Diverse Seidenstraßen und einzelne Abschnitte
Die arktische Seidenstraße
Die Klimaforscher erwarten, dass die Arktis in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei ist und damit auch von normalen Schiffen befahren werden kann. Abgesehen von den ökologischen Folgen bedeutete dies, dass dort auch Fracht- und Containerschiffe von Europa nach Asien verkehren werden, was Zeit und damit Geld sparte. Von Hamburg nach Dalian oder Tianjin über den Suez-Kanal sind es etwa 21000 Kilometer, über die Nordostpassage nur noch rund 13000 Kilometer, was die Reisezeit um ein Drittel verkürzte.
Neben russischen und kanadischen Schifffahrtsunternehmen nutzt Chinas staatliche Reederei COSCO bereits seit 2015 während der Sommerperiode die Nordostpassage.
Acht Staaten haben mit ihrem Festland, ihren Inseln und Küstengewässern Anteil an der Arktis – Russland, die USA, Kanada, Island, Norwegen, Schweden und Finnland sowie Dänemark mit der Insel Grönland sind Anrainer und erheben Ansprüche. China ist seit 2013 Beobachter im Arktischen Rat, obwohl es kein Arktisanrainer ist, aber langfristig einen Beitrag zur Erforschung der arktischen Natur und des Umweltschutzes leisten will. Auch, um künftig nachhaltige Schifffahrt betreiben zu können. China unterhält auf Spitzbergen ein Forschungsinstitut und betreibt ein Forschungsschiff in der Region.
Russland und die anderen Anrainerstaaten beabsichtigen, die arktischen Erdgas- und Erdölvorkommen auszubeuten, und bauen Hafenstützpunkte in der Arktis aus. In Archangelsk, am westlichen Nadelöhr der russischen Arktispassage, plant man einen neuen Tiefseehafen, in dem jährlich bis zu 30 Millionen Tonnen umgeschlagen werden können. Seit 2017 ist ein chinesisches Bauunternehmen mit russischen Partnern im Gespräch.
Eine arktische Seidenstraße könnte bereits in den nächsten Jahren gemeinsam mit Russland und anderen Anrainerstaaten aufgebaut werden. Noch ist die Nordostpassage durch die Arktis kein elementarer Bestandteil der BRI, wird aber in naher Zukunft eine Rolle spielen.
Russland
Russland und die Mongolei haben lange, allerdings widersprüchliche Beziehungen zu China unterhalten. Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Bezug auf den Handel, die Transportverbindungen, nicht zuletzt auch mit der Philosophie der Neuen Seidenstraße, geändert.
Schon während der Anfänge der chinesischen Transporte nach Europa über die Mongolei oder den sibirischen Grenzübergang in Manchouli ergaben sich Synergieeffekte. Der kleine Grenzhandel, der Tourismus und erste gemeinsame Unternehmen in den Grenzstädten entwickelten sich.
In den Jahren zwischen 1990 und 2000 passierte ich regelmäßig die Grenze. Gemeinsam mit russischen, mongolischen, chinesischen, aber auch mit kasachischen und kirgisischen Händlern reiste ich in Personenzügen, die vollgestopft waren mit Handelsgütern. Die Grenz- und Zollabfertigungen waren in der Regel von gegenseitigem Verständnis bestimmt. Alle profitierten schließlich vom reibungslosen Handel.
Mitte der neunziger Jahre entstanden gemeinsame Märkte in den Grenzstädten, so dass die Händler, meist Frauen, nicht mehr in die Inlandsstädte Chinas reisen mussten.
Auf chinesischer Seite wurde begonnen, an der russischen Grenze Umschlagseinrichtungen für diverse Güter aufzubauen, Bahnhöfe wurden auf beiden Seiten für größere Transportmengen erweitert.
Mit den Büros der russischen Eisenbahnen in Chita, einem Eisenbahnknotenpunkt in Sibirien, und denen der chinesischen Eisenbahn in Harbin handelte ich in jedem Jahr die Grenzabwicklung der Container unseres Logistikunternehmens aus. Es mussten Probleme wieder und wieder diskutiert und gelöst werden. Obwohl alle Beteiligten, insbesondere die Vertreter der Bahnen, an grenzübergreifenden Regelungen interessiert waren, kamen keine dauerhaften Lösungen zustande.
Es bedurfte eines starken koordinierenden Partners, der die Fäden zusammenhielt und auch Entscheidungen forcierte. Dieser Akteur wurde nach dem Einläuten der Neuen Seidenstraße 2013 kreiert. Ein Joint Venture zwischen chinesischen und russischen Partnern führte zur Bildung eines Unternehmens, das die Abwicklung der Transporte von und nach China im Transit durch Russland organisierte.
Russland begrüßte die Belt and Road Initiative vom Beginn an. Der Eisenbahnverkehr zwischen China und Russland vervielfachte sich. Inzwischen passieren an den Übergängen zwischen China und Kasachstan mit Anschluss nach Russland mehr Waren die Grenze als an den Übergängen China-Russland direkt oder China-Mongolei-Russland. Gegenwärtig treffen wöchentlich mehr als 100 Züge mit Containern in Westeuropa ein, meist enden sie im Hafen von Duisburg, dem Endpunkt der Neuen Seidenstraße in Deutschland. Von dort erfolgt die europaweite Verteilung.
Russlands Schienennetz ächzt unter dem stetig wachsenden Frachtaufkommen. In den ersten neun Monaten 2021 beförderte die staatliche russische Eisenbahn rund 4,8 Millionen Container. Dies war ein Anstieg um 13,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das wurde möglich, weil die kasachischen und die russischen Eisenbahnen die Strecken modernisiert hatten, die Signaltechnik und der kommerzielle Austausch waren digitalisiert worden.
Der Eisenbahnknotenpunkt in Omsk nimmt unverändert eine zentrale Position ein. In der Millionenstadt am Zusammenfluss von Irtysch und Om werden die Züge aus China, die über Sibirien, die Mongolei oder Kasachstan eintreffen, neu zusammengestellt und an ihre Bestimmungsorte weitergeleitet.
Aber der Güterverkehr ist bei aller Bedeutung nicht das wichtigste Motiv für Russland oder für die Mongolei, sich an der BRI aktiv zu beteiligen.
Russland und China haben eine tausende Kilometer lange gemeinsame Grenze, beide Nachbarn wünschen sich ein friedliches Nebeneinander. Was beide Präsidenten beim Auftakt der Olympischen Winterspiele in Peking bekräftigten. Die Tagesschau meldete am 4. Februar 2022: »Bei einem Treffen mit Chinas Staatspräsident Xi Jinping hob Putin hervor, dass sich die Beziehungen der beiden Länder ›im Geiste der Freundschaft und der strategischen Partnerschaft‹ entwickelten.«
Nach den 1978 eingeleiteten Reformen war die Volksrepublik China zu einer Industrienation aufgestiegen, ihre Volkswirtschaft war Jahrzehnte später nächst den USA die größte der Welt, während die russische Wirtschaft nach dem Untergang der Sowjetunion dramatisch geschrumpft war. Der Reichtum Russlands an Rohstoffen wie Öl und Gas verhinderte den Absturz in die Bedeutungslosigkeit. China wiederum hatte großen Bedarf an Rohstoffen und am Absatz seiner Fertigwaren. Das waren ideale Voraussetzungen für Win-Win-Kooperationen.
2001 hat der russische Präsident vor dem deutschen Parlament die Offerte für eine enge Zusammenarbeit, eine friedliche Kooperation zwischen den Ländern der EU und Russland unterbreitet. Diese wurde im Westen nicht aufgegriffen – die USA hielten an ihrer Strategie fest zu verhindern, dass sich westliches Knowhow mit den östlichen Ressourcen verbündete. Mit einem eurasischen Wirtschaftsblock würde ein mächtiger Konkurrent entstehen, was es zu verhindern galt. In diesem Sinne handelten die USA auf allen Ebenen und Bereichen, um die Spaltung Europas aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Dazu dienen die absprachewidrige Osterweiterung der NATO zur Einkreisung Russlands, die politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, der Ausschluss aus der internationalen Zusammenarbeit und die permanente Propaganda gegen Moskau. Das größte Land der Welt, Russland, höhnte US-Präsident Obama im Frühjahr 2014, sei eine »Regionalmacht«. Sie sei keineswegs mehr »geopolitischer Feind Nummer eins« und stelle keine Bedrohung für die Sicherheit der USA dar. Er mache sich mehr Sorgen darüber, dass in Manhattan eine Atombombe hochginge, erklärte er auf einem Sicherheitsgipfel der NATO in Den Haag. Das war eine bewusste Demütigung der einstigen Großmacht, nicht die erste. Sie sollte langfristige Folgen haben.
Russland und China näherten sich seit den neunziger Jahren sukzessive an. 1994 vereinbarten sie eine »konstruktive«, zwei Jahre später eine »strategische Partnerschaft«. 2001 schlossen sie einen Freundschaftsvertrag über zwanzig Jahre. Dieser Freundschaftsvertrag bot die Basis für eine enge wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle (und auch militärische) Zusammenarbeit. Er diente der Stabilisierung Zentralasiens und dem Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und religiösen Fanatismus in dieser Region. Der Handel hingegen entwickelte sich nur zaghaft. Erst mit der Belt and Road Initiative 2013 erfuhr er eine sprunghafte Entwicklung, die Projekte an der Neue Seidenstraße führten auch zu einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen.
Kern der wirtschaftlichen Kooperation wurden Öl-Exporte von Russland nach China mittels Pipeline. 2013 zeichneten beide Länder einen Vertrag über Lieferungen von Öl und Gas im Umfange von 270 Milliarden Dollar in einem Zeitraum von 25 Jahren. Die Lieferungen aus Russland liegen in der strategischen Linie der BRI: Sicherung der Energiebasis für den wirtschaftlichen Aufbau Chinas und alternativ zu den Seetransporten.
Die erste Phase der Fertigstellung einer etwa 3000 Kilometer langen Gas-Pipeline (Power of Siberia Gas Pipeline) von Russland nach Nordost-China begann im Dezember 2019. Die Rohrleitung wird nach der geplanten Indienststellung im Jahr 2025 etwa 38 Milliarden Kubikmeter jährlich befördern. (Im Vergleich dazu: Nord Stream 1 und 2 kämen bei voller Auslastung auf eine Jahreskapazität von 110 Millionen Kubikmeter Gas.)
China liefert im Gegenzug Konsum- und Industriegüter nach Russland. Direktinvestitionen erfolgten bisher lediglich in der Automobil- und in der verarbeitenden Industrie.
Die russischen Erwartungen beim Eintritt in die Belt and Road Initiative konzentrierten sich auf die Erneuerung und Erweiterung der Transport- und Logistikinfrastruktur, auf Direktinvestitionen zur Bildung von Hightech-Unternehmen und zur wirtschaftlichen Entwicklung des russischen Fernen Osten.
Nachdem China sich zunächst auf die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien orientiert hatte, konzentriert sich die Volksrepublik seit 2013/14 stärker auf die Integration in die Eurasische Wirtschaftsunion. Vorbehalte Moskaus, dass China den russischen Einfluss auf die zentralasiatischen Länder zurückdrängen wolle, wurden dadurch widerlegt.
2021 war China Russlands größter Handelspartner und Russland für China einer der wichtigsten Wirtschaftspartner. Der Handelsumsatz stieg inzwischen auf 108 Milliarden Dollar. Betrug der Anteil Chinas am russischen Export 2000 lediglich fünf Prozent, so stieg er bis 2018 auf 12,5 Prozent. Der Import chinesischer Waren durch Russland wuchs in dieser Zeit von 2,8 auf 22 Prozent.
Russlands Anteil an Chinas Ex- und Import stagniert dennoch seit Jahren bei etwa zwei Prozent. Durch den einseitig auf Energieträger orientierten russischen Außenhandel (75 bis 80 Prozent des gesamten Exports) wird die Intention der Belt and Road Initiative (wirtschaftliche Entwicklung der Partner) nur bedingt erfüllt, sofern beispielsweise keine neuen Betriebe der verarbeitenden Industrie entstehen. Insbesondere in den fernöstlichen Regionen Russlands geschah diesbezüglich wenig bis nichts.
Im Kontext der Neuen Seidenstraße wurde in Russland ein Ministerium für die Entwicklung des Fernen Ostens ins Leben gerufen, das dieses Defizit beheben so...