesselt ihre drei Söhne, tapt ihnen den Mund zu, reiht sie nebeneinander auf dem Boden auf. Endlich kann sie sich auf ihre Arbeit im Homeoffice konzentrieren. Während des Lockdowns hat diese Karikatur sicher für manches Schmunzeln bei gestressten Eltern gesorgt. Genauso wie für blanke Empörung: Eltern hätten sich schließlich selbst ausgesucht, Kinder zu bekommen, wie könnten sie sich nun darüber beschweren, wenn ihre Kinder den ganzen Tag zu Hause seien und sie Zeit mit ihnen verbringen müssten? Schließlich sei es die Aufgabe von Eltern, sich um ihre Kinder zu kümmern!
Die Corona-Pandemie hat noch einmal mit Nachdruck deutlich gemacht, mit welchen Konfrontationen und Unzulänglichkeiten familiäre Gefüge konfrontiert sind. Besonders der Umstand, die strukturierte Verteilung von An- und Abwesenheit durch Arbeit und Kindergarten plötzlich aufgebrochen zu sehen und sowohl der Erwerbs- als auch der Care-Arbeit zur gleichen Zeit am gleichen Ort gerecht werden zu müssen, hat viele Eltern – aber auch viele Kinder – an ihre Grenzen gebracht. Fokussiert man allerdings die grundlegenden Probleme und Herausforderungen der Care-Arbeit, so hat die durch Corona veränderte Situation eine breite Öffentlichkeit für das grundlegende Paradox auf dem Care-Gebiet sensibilisiert, das sich auch durch andere Bereiche der Fürsorgearbeit zieht: Ob Kindererziehung, Altenpflege oder Palliativbetreuung, Care-Arbeit steht immer im Ruf, »so einfach« geleistet werden zu können, und beweist sich in unserer modernen Gesellschaft gleichzeitig als diejenige Arbeit am und mit dem Mitmenschen, die unter größten Belastungen stattfindet. Care-Arbeit ist überlebenswichtige soziale Interaktion, ist Fürsorgearbeit, deren Orientierungsmaßstab die Bedürfnisse des anderen sind, darf aber gleichzeitig keine Arbeit sein, die die ohnehin gegebene Asymmetrie zwischen »care receiver« und »care giver« so sehr verstärkt, dass die Belastung für Letztgenannten zu groß wird. Fürsorgearbeit beinhaltet das Paradox, nur dann optimal für andere sorgen zu können, wenn man für sich selbst am besten sorgt. Sie braucht Struktur, darf aber nicht nach Stundenplan ablaufen. Sie muss die richtige Balance finden zwischen eigener Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisbefriedigung des anderen. Sie muss Bedürfniskoordi...