1.1 Herausforderungen im modernen Projektmanagement
Die führende Studie der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) zur makroökonomischen Vermessung der Projekttätigkeit zeigt auf, dass der Anteil der Projekttätigkeit an der Gesamtarbeitszeit 2013/2014 deutschlandweit bei knapp 35 % lag. Und die Projektifizierung der Wirtschaft, d. h. die Zunahme von Projektarbeit in Unternehmen, wird anhalten.1 Zunehmend mehr Wertschöpfung findet also in Form von Projekten statt. Betrachten wir hierbei zwei generelle Trends des Wirtschaftslebens, die einen unmittelbaren Einfluss auf den Betrachtungsgegenstand – die Projektwirtschaft – haben, einmal etwas näher: Globalisierung und Digitalisierung.
Globalisierung in der Projektwirtschaft bedeutet verstärkte internationale Kooperation und damit Zusammenarbeit unter den Rahmenbedingungen verteilter Standorte und verschiedener (Arbeits-)Kulturen. Nicht zuletzt werden Projektteams instabiler, oder anders ausgedrückt: Mehr Mitarbeiter sind involviert, werden gegebenenfalls im Laufe eines Projekts ausgetauscht, kommen später zu einem (Groß-)Projekt hinzu etc. So wurden beispielsweise in einem mehrjährigen globalen SAP-Konsolidierungs- und Roll-out-Projekt eines Pharmakonzerns mehrfach die Projektauftragnehmer aufgrund von Vergabebestimmungen ausgetauscht und ebenso nahmen eigene Mitarbeiter im Laufe der Zeit verschiedene Funktionen im Projekt und im Unternehmen wahr. Das alles liegt in der Natur der Sache von Großprojekten. Es liegt aber auf der Hand, dass dabei durch Einarbeitungszeiten und Know-how-Transferverluste Verschwendung entsteht.
Der zweite Megatrend, die Digitalisierung, scheint derzeit die Aufmerksamkeit in der Wirtschaft zu dominieren. So stellte Gartner 2018 fest, dass künstliche Intelligenz, die Digitalisierung der Geschäftsprozesse und -modelle und die Vernetzung (und die darunter zu subsumierenden Einzelentwicklungen) aktuell die technologischen Trends bestimmen.2 Digitalisierung bedeutet IT-getriebene Innovation! Und die Entwicklung der IT verläuft nicht linear und in nie dagewesener Geschwindigkeit. Nach dem Moorschen Gesetz verdoppelt sich die Kapazität digitaler integrierter Schaltkreise in einem Zeitraum von circa 18 Monaten. Gleich welche Auslegung dieses Gesetzes man wählt, bleibt doch die Erkenntnis einer nichtlinearen Steigerung der Leistungsfähigkeit von IT, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bestätigt hat und die jedermann im täglichen Leben ja auch beobachten kann. Denke man nur einmal an die Leistungsfähigkeit (und Bedeutung) von Smartphones, die mit dem iPhone 1 ja erst im Jahr 2007 in Erscheinung traten. Zudem zeigt auch die Vernetzung von Menschen und Dingen durch die Internettechnologie eine rasante Entwicklung. 2015 waren beispielsweise ca. 25 Milliarden Dinge mit dem Internet verbunden – diese Zahl sollte sich bis 2020 auf über 50 Milliarden verdoppeln.3 Die [20]zunehmenden Möglichkeiten der IT treiben die technischen und betriebswirtschaftlichen Entwicklungen massiv an. Sie bieten vielfach relativ niederschwellige Markteintrittshürden (eine App ist schnell programmiert, siehe Uber und andere), ermöglichen eine fortwährende Weiterentwicklung der Produkte auch nach Markteinführung (siehe z. B. Updates bei Amazon im Sekundentakt)4 und legen so das Fundament für eine immer größere Geschwindigkeit, mit der Produkte und Leistungen entwickelt, bereitgestellt und weiterentwickelt werden.
Die digitale Transformation der Unternehmen bedeutet aber auch, dass Unternehmen, deren Kernkompetenz bis dato z. B. in der (konventionellen) Produktion von Maschinenbauteilen bestand, sich plötzlich mit einem weitgehenden und in der Folge geschäftskritischen Einsatz von IT konfrontiert sehen, deren Entwicklung zudem die zuvor aufgeführte Dynamik aufweist. Hat die Entwicklung der Mechatronik schon für eine signifikante Erhöhung der Produkt- und Entwicklungskomplexität gesorgt, setzt die Digitalisierung gleichsam noch eine Dimension oben drauf. Die Folge: Die Komplexität der Prozesse und Projekte im Unternehmen steigt signifikant an; der Umgang mit Unsicherheit wird zu einem zentralen Managementthema.
Ferner ist zu verzeichnen, dass die Projektlandschaft von Unternehmen durch eine außerordentliche Vielfalt von Projekten charakterisiert ist. In einer führenden Studie der TU Berlin wurden in den untersuchten Projektportfolios (n=200) beispielsweise durchschnittlich ca. 120 Projekte verwaltet.5 Eine weitere Studie der GPM belegt zudem, dass ca. zwei Drittel der Project Management Offices (PMO) Portfolios mit den unterschiedlichsten Projektarten (IT, F&E, Organisation, Investition) verwalten.6
Im Zuge dieser Entwicklungen und aus der bitteren Erkenntnis nach wie vor schlechter allgemeiner Erfolgsquoten der Projekte7 haben sich gewissermaßen Pole des Projektmanagements gebildet, gekennzeichnet durch agile versus klassische Vorgehensweisen. Klassisch meint dabei den etablierten internationalen Best Practices und Standards (von PMI, IPMA, PRINCE2, ISO/DIN etc.) folgend.8 Diese sind als plangetrieben zu charakterisieren, d. h., sie postulieren eine systematische Planung der Projekte und Projektphasen in vielerlei Hinsicht (Struktur, Ablauf, Qualitätssicherung, Risikomanagement etc.). Entgegen vielfach anzutreffender Aussagen ist damit nicht automatisch das sogenannte Wasserfall-Vorgehen impliziert. Agile Vorgehensweisen operationalisieren im Allgemeinen die Forderungen des Agilen Manifests aus dem Jahr 2001.9 Das Vorgehen ist stets iterativ und inkrementell und als fundamental und weitestgehend anpassungsfreudig gegenüber Veränderungen zur Projektlaufzeit zu charakterisieren. Vielfach wird eine vorgeschaltete Planung untergeordnet oder gar abgelehnt und die Selbstorganisation des Teams betont (vgl. Scrum). [21]Diese Polarisierung erzeugt Verwirrung und Irritation, gerade bei Organisationen, die Projektmanagement (PM) nicht im Kerngeschäft betreiben, beispielsweise kleine und mittelständische Industriebetriebe. Hier zeigt die Erfahrung vieler betreuter studentischer Arbeiten in den Unternehmen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) vielfach noch keinen adäquaten Reifegrad im PM erreicht haben, aber schon von der Welle der Agilität erfasst werden. Aber auch ganz allgemein ergibt sich die Schwierigkeit, die Pole des PM, die beide kontextuell ihre Berechtigung haben, in einem Managementsystem zu handhaben. Das Management multimodaler Projektlandschaften stellt auch etablierte Portfoliomanager (methodisch, organisatorisch und prozessual) vor Herausforderungen.
Wir leben also in einer VUKA-Welt: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität kennzeichnen nicht zuletzt die Anforderungen an das Management in und die Steuerung von Unternehmen. Eine Reihe nationaler und globaler Trends und Megatrends, die sich herausgebildet haben,10 charakterisiert und verursacht VUKA – siehe die Beispiele Digitalisierung und Globalisierung.
Folgende, dem Grunde nach nicht neue Anforderungen, lassen sich für ein modernes PM in der VUKA-Welt ableiten:
- Flexibilität
Ein modernes PM-System muss flexibel an die jeweiligen Erfordernisse der Projekte und der Organisation anpassbar sein. Je nach Projektkontext kann beispielsweise ein plangetriebener Ansatz (z. B. Erweiterung einer Produktionshalle) oder ein agiler Ansatz (z. B. Entwicklung eines neuen, internetbasierten Services) angemessen sein. - Leichtgewichtigkeit
Kleine Projekte wollen nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen und administrativen Overhead vermeiden. Mitarbeiter müssen sich schnell im PM-System zurechtfinden. - Praktikabilität/Praxisorientierung
Gleichwohl ein umfassendes theoretisches Fundament für das Projektwesen einer Organisation insgesamt hilfreich ist, fordern die Praktiker, also die Projektmanager im Feld, einfache, klare und zielführende Rezepte zur Steuerung der Projekte. - Universalität
Das PM-System einer Organisation muss auf alle vorhandenen Projektarten anwendbar sein. Ein Portfoliomanagement, in dem Scrum-Projekte nach Methode X berichten und Infrastrukturprojekte nach Methode Y, ist nicht zielführend.
Die Anwendung von Lean Thinking unter Adaption der verschiedenen Ausprägungen des Lean Management für Produktion, Administration, Produkt- und nicht zuletzt IT-Entwicklung auf das Projektwesen verspricht, die Anforderungen an ein modernes PM zu erfüllen. Das Lean PM ist durch eine hohe Kunden- und Wertschöpfungsorientierung unter weitestmöglicher Vermei[22]dung von Verschwendung (insbesondere administrativer Overhead) gekennzeichnet. Dabei kommen aus dem Lean Management bekannte Methoden und Tools zum Einsatz und werden mit Blick auf die Erfordernisse des Projektwesens weiterentwickelt, beispielsweise Gemba, 5S/5A und andere (s. Kap. 4).