Sport frei? Nee, Eisern Union!
Erinnerungen eines Fans
Frank Nussbücker
(picture alliance / ZB / Hanns-Peter Beyer)
»Wir beginnen die Sportstunde mit einem einfachen Sport frei!«, startete allwöchentlich das für mich seit der 1. Klasse schrecklichste Unterrichtsfach. Eine Mischung aus mangelndem Talent und fehlendem Selbstbewusstsein ließ mich in Sport zumeist unglücklich aussehen. Besonders hasste ich das Geräteturnen. Stand Bockspringen auf dem Plan, fand ich in der Nacht vor der Doppelstunde Sport nur schwer in den Schlaf. Zu groß meine Angst, ich breche mir beim Satz über das lederbezogene Ungetüm sämtliche Knochen. Mir fehlte die Coolness meines Schulfreunds Matthi, der das Bockspringen aufgrund eingeschränkter Sehkraft entschlossen verweigerte. Dabei war Matthis Brille längst nicht so stark wie meine.
Ähnlich verhasst waren mir Staffelspiele jeglicher Art, bei denen ich nicht schuld sein wollte, wenn meine Riege als letzte ins Ziel kam. Ausdauerlauf und Boxen waren die einzigen Disziplinen, die mir Spaß bereiteten.
Dass der Sport in meinem Heimatland eine wichtige gesellschaftliche Funktion innehatte, machte mir die Sache nicht leichter. Unsere Spitzensportler hießen »Diplomaten im Trainingsanzug«. Wir Kinder sollten uns durch sportliche Betätigung fit halten, wir Jungs zudem für unseren »Ehrendienst« in der NVA stählen. Latte, der mustergültige Offiziersbewerber unserer Klasse, galt als einer der besten Sportler der Schule. Auch all das Vormilitärische förderte meine Liebe zu sportlicher Betätigung nicht gerade.
Dabei liebte ich es, Sportübertragungen im Fernsehen zu gucken. Insbesondere Fußball begeisterte mich, seit ich zum ersten Mal ein Spiel auf der Mattscheibe gesehen hatte. Wann immer irgendwo zwei unterschiedlich gekleidete Teams gegeneinander antraten, konnte ich nicht anders, als ihrem Tun gebannt zu folgen. Gern im Fernsehen, noch viel lieber live – unvergessen mein erster Stadionbesuch: DDR-Juniorenauswahl gegen Hammarby IF aus Stockholm vor 3000 Zuschauern im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportplatz zu Oranienburg.
Leider erwies ich mich auf dem Platz als völlig talentlos. Wählten Latte und Willi ihre Mannschaften, holten sie mich als Vorletzten in ihr Team. Nur der kleine Todde riss auf dem Platz noch weniger als ich. Mein Platz im Stadion befand sich also auf den Rängen.
Zunächst sympathisierte ich mit den Erfolgsmannschaften Dynamo Dresden und 1. FC Magdeburg, die so regelmäßig wie erfolgreich im Europapokal spielten. Den FC Carl Zeiss aus meiner Geburtsstadt Jena entdeckte ich für mich, als dieser gegen Altay Izmir nach Rückstand in der 39. Minute ausglich und am Ende mit 5:1 gewann.
Jenaer Ernst-Abbe-Sportfeld, 14. September 1977: Jenas Abwehrspieler Ulrich Oevermann (l.) kommt vor einem Izmir-Spieler zum Schuss, seine Teamgefährten Rüdiger Schnuphase (M. hinten) und Martin Trocha (r.) schauen zu. Der FC Carl Zeiss Jena gewinnt das Erstrunden-Hinspiel im UEFA-Cup gegen den türkischen Vertreter Altay Izmir mit 5:1. Das Rückspiel verliert Jena in Izmir mit 1:4. (picture alliance / ZB / Frank Kruczynski)
Da ich im Norden der Hauptstadt aufwuchs, gerieten bald zwei andere Vereine in meinen Fokus. Der eine unterstand den sogenannten bewaffneten Organen. Da alle Mitschüler, die später mal Offiziere werden wollten und unser Staatsbürgerkundelehrer Hennecke zu seinen Verehrern gehörten, verbot sich mir die Anhängerschaft. Erst recht, als sich diese Truppe Ende der 1970er Jahre zum Serienmeister aufschwang.
Viel mehr zog mich der andere hauptstädtische Club an, der in der Oberliga längst nicht immer erfolgreich gegen den Abstieg in die DDR-Liga kämpfende 1. FC Union Berlin. Der hatte mit keiner der waffenrocktragenden Trachtengruppen meines Heimatlands etwas zu tun, das gefiel mir.
Seine Fans waren, zumindest im Kosmos unserer Schule, die langhaarigen Rabauken aus den oberen Klassen, die stolz das Union-Logo auf ihren echten Westjeans-Jacken und -Westen trugen und in der großen Pause am entlegensten Ende des Schulhofs unter der alten Ulme heimlich rauchten. Nicht nur in der kalten Jahreszeit erschienen viele von ihnen mit rotweißem Union-Schal zum Unterricht und machten es besonders unserer sangesfreudigen Musiklehrerin Frau Klingbeil schwer, wie mir mein heutiger Union-Kumpel Linse steckte. Drei Klassen über mir, wurde Linse mit seiner logobesetzten Jethro-Tull-Weste mein Held. Geile Westmugge und der FCU, das war’s doch!
Allerdings nicht für die arme Frau Klingbeil, bei der Linse und seine Kumpane jahrelang an einem kollektiven Stimmbruch litten, der ihnen das Mitsingen all der von ihr angestimmten Lieder unmöglich machte. Einzige Ausnahme bildete der FDJ-Gassenhauer »Vorwärts, Freie Deutsche Jugend«. Auch hier schwiegen sie konsequent bis zur letzten Strophe, in der es heißt:
»Seid bereit und kampfentschlossen
Wenn Gefahren uns bedrohn!
Unsre Zeit will Glück und Frieden
Freundschaft zur Sowjet…«
An dieser Stelle brüllten Linse und seine Freunde, als befänden sie sich mitten im Spiel ihres Vereins im Stadion An der Alten Försterei, aus voller Kehle das so auch im FDJ-Liedtext stehende: »Union!«, bevor sie allesamt wieder im chronischen Musikunterrichtsstimmbruch versanken.
Hallenser Kurt-Wabbel-Stadion, 9. Juni 1968: Union-Fans beim Schwenken großer Klubfahnen. Der 1. FC Union gewinnt vor 13 000 Zuschauern das 17. FDGB-Pokalfinale gegen den neuen Meister und Favoriten FC Carl Zeiss Jena sensationell mit 2:1. Es bleibt der einzige DDR-Pokalsieg der Berliner in ihrer Vereinsgeschichte. (picture alliance / ZB / Hanns-Peter Beyer)
Apropos Stadion An der Alten Försterei: Dorthin eilten sie an jedem Heimspiel-Samstag. Von der Schule rannten sie hinüber zum Bahnhof, holten Fußballtröte, Union-Fahne und weiteres Stadionzubehör aus dem Schließfach, knallten die Schulmappen rein – und ab nach Köpenick!
Bald gehörten auch einige Jungs aus meiner Klassenstufe zum Tross der fahrenden Unioner. Scholle und Ekym aus der Parallelklasse erschienen samstags, spielte Union auswärts, gar nicht erst in der Schule. Schließlich galt es, ihren Verein in Dresden, Rostock, Aue oder sonst wo mit aller Sangeskraft und bald auch Trinkfestigkeit zu unterstützen.
Wie spannend es An der Alten Försterei zuging, erlebte ich schließlich Ende der 1970er. Zusammen mit Schulfreund Berge besuchte ich dort mein allererstes Union-Spiel! Aufgeregt erschien ich zur vereinbarten Zeit am Bahnhof, um meinen Hals den von Tante Renate auf der modernen Strickmaschine gefertigten, weit über zwei Meter langen Union-Schal. Wie groß war meine Enttäuschung, als mich Berge mit einem Kopfschütteln und den Worten empfing: »Wolle weg, Nussi, ick will lebend inne Försterei ankomm!«
Schnell führte er mir vor Augen, dass die gegnerischen Fans aus Gera, Böhlen oder Riesa hier die geringste Gefahr darstellten. Die reisten ohnehin nicht aus dem Norden Berlins an, ganz im Gegensatz zu Anhängern des anderen Ostberliner Clubs. Dass dessen Fanschaft nicht nur aus braven Offiziersbewerbern und unserem Stabülehrer bestand, davon kündeten mir an jenem Tag nur die Horrorerzählungen Berges und der anderen Steppkes, mit denen wir von Oranienburg gen Köpenick reisten.
Wie Linse und seine Leute nahmen wir jene S-Bahn, die knapp nach Schulschluss den Bahnhof verließ. Das hatte unter anderem den Grund, dass ein paar Stationen weiter die aus Richtung Hennigsdorf kommenden Unioner zustiegen. Nur eine Bahn danach konnte der Zug voller weinroter BFC-Dynamo-Fans und mein schöner Union-Schal im Nullkommanix geruppt sein, um – direkt im Waggon oder später anderswo – ein Opfer der Flammen zu werden. Vielleicht würde der Erbeuter ihn auch mit einem Aufnäher seines Vereins versehen und ihn fortan selbst tragen. Nicht immer gab es weinrote Wolle zu kaufen. Aus diesem Grund trugen Berge und die anderen Steppkes ihre Union-Schals »innen«, sprich um den Bauch gebunden unter Parka oder Anorak.
Erst einige Zeit darauf machte ich die Bekanntschaft mit Weinroten der Marke Profi-Rowdy. Vom Waggonende her besangen sie den von mir mittlerweile sehr geschätzten Fußballclub als »die Scheiße der Nation«. Einer von ihnen durchschritt den fast leeren S-Bahn-Waggon mit gezücktem Fahrtenmesser...