Kirsten Boie, Till Weitendorf
Alles Pippi oder was?
Im Gespräch mit Luise Ritter, Peter Felixberger und Armin Nassehi
Kursbuch: Kirsten Boie, Till Weitendorf, bevor wir in medias res gehen: Was war für Sie das allererste Kinderbuch, das Sie begeistert hat oder an das Sie eine eindrückliche Erinnerung haben?
Kirsten Boie: Das erste Buch, das mich zutiefst beeindruckt hat und das mir vorgelesen wurde, war gar nicht im eigentlichen Sinne ein Kinderbuch. Es war Das große Wilhelm Busch Album, das meine Mutter noch aus ihrer Kindheit hatte. Ich konnte es halb auswendig! Wenn es danach um Kinderbücher geht, erinnere ich mich eindrücklich an Pippi Langstrumpf. Vor allem deshalb, weil mir auffiel, dass nicht nur ich das sehr komisch fand, sondern auch meine Mutter, die es vorlas. Sie hat sich vor Lachen geschüttelt – aber immer an anderen Stellen als ich. Ich wusste nie so richtig, warum sie eine Textstelle witzig fand, sie wusste dagegen natürlich genau, warum ich etwas lustig fand.
Till Weitendorf: Bei mir ist es Henriette Bimmelbahn von James Krüss, einfach deswegen, weil es so herrlich vorgelesen werden kann, was ich jetzt bei meinen eigenen Kindern auch wieder merke. Nur ein kleines Bilderbuch, aber mit so großartigen Reimen: Da rattert und knattert es, es dampft und faucht. Aber auch meine Kindheit ist stark durch Astrid Lindgren geprägt, wobei man dazusagen muss, dass in unserem Haushalt Kinderbücher ja omnipräsent waren.
Kursbuch: Sie stammen aus der Verlegerfamilie Oetinger, Herr Weitendorf. Wie war das bei Ihnen, Frau Boie, wuchsen auch Sie in einem Elternhaus auf, das sich sehr stark um Kinderbücher, um das Lesen und Vorlesen, ja das Konsumieren von Kinderliteratur gekümmert hat?
Kirsten Boie: Meine Eltern hatten beide keinen höheren Bildungsabschluss, waren aber sehr belesen. Sie waren im Bertelsmann Lesekreis, bekamen also jeden Monat ein Buch geschickt und wünschten sich das Lesen auch für ihre Kinder. Ich habe sehr früh angefangen, selbst zu lesen, aber – und das müssen wir mitbedenken, wenn wir über die heutige Situation sprechen – wir hatten damals keine Alternative. Es gab kein Fernsehen, es gab einmal die Woche im Rundfunk eine Stunde Kinderfunk, und es gab keine Hör-CDs. Wer also etwas anderes wollte als seine eigene Wirklichkeit, der musste lesen.
Till Weitendorf: Bei uns wurde natürlich beruflich viel gelesen, denn das Buch besaß bei uns eben auch den Stellenwert eines Wirtschaftsgutes. Da war es nicht immer selbstverständlich, dass Zeit zum Vorlesen übrig blieb. Ich hatte aber das große Glück, dass meine Mutter mir trotzdem vorgelesen hat. So richtig entflammt wurde ich für das Medium Buch dann, als ich selbst lesen konnte. Ich weiß noch, Mio, mein Mio von Astrid Lindgren hat mich sehr begeistert. Das fand ich sensationell, und später habe ich dann Comics gelesen, was mein Vater wiederum gar nicht gut fand. Aber, und das war dann etwas anders als bei dir, Kirsten, gehörte bei uns das Fernsehen einfach auch schon dazu, ich erinnere mich an die Sesamstraße, Peter Lustigs Löwenzahn und so weiter. Die Mediennutzung war in meinem Heranwachsen also schon sehr ausdifferenziert.
Kursbuch: Sind Kinderbücher oder Kindermedien nur dann bedeutungsvoll, wenn es auch eine Idee von Kindheit gibt? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Autonomie von Kindheit und den Medien, die genutzt werden?
Kirsten Boie: Kinder hatten damals definitiv viel mehr Zeit als heute. Es gab nur vormittags die Schule, dann in der Regel die traditionelle Familienkonstellation mit einer Mutter als Hausfrau, zu der man am Nachmittag zurückkehrte, schließlich noch die Hausaufgaben, danach war man frei. Und wer nicht mit Freunden spiele...