1Was ist das eigentlich: »systemisch«?
Was ist denn nun genauer als systemisch zu bezeichnen? Dieses Buch unternimmt hierzu als Ganzes eine Annäherung. Wer sich dabei eine einfache und am Ende sogar allgemein verbindliche Antwort erhofft, den muss ich schon jetzt enttäuschen. Denn, wie bereits in der Einführung angeklungen: Die Vielzahl an systemisch orientierten Denkweisen macht eine derartige Antwort zu einem tendenziellen Ding der Unmöglichkeit. Aber mehr noch, es wird sich zeigen, dass das Denken über das Systemische selbst mit ein paar besonderen Tücken daherkommt. Was ich in diesem Zusammenhang dennoch gerne anbiete, ist meine ganz persönliche Antwort.
Der Einfachheit halber beginne ich mit dem, was noch so einigermaßen einfach ist, nämlich woher Begriff des Systemischen stammt und was er sprachlich bedeutet.
Zur Begriffsklärung: Aller Anfang ist leicht …
Was also ist »systemisch«? Der Begriff des Systems stammt aus dem Altgriechischen. Es wird daher kaum verwundern, wenn bei den Griechen bereits erste Formen systemischen Denkens fassbar werden. Doch eins nach dem anderen …
Ein System ist zunächst einmal, so eine übliche und allgemeine Definition, ein aus mehreren Dingen zusammengesetztes Ganzes. Das griechische Wort hierfür lautet sýstema (τὸ σύστημα)1. In diesem Sinne könnten wir bereits einen Stuhl als ein »System« ansehen. Schließlich besteht er für gewöhnlich aus mehreren Teilen. So einfach können also Systeme sein. Damit kommen wir nun zwar noch nicht sehr viel weiter, wenn es um systemisches Denken geht, doch ein erster Anfang ist gemacht. Irgendetwas darf als »zusammengesetzt« angenommen werden.
Der berühmte Kybernetiker Heinz von Foerster betont in diesem Zusammenhang die Wortwurzel »syn« im Systembegriff. »syn« steht nach seinen Worten für »Zusammenstellen«. Ebendieses »syn« steckt zudem in der »Symphonie« (»Sinfonie«) und in der »Synthese«. Von Foerster grenzt diese »syn«-Idee« insbesondere von der »Science«, dem Begriff für Wissenschaft der englischen, der französischen und der italienischen (scienza) Sprache ab. »sci« steht entgegen dem »syn« für Trennung, Unterscheidung und Separation. Unschwer zu erkennen darin ist das typisch wissenschaftliche Vorangehen. Die Silbe »sci« ist darüber hinaus enthalten in Begriffen wie »Schisma« und »Schizophrenie« sowie – wie von Foerster mit einem Augenzwinkern hinzufügt – in »Scheiße«2. Überall dort sprechen die Begriffe von einer Abtrennung von etwas. Von Foerster prägt in diesem Zusammenhang übrigens den Begriff der Systemik für das Systemische.
Der zweite zentrale Begriff im Rahmen dieses Buches ist der des Konstruktivismus. Er ist im Gegensatz zum Systembegriff aus dem Lateinischen abgeleitet: con steht für »zusammen mit«, struere für »bauen«. Also wird hier etwas zusammengebaut – so zum Beispiel ein Stuhl.
Mir selbst ist dieser Begriff erstmals im Bereich der Architektur begegnet, wo er im frühen 20. Jahrhundert eine Rolle spielte. Als Konstruktivismus wird unter anderem eine Stilrichtung in der Architektur der frühen Sowjetunion ab 1919 bezeichnet.3 Dieses ursprünglich architektonisch inspirierte Verständnis vom Konstruktivismus möchte ich auch im Rahmen dieses Buches nahebringen. Denn auf diese Weise lässt sich gleich mehreres veranschaulichen: So benötigt ein Haus ein geeignetes Fundament, damit man darauf bauen kann. Durch ein Fundament werden zugleich jedoch eine Reihe von Möglichkeiten ebenso wie einschränkender Bedingungen dafür geliefert, was für ein Haus überhaupt darauf gebaut werden kann. Das Fundament kann für das Haus zu groß oder zu klein sein. Darüber hinaus aber könnte das Haus auch so geplant sein, dass es gar nicht erst gebaut werden kann, vielleicht weil die passenden Baustoffe für irgendeine architektonische Idee fehlen. Zusammenfassend: Es gibt sowohl mögliche als auch nicht mögliche Konstruktionen. Das lässt sich in der Architektur noch deutlich leichter erkennen, als wenn es sich um unser Denken selbst handelt. Konstruktionen sind also nicht beliebig. Auf dem gleichen Fundament können jedoch die verschiedensten Bauten entstehen.
Damit zurück zu dem anfangs bereits benannten »systemischen« Stuhl: Er ist nicht schon immer dagewesen, sondern er wurde zusammengebaut, er wurde also in einer sehr handfesten Weise konstruiert. Was aber geschieht, wenn man ihn wieder auseinandernimmt oder, noch besser, ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung macht? Dann versucht man zu ergründen, was ihn überhaupt zum Stuhl macht und woraus er besteht. Vielleicht versuche ich dabei sogar, seine Essenz zu ergründen. Dann verbrenne ich ihn vermutlich und erachte dann ein Häufchen Asche und etwas Kohle als ebendiese. Nun denn, warum nicht?
Eine zentrale und im Verlauf des Buches weiter auszuführende wissenschaftliche Praxis besteht im sogenannten Reduktionismus. Da zerlege ich den Stuhl dann tatsächlich in seine Einzelteile. Doch wie ich das nun genau mache, bleibt die große Frage. Hacke ich ihn einfach klein, um ihn in seine kleinsten Teile, am Ende gar in seine Atome zu zergliedern, damit ich sie alle dann fein säuberlich zählen kann? Oder nehme ich ihn mehr oder weniger behutsam auseinander und reduziere ihn so auf seine groben Bestandteile? Bei einem Stuhl wird es mir danach vermutlich noch gelingen, ihn wieder ordentlich zusammenzusetzen, zu »rekonstruieren«. Nur sind die Untersuchungsgegenstände in der Wirklichkeit nur selten so einfach wie Stühle. Mit anderen Worten: Die Reduktionisten wissen irgendwann recht gut, woraus etwas besteht, aber wozu das wirklich gut ist – davon haben sie damit noch lange keine Ahnung.
Somit: Wir können unsere Wirklichkeit auf durchaus verschiedene Arten und Weisen zu erfahren versuchen. Wir können uns ihr konstruktivistisch, reduktionistisch oder auch existenzialistisch nähern und dergleichen mehr. Wir können reduktionistisch irren, aber auch konstruktivistisch, denn obzwar wir vieles in je verschiedener Weise konstruieren können – Beliebigkeit anzunehmen kann dann doch zu unliebsamen Konsequenzen führen. Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen hat sich nur selten bewährt. Wenn wir nun insgesamt aber versuchen, eine Haltung einzunehmen, die mehrere Perspektiven mit einschließt und auch die Folgen von Handlungen zu berücksichtigen versucht, dann sind wir in einem Bereich, der als systemisch zu bezeichnen ist.
Aller Anfang ist leicht … oder etwa nicht?
Eine erste Brücke insbesondere zwischen dem systemischen Denken und dem Konstruktivismus könnte somit wie folgt geschlagen werden: Wir mögen uns zwar nicht immer sicher sein, wie Systeme genauer beschaffen sind, ob sie immer schon da waren, wie sie am besten zu beschreiben sind und dergleichen mehr. Alle unsere Aussagen über Systeme sind jedoch von genau den Beobachtungen und den Unterscheidungen abhängig, die wir gemacht und somit konstruiert haben. Es könnte auch anders sein (muss es aber nicht). Daher sind alle unsere Aussagen, die wir über Systeme machen, notwendigerweise Konstruktionen.
Des Weiteren wage ich die Vermutung, dass die wirklich interessanten Systeme die eher komplexeren sind; befürchte jedoch zugleich, dass gerade sie es sind, die am ehesten zu einfachen Beschreibungen verleiten. Ein kurzer Blick in die Tagespolitik mag genügen, dies zu illustrieren. Irgendein Staat tut etwas, das uns nicht gefällt, also ist er ein Schurkenstaat. Also darf er – so die zumindest zeitweilige Doktrin der USA – bombardiert werden. Gerade bei derartigen Simplizismen setzt systemisches Denken an, indem es vorhandene Komplexitäten zu begreifen versucht, ohne sich allzu viele theoretische Scheuklappen aufzusetzen.
Damit rückt eine weitere Frage in den Fokus: Denken wir denn tatsächlich auch systemisch? Nun, zumindest auf der neurobiologischen Ebene scheint hier alles klar. Neuronale Netze lassen sich nämlich kaum anders verstehen als eben systemisch. Aber wie verhält es sich mit unserem Bewusstsein? Und was macht es gegebenenfalls aus, wenn wir systemisch denken und so unsere Welt zu begreifen versuchen? Und was folgt aus der angenommenen Stärke systemischer Denkweisen, nämlich mehreres in einem zu denken? Ergänzen sich die verschiedenen entwickelten Perspektiven, oder erweist sich die Vielzahl an »systemischen« bzw. »systemtheoretischen« Ansätzen am Ende doch nur als unnötig kompliziert, als letztlich undurchschaubar oder gar als widersprüchlich? Fragen wie diese werden uns durch dieses Buch begleiten.
Ich versuche im Folgenden, eine Art kleiner Ahnengalerie des systemisch-konstruktivistischen Denkens vorzustellen. Dabei werde ich mir die Freiheit der Auswahl nehmen. Es werden jeweils bloße Aspekte aus deutlich größeren Gedankengebäuden genommen, und dies zuweilen sogar von Autorinnen und Autoren, die ansonsten nicht gerade als systemisch erachtet werden. Ich werde den referierten Personen und Ideen also nicht in dem Sinne »gerecht«, dass ich ihre jeweilige Gesamtaussage nachzuerzählen versuche oder aber ihrer typischen Interpretation nachfolge. Zudem werden so manche von ihnen, die andere als wichtig erachten mögen, bestenfalls gestreift, wenn nicht sogar ignoriert. Und da sich unser Denken immer wieder über das Treffen von Unterscheidungen vollzieht, werden zudem einige prominente gegenläufige intellektuelle Traditionen thematisiert – Autorinnen und Autoren, deren Gedanken in besonderer Weise quer zu dem stehen, was hier als systemisch verstanden wird.
2Ausflug in die Antike
Vorformen dessen, was wir heute als systemisch oder als konstruktivistisch bezeichnen, gibt es, seit wir Menschen über unser Dasein nachdenken. Und es gibt sie nicht nur in der kulturellen Wiege des europäischen Kulturkreises, im antiken Griechenland. Es gibt sie auch fernab, etwa in den asiatischen Kulturkreisen. Dieses Kapitel wird entsprechend unserer eigenen Geistesgeschichte zwar dennoch auf Griechenland fokussieren und dort eine Reihe von mehr oder weniger bekannten Denkern vorstellen: Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie natürlich Sokrates, Platon und Aristoteles. Aus dem außereuropäischen Kulturraum werde ich wenigstens auf zwei Denker näher eingehen, Siddhartha Gautama und Laozi.
Vom Erkennen (Xenophanes)
Es ist nicht viel, was wir von dem Denken der frühen antiken Philosophen wissen. Nur weniges wurde schriftlich festgehalten und hat die Zeiten überdauert. Etliche antike Texte sind verloren gegangen oder dringen allenfalls vermittelt durch andere zu uns, die ungleich später davon berichteten. Wir haben somit oftmals kaum mehr eine Chance, zu einer wirklich zuverlässigen Einschätzung einzelner antiker Denker vorzudringen. Wohl aber regt einiges zumindest zum Nachdenken an, und dies mag durchaus einen guten Einstieg darstellen.
Ein langes Leben ist offenbar nicht ausschließlich ein Ergebnis moderner Medizin. Der antike Philosoph Xenophanes soll steinalt geworden sein. Etwa 95 Jahre scheint er gelebt zu haben (ca. 570–475 v. Chr.). Geboren in Kolophon, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen, soll er aus seiner Heimatstadt vertrieben worden sein und hat danach an verschiedenen Orten gelebt.
Xenophanes eröffnet eine Weise des Denkens, die wir heute zumindest einer Vorform des Konstruktivismus zuordnen würden. Denn er äußert sich reichlich skeptisch in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen:
»Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat […]. Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.« 4
Schon so früh werden also schon Zweifel geäußert an der Sicherheit unserer Sinneswahrnehmungen bzw. an dem, was unsere Erfahrungswelt angeht. Vermutlich würde ein moderner Konstruktivist einen Satz wie diesen gerne unterschreiben. Mit dieser Skepsis, was »Klares« anbelangt, und der Betonung dessen, dass wir nur von Annahmen ausgehen können, dürfte offensichtlich sein, dass es so etwas wie Wahrheit für Xenophanes demnach gar nicht erst geben kann, zumindest nicht, was unsere Erfahrungswelt anbelangt. Wer weiß, vielleicht war er es sogar, der das jahrtausendealte philosophische Ringen um das kleine, feine Wörtchen »Wahrheit« mit diesen knappen Worten eingeleitet hat? Jedenfalls eröffnet er einen Diskurs, der bis heute nachhallt.
Nun mag man sich vielleicht zunächst noch damit trösten, so strikt habe er dies doch gar nicht gemeint. Doch sehr deutlich ist eine weitere, in ihrem Kern sogar noch weiter gehende Feststellung, die Xenophanes in diesem Zusammenhang bezüglich unseres Urteilsvermögens macht:
»Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er [der Mensch] sich dessen trotzdem nicht bewusst sein.«5
Wir können somit zwar das Richtige sagen, aber nie so weit kommen, dies beweisen zu können. Es bleibt immer nur Annahme. Damit erweist sich Xenophanes als konsequent in seiner Skepsis. Am Ende mögen wir recht haben, wir werden es aber niemals wirklich wissen können. Wir können gar nicht genau wissen, was wir wirklich wissen.
Es mag anhand dieser winzigen Textschnipsel (und sehr viel mehr wissen wir leider nicht von Xenophanes) zwar zu weitgehend zu sein, Xenophanes als einen oder gar als den frühesten Konstruktivisten anzuerkennen. Zudem könnte man natürlich sagen, die alten Griechen haben es nun einmal einfach nicht besser gewusst. Doch Xenophanes formuliert Annahmen, welche immer wieder aufgegriffen, neu formuliert und diskutiert werden: so etwa rund 100 Jahre später bei Sokrates oder über 2000 Jahre später bei Immanuel Kant – und schließlich bis heute.
Unsere Spurensuche nach systemischen Ideen beginnt somit gar nicht mit einer klassisch »systemischen« Einsicht, sondern mit einem Vorbehalt bezüglich unseres Erkenn...