Teil I
Warum touristisches Marketing allein kein Wachstum garantiert
Zehn Grundrezepte für erfolgreiches Markenmanagement
Als ich Chef der Marketingorganisation Südtirol war, wurde ich fast täglich mit diesen Fragen konfrontiert: Warum genügt es nicht, gutes Marketing zu betreiben? Warum reicht es nicht, in Kommunikation und Vertrieb exzellente Leistungen zu erbringen? Wann brauchen auch Destinationen die Marke als Managementdisziplin?
Die Fragen kamen zum einen in mir selbst auf, aber sie wurden auch von Hoteliers und Privatzimmervermietern, von Verantwortungsträgern aus Politik und Touristik gestellt. Gaststättenbetreiber bemerkten, dass sich ihre Tische immer schwieriger füllen ließen und dass sie einfallsreicher sein müssen, als jeden Tag unzählige Stunden hinter dem Tresen zu stehen. Hoteliers mussten erfahren, dass ihre Stammgäste die steigenden Preise nicht mehr akzeptieren wollten und die teure Wellnessanlage sich kaum auf höhere Preise umlegen ließ. In vielen Tourismusversammlungen wurde – zu Recht – über die ständig wachsenden gesetzlichen Auflagen diskutiert und über die unberechenbar gewordenen Gäste. Dies alles geschah schon vor über 15 Jahren. Es waren erste deutliche Anzeichen großer Veränderungen.
Der Grund für die Unruhe der Branche liegt tiefer. Es reicht nicht, nur die sichtbaren Wirkungen zu analysieren. Was nicht nur den Tourismus, sondern alle Branchen zu Veränderungen zwingt, ist die Tatsache gesättigter Märkte. Denn das, was bisher an Wirtschaftswachstum und Geschäftsmodellen erreicht wurde, fußte auf weitgehend ungesättigten Märkten. Dort gibt es wenig Wettbewerb und wenig Marktsättigung – und davon war Europa in den Nachkriegsjahren über Jahrzehnte geprägt. In dieser Zeit genügte es, in den Marketingdisziplinen Vertrieb, Kommunikation und Produktentwicklung exzellente Leistungen zu erbringen. Wenn sich jedoch eine hohe Wettbewerbsintensität und Marktsättigung einstellen, versagen diese Instrumente zusehends.
Die folgenden zehn Kapitel stellen deshalb die Disziplin Markenmanagement in den Mittelpunkt, weil dieses als Führungs- und Denkmodell für Destinationen zukunftsentscheidend sein kann. Die Kapitel beschreiben die wichtigsten Erfolgsfaktoren und beleuchten, warum Bekanntheit und Preis allein nicht mehr genügen und warum stattdessen Bedeutung und Wert einer Destination in den Mittelpunkt gerückt werden sollten.
Die Disziplin Markenmanagement:
Es ist nur ein paar Jahre her, als noch viele Manager meinten, eine Marke sei nichts anderes als Logo und Erscheinungsbild. In der Destinationsbranche war dies öfter als in anderen zu beobachten. Man ordnete die Marke im Marketing ein und in der Kommunikationsabteilung. Inzwischen hat sich die Erkenntnis geändert: Heute wissen die Destinationsmanager um die strategische Dimension der Marke. Heute ist markenkonformes Handeln Chefsache und gehört als Thema in den Strategiebereich. In der nächsten Stufe der Entwicklung wird die Marke dann zum System der Unternehmensführung.
Kapitel 1
„Es ist wunderbar hier. Bis auf die Mücken.“ Destinationen sind eine Gesamterfahrung
In einem Punkt unterscheiden sich Destinationen deutlich von Unternehmen: Sie haben bei Weitem nicht alles in der Hand, was für den Kunden wichtig ist. Zu viel Unplanbares, zu viele Beteiligte, zu viele Puzzleteile beeinflussen den Gesamteindruck, den eine Destination als Ganzes bei den Besuchern hinterlässt. Sein Management muss für diese Unplanbarkeiten ein Gespür entwickeln, damit es während des Markenaufbaus an den richtigen Stellschrauben dreht.
„Es ist wunderbar hier. Bis auf die Mücken“, liest die Familie in der SMS der Tochter, die sich mit ihrem Gatten auf Hochzeitsreise befindet. Es ist nur ein Detail, aber es schwingt sich zum bestimmenden Faktor auf. Mücken auf der Hochzeitsreise? Wie furchtbar! „Dabei hatten sich die beiden so auf diese Reise gefreut“, sorgt sich Mama und recherchiert auf der Website des Clubs, der nach langem Hin und Her für diesen besonderen Lebensmoment ausgesucht worden war. „Von Mücken ist da keine Rede“, stellt sie fest. Resümee des Familienrats: „Man kann sich auf nichts mehr verlassen.“
Die Episode macht deutlich, wie sehr Wunsch und Wirklichkeit manchmal auseinanderliegen und wie übertriebene Erwartungen zu Enttäuschungen führen. Im Urlaubsgeschäft gehört dies zu den Hauptrisiken. Denn Destinationen, Städte, Urlaubsregionen und thematische Routen bilden eine Gesamterfahrung – und zu dieser gehören eben auch lästige Mücken, selbst an den schönsten Orten der Welt. Niemand kann sie beeinflussen oder steuern, niemand ist daran schuld. Und trotzdem prägen ausgerechnet diese die unmittelbare Erfahrung eines Hochzeitspaares auf einer zentralafrikanischen Insel.
Wären es nur die Mücken, man könnte es verkraften. Aber weil es in einer jeden Destination Unmengen an Faktoren gibt, für die keiner zentral verantwortlich ist und die dennoch die Erfahrung der Kunden entscheidend prägen, müssen wir uns diesem Thema stellen.
Beginnen wir damit, dass Destinationen (und ich verwende diesen Begriff von nun an als Sammelbegriff für Länder, Städte, Regionen, Gebiete und Orte) es grundsätzlich unterschätzen, für welche detaillierte Gesamterfahrung sie zuständig sind. Der Glaube, erstklassige Hotels und Restaurants sowie eine große Veranstaltungsvielfalt wären für die Kunden als „touristisches Angebot“ erkennbar, irrt. Spätestens seitdem sich die Besucher in Echtzeit zu ihren Urlaubserlebnissen und Gemütszuständen im Web für alle lesbar äußern, ist offensichtlich: Es geht meist um alltäglichere Dinge. Nimmt man Wetter und Mückenplagen einmal aus, füllen sich die Kommentarspalten und Handyfotos mit Beobachtungen eines Urlaubstages. Kunden bemerken, ob es einer Stadt mit Beschilderung und Straßenreinigung ernst ist. Sie äußern sich über den Zustand der Hausfassaden und zählen Leerstände in den Einkaufsstraßen.
Besucher nehmen gnadenlos wahr, was Realität ist
Die Besucher beschreiben, wie sich die lokale Bevölkerung ihnen gegenüber verhält und welches Willkommens- oder Misstrauensgefühl dabei entsteht. Sie bemerken, ob das Servierpersonal die landesübliche Sprache spricht oder nicht. Gäste nehmen wahr, was Bauern auf ihren Feldern tun. Gäste lesen die lokalen Medien und machen sich ein Bild über die Themen, die in ihrem Urlaubsdomizil eine Rolle spielen.
Fakt: Was ein „touristisches Angebot“ ist und was nicht, entscheidet einzig und allein sein Konsument. Ob seine Erfahrungen auf Dingen basieren, die zum „geplanten Angebot“ gehören, ist für ihn nicht relevant. Für einen touristischen Kunden gehört das Gesamtbild zum Angebot – unabhängig von Kategorie oder Absicht, ob für ihn geschaffen oder nicht. Er vermischt seine Eindrücke zu einem großen Ganzen, welches das finale Bild in der Erinnerung prägt. Gegen Fehleinschätzungen und für eine klare Erkenntnis, wie Besucher eine Destination erleben, hilft oft ein Blick in die Onlinebewertungsportale.
Alles an der Reise war anders als gedacht
Beispiele dazu gäbe es zuhauf. Wem ist es nicht schon passiert, dass er eine Destination völlig anders wahrgenommen hat, als er sie sich vorgestellt hatte? Hätte der Eiffelturm nicht größer und imposanter sein müssen? Und hätte der Schiefe Turm von Pisa nicht schiefer sein müssen? Hätte die einsame Insel auf den Bahamas nicht einsamer sein sollen? Hätte man den besonderen Geruch Venedigs vorausahnen können oder die Lautstärke der überfüllten Motorbusse (die „Vaporetti“), nachdem man nur Gondeln und Palazzi erwartete? Hätte das Wasser am Roten Meer nicht klarer sein sollen und die Fische bunter?
Wer hätte gedacht, dass deutsche Naturlandschaften jenen in Frankreich um nichts nachstehen? Wer hätte Bergstraßen auf Mallorca vermutet und klirrende Kälte im zentralen Afrika? Wer hätte gedacht, dass man über das Unvermutete die wirklich interessanten Geschichten einer Reise erzählen kann.
Niemand kann sich all diese Kontaktpunkte, die auf einer Reise die Erfahrung prägen, merken. Das Destinationsmanagement hingegen muss sehr wohl eine hohe Aufmerksamkeit für diese Tatsache entwickeln.
Dazu sind Grundkenntnisse zum Thema „Marke als Managementsystem“ nützlich. Seitdem Hans Domizlaff, der Begründer der Markentechnik, in seinem Buch „Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens“1 die Marke als „Monopolstellung in der Psyche eines Verbrauchers“ beschrieb, weiß man um die Komplexität des Themas. Es ist nie das Ding allein, das als Marke wahrgenommen wird. Es ist immer ein Konglomerat aus verschiedenen Elementen, welche diese Wahrnehmung entstehen lassen. Was sich in psychologischen Prozessen zu einem Ganzen zusammenfügen muss, um zu einem Monopol zu werden, bedient alle Sinne und alle Verknüpfungen.
Nehmen wir zum Beispiel eine wertvolle Flasche Wein. Man könnte mit Fug und Recht sagen: Lass uns den Inhalt bewerten und bezahlen. Und jeder, selbst der Kenner und Sammler weiß, wie anders solche Prozesse ablaufen. Flasche, Etikett, die sich darum rankenden Geschichten, die Verortung in einem Land oder einer Region, Sorte und Verschnitt: Dies alles ist dann der „Wein“. In welches Glas ausgeschenkt wird und zu welchem Anlass, in welcher Gruppe und Gesellschaft dieser Wein getrunken wird oder auch nur verkostet, und was vor diesem Moment das Leben bestimmt hat und was danach: Das alles ist dann der „Wein“. An diesem Beispiel wird deutlich, dass selbst bei einem Produkt, das sich als Marke etablieren will, nicht alles vom Produzenten gemanagt werden kann. Einiges ja – und darauf den Fokus zu legen, zahlt sich immer aus. Einiges nein – und daran zu verzweifeln wäre unangemessen. Und trotzdem lohnt es sich zu wissen, welche beeinflussbaren und unbeeinflussbaren Faktoren das Markenerlebnis prägen können. Wer dafür ein Bewusstsein entwickelt, ist anderen um Längen voraus und vor der Fehleinschätzung geschützt, es gehe nur um die eine isolierte Spitzenleistung des Produktes an und für sich.
Destinationserfahrungen haben ein einheitliches Muster
Die Manager von Destinationsmarken brauchen ein gutes Bewusstsein dafür, was ihre Marke ausmacht. So wie bei der Flasche Wein ist deren Wahrnehmung mehr als heterogen. Allein die Tatsache, dass unterschiedlichste Menschen aus verschiedenen Kulturen mit unzähligen Erwartungshaltungen eine Destination besuchen, macht es alles andere als einfach, für ein konsistentes Markenerlebnis zu sorgen.
In einem Supermarkt ist es noch möglich, Kundenbewegungen und Verhaltensweisen zu beobachten und zu messen – doch für Destinationen sind diese Möglichkeiten beschränkt. Es gibt einfach zu viele unterschiedliche Programme, als dass man diese in ein Muster pressen könnte. Auch die vielen (zu vielen) Studien, die Zufriedenheit und Bedürfnislagen der Gäste beleuchten, helfen wenig, wenn man dem Geheimnis näherkommen will: Was ist die ultimative Kundenerfahrung in einer Destination? Welche Bilder werden sich in den Köpfen der Besucher – als Monopol – festsetzen? Das ist schwer zu ergründen, Grundmuster gibt es trotzdem. Und genau diese bilden das Fundament, um eine Destination mit konsistenter Markenarbeit und Produktentwicklung in den Markenhimmel aufsteigen zu lassen.
1. Konzentration auf ein Thema – das zahlt sich aus.
In weit größerem Ausmaß, als es bei Produkten der Fall ist, spielt in Destinationen das Umfeld eine entscheidende Rolle. Das Vier-Sterne-Hotel – sofern es sich nicht als Ressort mit allumfassendem Service aufgestellt hat – endet für den Kunden nicht am Hotelausgang. Wenn sich nach dem Verlassen des Hotels in der Stadt oder in der Umgebung nicht ebenfalls eine Vier-Sterne-Qualität abbildet, wird der Kunde das eine vom anderen schwer trennen können. Sein Erlebnis wird nicht konsistent sein und sich damit durchschnittlich abbilden. Als ich unlängst aus einem Designhotel in Ljubljana buchstäblich in die Gosse dieser Stadt trat, in eine unaufgeräumte, müllbefleckte Straße und von betrunkenen Menschen umringt, war meine Erinnerung grausam davon belastet. Ohne Zweifel färben solche Erlebnisse auf die Spitzenleistung des Hotels ab. Der Kopf sagt uns natürlich, dass das Hotel für die Geschehnisse des öffentlichen Raums nichts kann – das Gefühl entscheidet aber anders.
Ähnliches kann man von Reisen berichten, die durch viele Ortswechsel geprägt sind. Wer sich nach einer Rundreise nur an Vielfalt und Unterschiedlichkeit erinnert, aber an nichts Verbindendes oder Homogenes, ist weit von jenem Status entfernt, den Hans Domizlaff das zu erreichende „Monopol in der Psyche des Verbrauchers“ genannt hat.
Fakt: „Die Gleichförmigkeit in Verpackung oder Aufmachung bedeutet eine augenscheinliche Sicherheit bezüglich der unbedingt verlangten Gleichförmigkeit der Warenbeschaffenheit.“ Grundgesetz Nr. 8, Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Lehrbuch der Markentechnik, 1939 von Hans Domizlaff
Es kommt also auf das Umfeld an. Aus diesem Grund kann Tourismuspolitik in Destinationen, die einen Markenanspruch haben, niemals als Aufgabe gesehen werden, die von allen anderen Gestaltungs- und Verantwortungsfeldern isoliert wäre. Die wenigsten Tourismusländer und -regionen sind sich dessen bewusst. Allzu gerne delegiert man die politische Verantwortung ins „Veranstaltungsmanagement“ oder in die „Förderung“, anstatt sich die so entscheidende Gesamtgestaltung vor Augen zu führen. So schadet es dem kulturbegnadeten Tourismusland Italien unermesslich, wenn es ihm nicht gelingt, die kulturhistorischen Stätten von Müll freizuhalten. Damit zum Beispiel nicht der vom Wind zusammengetragene Plastikmüll das Sichtfeld der Tourismushorden in den Ausgrabungsstätten Roms bestimmt. Auch wenn die U-Bahn in München nicht den höchsten technischen Erwartungen entspricht, leidet der Markenstatus Deutschlands, in der Technik Weltmarktführer zu sein.
Markenarbeit für Destinationen beginnt immer mit dem Wissen, dass es dem Besucher egal ist, was von wem und was durch wen verantwortet wird. Strukturen sind unerheblich, Kompetenzen auch. Für die Kundenerfahrung zählt das große Ganze. Glücksspiel in Las Vegas, Liebe in Paris, Karneval in Rio, Tauchen auf den Malediven, Windsurfen auf Fuerteventura, Mittelalter in Rothenburg ob der Tauber, Ayurveda in Sri Lanka, Mozart in Salzburg, Gaudístadt Barcelona, Kulturstadt Weimar: An solchen Beispielen wird sichtbar, welcher Mehrwert geschaffen wird, wenn sich Destinationen eine thematische Spitze zutrauen. Wenn diese nicht in Vielfalt zerfällt, sondern eine kulturelle Konzentration anbietet, kann sich eine Destination in Domizlaffs Monopol der Psyche vorarbeiten.
2. Die Kraft der Vorurteile: Wehren Sie sich nicht gegen Klischees
„Das negative Vorurteil ist mit dem positiven eins. Sie sind zwei Seiten einer Sache“2, schreibt Max Horkheimer in seinem Aufsatz „Über das Vorurteil“. Im täglichen Gebrauch werden Vorurteile meist mit ihrer negativen Seite eingesetzt und sind damit als abwertend klassifiziert. Allerdings wäre ein Leben ohne Vorurteile kaum möglich: Man schützt sich davor, überfahren zu werden, weil man vermutet, dass nicht jedes Automobil anhält. Oder man isst seinen Risotto beim Italiener mit Genuss, weil man nicht vermutet, er wäre vergiftet.
Im positi...