1
Das Fenster ist einen Spaltbreit geöffnet.
Draussen scheint die Sonne. Ein paar Wolken am Himmel, ohne die Sicht auf die schneebedeckten Berggipfel zu verhüllen.
Der Wind weht vom Gletscher her um das alte Hotel Palace, dessen Fassade dringend renoviert werden müsste.
Der Wind flaut ab, lässt das Murmeln eines Baches hören, nimmt erneut einen Anlauf, wirbelt herum, flaut wieder ab.
Robert liegt mit Kleidern und alten Bergschuhen auf dem schmalen Bett in seiner Dachkammer im Hotel Palace.
Der alte Mann hat die Federdecke mit dem rotweiss karierten Bezug gegen die Wand geschoben.
Unter ihm eine Wolldecke und zwei Leintücher. Der Kopf ruht auf einem ebenfalls rotweiss karierten Kissen, dessen Farbe aber ziemlich verblasst ist.
Robert hat die Augen geschlossen.
Er trägt eine grobe, braune Hose, ein verwaschenes Hemd und einen Pullover.
Ein Lächeln huscht um die Mundwinkel des alten Mannes.
Er öffnet die Augen, schliesst sie wieder.
An der Wand oberhalb des Kopfes ein Brett, worauf ein grosses, altes Radiogerät steht.
Neben dem Bett ein Nachttisch mit einer Tabakspfeife und einer Stehlampe, die Glühbirne ohne Schirm. Ein Kabel schlängelt sich recht abenteuerlich zu einer Steckdose.
An der Wand gegenüber eine Kommode mit drei Schubladen.
Auf der Kommode eine Waschschüssel, ein Krug, eine Schale mit einer Kernseife, ein kleiner Spiegel und ein Wasserkocher.
Oberhalb der Kommode hängt an einem Nagel ein Kalender mit dem farbigen Bild eines Luxusdampfers.
Robert fährt mit der rechten Hand durch die Luft. Als möchte er etwas verscheuchen.
Mitten in der Kammer steht ein verdorrtes Weihnachtsbäumchen in einem Holzkreuz. Tannennadeln liegen verstreut auf dem Holzboden und selbst auf dem Bettvorleger. Dieser ist ziemlich abgewetzt, das farbige Muster darin ist kaum noch zu erkennen.
An der Tür ist auf Augenhöhe mit Reisszwecken die Hausordnung für das Dienstpersonal befestigt.
In einer Zimmerecke lehnt ein Besen an der Wand, in der andern Ecke eine Sense.
Und wieder huscht ein Lächeln um die Mundwinkel des alten Mannes.
Neben dem Fenster steht auf einem Schemel eine grüne Topfpflanze.
Die Sonne scheint schräg durch die Scheiben, bringt unzählige Staubkörner im warmen Licht glitzernd zum Tanzen.
An der Decke ein schwarzer Punkt.
Plötzlich bewegt er sich. Scheint sich zu bewegen. Es ist eine kleine, schwarze Spinne.
Es ist still in der Kammer.
Ein Knarren. Von irgendwo im alten Gebäude.
Hat es nicht geklingelt?
2
Hat es geklingelt?
Jeden Augenblick kann es klingeln.
Ja.
Robert setzt sich auf.
Trage immer die Schuhe an den Füssen.
Immer. Ich …
Weisst du …
Hat es nicht geklingelt?
Das Gehör lässt nach.
Natürlich, in der Nacht ziehe ich sie aus.
Kein Mensch geht mit den Schuhen ins Bett.
In der Nacht ziehe ich sie aus.
Die Kleider auch.
Hab mich ja nur kurz hingelegt.
Die Kleider sind sauber. Und an den Schuhen überhaupt keinen Dreck.
Berühre die Decke ja kaum.
Bin zu alt um zu leugnen.
Nicht aus Angst. Ach wo.
Lohnt sich nicht mehr.
Lohnt sich einfach nicht mehr.
Der alte Mann hält die rechte Hand an den Rücken, massiert ihn der Wirbelsäule entlang.
Um die Wolldecke ist es eh nicht schade. Verglichen mit der bin ich noch im zarten Jünglingsalter.
«Holder Knabe mit lockigem …»
Robert lacht meckernd.
Er steht auf, geht zum verdorrten Weihnachtsbäumchen, starrt vor sich hin, schüttelt den Kopf.
Er zieht das Weihnachtsbäumchen aus dem Holzkreuz, wirft es auf den Boden.
Hab mich nur kurz hingelegt. Jeden Augenblick kann es klingeln.
Jaja, das sind noch Bergschuhe. Von anno Tobak. Die sind nicht umzubringen. Mais oui.
Die Angestellten haben wie folgt anzutreten … haben wie folgt anzutreten …
Der Portier d’étage, der Hausbursche, der Liftier, die Saaltöchter, die Zimmermädchen, die Officemädchen …
Die Zimmermädchen, die Officemädchen …
Vom ersten März bis dreissigsten September morgens um sechs Uhr, vom ersten Oktober bis achtundzwanzigsten Februar morgens um halb sieben Uhr.
Robert zieht einen kleinen Kamm aus der Gesässtasche, kämmt sich, steckt ihn zurück in die Gesässtasche.
Er ist früher als Seifensieder und Kerzenzieher durch die Welt gezogen, unser Herr Direktor Linder, notre directeur.
Schöne Frauen einzuseifen, frommen Frauen eine Kerze anzuzünden.
Die sind nicht umzubringen.
Robert nimmt den Besen aus der Ecke, fegt den Boden.
Er hält inne, stützt sich auf den Besen.
Neunundvierzig Jahre lang hab ich Ledis, Tschentelmäns und manchmal einen König …
Moudi?!
Die Herrschaften kommen nicht mehr, aber ich bin immer noch da.
Pst!
Moudi! Moudi!
Ich hab ihm einen Sp...