VIII
Die Einheit stockt und
Diestel beginnt seine Schlacht um Gerechtigkeit
Am 3. Oktober 1990 Verabschiedung aus dem Ministeramt, dann Kohls informelle Anfrage, ob er denn in die neue Bundesregierung eintreten wolle, und Diestels prompte Antwort: In Bonn würde ihn das Heimweh plagen. Diestel hatte sich aber schon an Brandenburg versprochen, wollte bei der Landtagswahl am 14. Oktober Ministerpräsident werden und gegen Manfred Stolpe antreten. Am Ende hatte Stolpes SPD neun Prozent mehr als Diestels CDU. Für ihn blieb das Amt des Oppositionsführers im Brandenburger Landtag. Das Amt kippte Diestel, als seine CDU dem Entwurf einer neuen Brandenburger Verfassung ihre Zusage verweigerte. Diestel, der Jurist, war Vorsitzender des Ausschusses gewesen, der sie erarbeitet hatte. Jetzt sprach er seiner Brandenburger CDU das Misstrauen aus und zog sich in kleinen Schritten zurück. Ab 1992 gab’s schon wieder etwas Neues. Als die Einheit nicht vorankam, die Ausgrenzung von Ostdeutschen auf Hochtouren lief, sollten Komitees für Gerechtigkeit ein Stück Frieden ins Land bringen. Für sie engagierte er sich.
Als Ende November im Revolutionsherbst 1989 Christa Wolf und Stefan Heym den Appell FÜR UNSER LAND veröffentlicht hatten, war Diestel nicht dabei. Warum eigentlich nicht?
Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob ich nicht doch unterschrieben habe. Ich hatte Sympathien für den Appell. Er war die früheste Volksbefragung. Mir missfiel der Kinderglaube, dass die DDR wandelbar ist.
Dann besaß ich diesen Kinderglauben auch. Für mich bedeutete die Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz eine große Ermutigung. Ohne Mauer und SED machen wir ernst mit einer demokratischen Republik …
Ich habe damals schon die Chance zur deutschen Einheit gesehen und genau zu dem Zeitpunkt, als die FÜR UNSER LAND gepredigt haben, hatten wir in der CSPD schon das Ziel: deutsche Einheit. Wir waren die Allerersten auf dem Weg in die Wiedervereinigung.
Schon Ende November ’89?
Vorher schon. Ich kann mich erinnern, dass an einem dieser grauen Tage Mitte November ’89 Doktor Ackermann, der damalige Büroleiter von Kohl, angerufen hat und sagte: Herr Diestel, wir sind mit der Einheit noch nicht so weit. Ich weiß noch, wie ich damals sagte: Ich kenne Sie nicht, ich weiß gar nicht, wer Sie sind. Ich mache, was ich für richtig halte, und wir, die Deutsche Soziale Union, sind die allererste Partei, die als politische Forderung die deutsche Einheit vertritt. Das ist unsere einzige Forderung, Herr Doktor Ackermann! Sie waren wirklich noch nicht so weit. Am 28. November kam Kohl dann im Bundestag mit seinem unausgegorenen Plan einer deutsch-deutschen Konföderation. Als Prophet der deutschen Einheit war ich viel weiter, aber jedes Mal, wenn ich später den ungemein klugen Mann mit den dicken schwarzen Brillengläsern an Kohls Seite getroffen habe, war mir mein forscher Ton peinlich.
Du wusstest nicht, mit wem du telefoniert hast, nehme ich an. Das war die wunderbare Zeit der Leichtigkeit des Seins, wenn das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht gültig ist.
Es war politische Naivität. Ich wollte in dieses andere, mir seit meiner Geburt verwehrte Deutschland eintreten, das war mein Lebensziel gewesen. Und ich wollte von den 16 Millionen Menschen so viele wie möglich mitnehmen. Der Aufruf FÜR UNSER LAND hatte ein ganz anderes Ziel. Der wollte eine deutsch-deutsche Koexistenz schaffen und die DDR demokratisieren. Das wollte ich nicht, weil ich nicht daran glaubte, dass die DDR sich verändern lässt. Egon Krenz hatte Honecker ersetzt. Eine abgenutzte Figur nahm sich den Platz einer anderen. Wenn man einen wie Gysi genommen hätte oder de Maizière oder irgendeinen anderen sympathischen Menschen, dann vielleicht, aber mit Krenz wäre doch im Wesentlichen alles beim Alten geblieben. Als der auch noch den Aufruf FÜR UNSER LAND unterschrieb, war mir die Veranstaltung sowieso suspekt.
Honecker und Krenz – zwei abgenutzte Figuren, das Wort trifft es. Da wurde nur ein Gesicht durch ein anderes ersetzt. Für mich lag darin von vornherein eine große Enttäuschung. Wer weiß, hätten wir uns damals schon gekannt, wäre ich dir gefolgt. Wer weiß.
Ich wusste, die verbliebene Führungsmannschaft wollte gar nichts ändern, Krenz nicht und Schabowski, der Maueröffner, auch nicht. Höchstens bisschen Lifting. Hauptsache sie konnten weiter mogeln. Die Chance für mich als parteilosen Christen, mich einzumischen, etwas zu organisieren, mein Leben selber in die Hand zu nehmen, hätte ich nicht bekommen. Bei mir ist eine große Unzufriedenheit entstanden, vielleicht war es sogar Hass, dass ich mir gesagt habe: Die da oben müssen weg. Mit denen wird es nie eine deutsche Einheit geben. Das war meine feste Überzeugung, und die war nicht verhandelbar. Kohl hat am 28. November ’89 im Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm vorgestellt, was auf die Konföderation hinauslief … Es ging um die Annäherung beider deutscher Staaten zu einem Staaten-Bund. Vertane Chance, vertane Zeit. Damals vermied Kohl das Wort Wiedervereinigung noch. Ich wollte ein geeintes Deutschland am liebsten sofort.
Darin unterscheiden wir uns. Allerdings sah ich es wie du, dass es nur Mogelei werden kann, solange die alte Garde noch mitmischt, die die DDR ja schon zugrunde gewirtschaftet hatte. In dieser Beurteilung sind wir uns einig, aber ich war für eine Reform durch die richtigen Leute, durch viele von denen, die am 4. November auf dem Alexanderplatz gesprochen haben: allen voran meine Schriftsteller Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein und der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer, der gut der erste Präsident einer neuen DDR hätte werden können.
Woher weißt du, dass das die Richtigen waren? Woher weißt du, dass sie nicht hingeschickt worden sind? Stasi-General Markus Wolf hat geredet, Politbüromitglied Schabowski, von den Blockflöten der Liberale Manfred Gerlach, wenn ich mich richtig erinnere. Stefan Heym ja, aber schon Jan Josef Liefers, dessen Eltern angesehene Theaterleute in der DDR waren, woher das blinde Vertrauen zu ihm? Sicher wäre es bei Liefers berechtigt gewesen, aber bevor man überläuft, prüft man die neue Seite. Du konntest gar nicht wissen, ob das die Richtigen sind und was sie im Einzelnen vorhatten. Woher wusstest du, Michael Hametner aus Leipzig, dass das nicht wieder eine geheimdienstlich organisierte Geschichte ist … das haben wir alle vermutet …
… das riecht nach Verschwörungstheorie?
Wenn der ehemalige Geheimdienstchef auf der Rednerliste steht, ist der Gedanke nicht abwegig.
Er wurde ausgebuht, natürlich ist er ausgebuht worden … Schabowski aus dem Politbüro ja auch, oder?
Schabowski auch. Trotzdem wurde ich nicht euphorisch, sondern nachdenklich. Woher nehmen sie die Gewissheit, dass es beim zweiten Mal gut geht?
Ich habe mich eher an Personen wie Stefan Heym, Christoph Hein und Christa Wolf orientiert oder an der alten Steffie Spira. Von ihnen kam eine Botschaft, die mich erreicht hat.
Ja natürlich, das war eine herzerfrischende Botschaft gegen das doofe Geplapper, was wir bis dahin gewohnt waren … Aber es ging mir nicht weit genug, ich wollte das nicht.
Und dass die uns bei Honeckers Ablösung im Oktober wieder Leute untergejubelt haben, die die DDR schon zugrunde gerichtet hatten, da hast du recht, das hat mich auch mächtig aufgeregt. – Ich wollte dich mit einem Artikel konfrontieren, in dem über ei...